JudikaturAUSL EKMR

Bsw22463/93 – AUSL EKMR Entscheidung

Entscheidung
28. Juni 1995

Kopf

Europäische Kommission für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache René Müller gegen Österreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 28.6.1995, Bsw. 22463/93.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, Art. 8 EMRK - "Lockspitzel" und "faires Verfahren".

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. hatte sich nach Österreich begeben, um hier Abnehmer für eine größere Menge Suchtgift zu finden. Die von ihm als potentielle Abnehmer ausfindig gemachten Personen kooperierten mit der Polizei, sodass er bei der beabsichtigten Übergabe des Suchtgifts verhaftet und wegen versuchten Suchtgifthandels vom Landesgericht (LG) Graz verurteilt wurde. In den dagegen erhobenen Rechtsmitteln rügte er, dass bei der Strafbemessung die Anstiftung durch "Lockspitzel" und Polizeiinformanten nicht berücksichtigt worden war und das LG es ferner unterlassen habe, diese als Zeugen zu vernehmen.

Die österr. Gerichte wiesen die eingebrachten Rechtsmittel aus folgenden Gründen ab: Der Bf. hatte in der Voruntersuchung zugegeben, bereits vor Aufnahme des Kontakts mit den Polizeiinformanten den Verkauf von Suchtgift beabsichtigt zu haben; die Anstiftung durch "Lockspitzel" ändere nichts an seiner Schuld. Ferner seien die vom Bf. beantragten Vernehmungen der Polizeiinformanten und "Lockspitzel" als Zeugen nicht notwendig gewesen, da ihre Tätigkeiten schon zu Beginn der Gerichtsverhandlungen bekannt gewesen waren.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet ua. eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens), weil er zu seiner Tat von "Lockspitzel" angestiftet worden war und ferner das LG seinen Antrag, diese sowie die Polizeiinformanten als Zeugen zu vernehmen, abgelehnt hatte.

Zur Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren):

Die Kms. erinnert daran, dass bei der Prüfung der Fairness eines Verfahrens die Gesamtheit der innerstaatlichen Verfahren in der betreffenden Angelegenheit beachtet werden muss (vgl. Urteil Imbroscia/I, A/275 § 38; Urteil Lüdi/CH, A/238 § 43 = NL 92/5/09). Es ist primär Aufgabe der nationalen Gesetzgebung, das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden bei der Verhinderung und Aufklärung von Verbrechen zu normieren. Bei gefährlichen Verbrechen kann der Einsatz von Polizeiinformanten und "Lockspitzeln" notwendig sein. Sofern sie jedoch die Begehung der Straftat gravierend beeinflussen, kann dadurch die Fairness eines Strafverfahrens erheblich beeinträchtigt werden (vgl. EKMR, Pferrer/D, Ber. v. 11.10.1990, § 75, nicht veröffentlicht). Die österr. Gerichte vertraten die Ansicht, wenn eine Person bereits willens sei, Verbrechen einer bestimmten Kategorie zu begehen, sei das Verhalten von "Lockspitzeln" keine unzulässige Anstiftung dazu. In Anlehnung an diese Erwägungen ist die Kms. überzeugt, dass beim ggst. Fall keine Anzeichen für eine Beeinträchtigung der Fairness des Verfahrens vorliegen.

Hinsichtlich der vom Bf. gerügten Nichtvernehmung der beantragten Zeugen, stellt die Kms. fest, es sei im allgemeinen Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte, das ihnen vorliegende Beweismaterial zu würdigen und über die Erheblichkeit von Beweisanträgen zu entscheiden (vgl. Urteil Barbera, Messegué und Jabardo/E, A/146 § 68). Art. 6 (3) EMRK gewährt dem Angeklagten kein uneingeschränktes Recht auf Zeugenvernehmung (vgl. EKMR, X./B, Bsw. 8417/78, Entsch. v. 4.5.1979, DR 16, 200). Insb. dann, wenn ein Gericht der Meinung ist, die Aussage eines Zeugen sei für das Verfahren nicht erheblich, ist es berechtigt, einen diesbezüglichen Antrag abzulehnen (vgl. EKMR, Hausschildt/DK, Bsw. 10486/83, Entsch. v. 9.10.1986, DR 49, 86). Solange die Konventionsrechte - und insb. das auf rechtliches Gehör - gewahrt bleiben, ist den innerstaatlichen Gerichten ein Ermessensspielraum eingeräumt (vgl. EKMR, X./GB, Bsw. 8231/78, Entsch. v. 6.3.1982, DR 28, 5). Thema des ggst. Beweisantrages war die Frage, ob der Bf. zu seiner Tat durch Polizeiinformanten und "Lockspitzel" angestiftet worden war. Das LG beurteilte diese Frage als unerheblich, da eine solche Anstiftung keine Auswirkungen auf die Schuld des Angeklagten habe. Angesichts dieser Würdigung sowie unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles kann die Kms. keine Anzeichen für eine Verletzung von Art. 6 (1) und (3) (d) EMRK feststellen. Deshalb ist dieser Teil der Bsw. als offensichtlich unbegründet iSv. Art. 27 (2) EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Zur Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens):

Die Kms. erinnert, dass der Einsatz von "Lockspitzeln" in Fällen wie dem ggst. keinen Eingriff in das Privatleben iSv. Art. 8 EMRK darstellt (vgl. Urteil Lüdi/CH, § 40; EKMR, Bsw. 10747/84, Entsch. v. 7.10.1985, nicht veröffentlicht). Auch dieser Teil der Bsw. ist als offensichtlich unbegründet iSv. Art. 27 (2) EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung der EKMR vom 28.6.1995, Bsw. 22463/93, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1995,181) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/95_5/Mueller v A_ZE.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise