JudikaturAUSL EKMR

Bsw23218/94 – AUSL EKMR Entscheidung

Entscheidung
04. April 1995

Kopf

Europäische Kommission für Menschenrechte, Plenum, Beschwerdesache Riza Gül gegen die Türkei, Bericht vom 4.4.1995, Bsw. 23218/94.

Spruch

Art. 8 EMRK - Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen und "Familiennachzug".

Verletzung von Art. 8 EMRK (14:10 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist türk. Staatsangehöriger und lebt seit 1983 in der Schweiz, wo er einen Asylantrag gestellt hat. Bis zu einer Erkrankung im Jahr 1990 arbeitete er in einer Hotelküche. Seine Frau, die unter Epilepsie leidet, kam 1987 in die Schweiz, um nach einem Unfall medizinisch behandelt zu werden. Aufgrund ihrer Erkrankung war sie in ein Feuer gefallen und hatte sich schwere Verbrennungen zugezogen. Die beiden Söhne (geboren 1971 und 1983) blieben in der Türkei. Die 1988 geborene Tochter musste in einem Heim untergebracht werden, da die Frau des Bf. wegen ihrer Krankheit nicht selbst für das Kind sorgen konnte. Auch konnte sie aus diesem Grund nicht in die Türkei zurückkehren. Im Juni 1989 erhielten der Bf., seine Frau und seine Tochter eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen. Der Bf. stellte daraufhin den Antrag, dass den beiden Söhnen erlaubt werde, ihnen in die Schweiz zu folgen. Dies wurde von der Fremdenpolizeibehörde abgelehnt mit der Begründung, dass die Wohnung nicht den Anforderungen genüge und keine ausreichenden finanziellen Mittel vorhanden seien. Die dagegen erhobene Berufung wurde abgelehnt. Der Bf. habe eine Aufenthaltsbewilligung und keine Niederlassungsbewilligung, deshalb komme auch Art. 8 EMRK nicht zum Tragen. Die Fremdenpolizei könne zwar nach ihrem Ermessen Personen unter achtzehn Jahren den Nachzug gestatten. Da das Einkommen des Bf. aber unter dem Existenzminimum liege und zur Gänze von der Fürsorgebehörde getragen werde, könne nicht erwartet werden, dass für ein weiteres Kind (den jüngeren Sohn E.; der ältere Sohn ist bereits achtzehn Jahre) die Kosten übernommen würden. Die Frau sei nicht in der Lage für die Tochter zu sorgen, somit müsste auch E. in einem Heim untergebracht werden. Die dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde an den Bundesgerichtshof wurde abgelehnt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Zum Eingriff in das Recht auf Privat - und Familienleben (Art. 8 EMRK):

Die Kms. stellt fest, dass durch die Entscheidung der Behörden, E. die Einreise zu verweigern, ein Eingriff in das Recht auf Familienleben vorliegt: E. ist zwölf Jahre alt, eine enge Beziehung zwischen dem Bf. und ihm besteht bereits aufgrund ihres Eltern-Kind Verhältnisses, wenn auch über längere Zeit hindurch kein persönlicher Kontakt bestanden hat, da der Bf. aufgrund seiner finanziellen Situation und seiner Krankheit E. in der Türkei nicht besuchen konnte.

Überprüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit nach Art . 8 ( 2 ) EMRK :

Der Eingriff war gesetzlich vorgesehen und auf ein legitimes Ziel, das wirtschaftliche Wohl des Landes, gerichtet, da die Familie ausschließlich von Sozialhilfeleistungen lebt und durch den Nachzug von E. eine weitere Belastung der Behörden eintreten würde. Ein Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben darf jedoch nach Art. 8 (2) EMRK nur erfolgen, wenn er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Die Maßnahme muss einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen, ferner wird das Verhältnis der Schwere des Eingriffs zur Erreichung des legitimen Zieles geprüft (Interessensabwägung). Die Behörden waren von der Situation ausgegangen, dass E. in einem Heim untergebracht werden müsste. Nach Meinung der Kms. muss das Vorbringen des Bf. akzeptiert werden, er sei nicht mehr berufstätig und werde daher E. selbst aufziehen und versorgen. Das Argument des Bundesgerichts, dass aufgrund geänderter Umstände, insb. einer Verbesserung des Gesundheitszustandes der Frau, möglicherweise die Aufenthaltsbewilligungen des Bf. und seiner Gattin nicht mehr verlängert würden, wurde von der Kms. nicht akzeptiert. Dies sei für die nächste Zukunft nicht zu erwarten. Auch hätten der Bf. und seine Gattin nicht die Absicht, die Schweiz zu verlassen, vielmehr sei aufgrund der langen Aufenthaltsdauer eine Integration festzustellen. Es besteht das Risiko, dass E. aufwächst, ohne je mit seinem Vater im gemeinsamen Haushalt gelebt zu haben. Das Argument, der Bf. könne nicht für den Unterhalt von E. aufkommen und dieser müsse von Fürsorgeleistungen leben, ist nach Meinung der Kms. nicht ausreichend dafür, eine dauernde Trennung eines Kindes von seinen Eltern zu rechtfertigen. Art. 8 EMRK wurde somit verletzt (14:10 Stimmen).

Abweichende Meinungen der Kommissionsmitglieder Trechsel und anderer :

Ein Eingriff in das Familienleben liegt nach Abwägung aller Umstände nicht vor. E. hat noch nie in der Schweiz gelebt, spricht die Sprache nicht und hätte daher erhebliche Schwierigkeiten in der Schulausbildung. Aus der Gewährung des Aufenthaltsrechts an den Bf. und seine Gattin aus humanitären Gründen kann keine Verpflichtung abgeleitet werden, auch E. den Nachzug zu gestatten. Es ist zumindest sehr zweifelhaft, ob der Bf. für E. selbst sorgen kann und dieser nicht, wie die Tochter, in einem Heim untergebracht werden muss, und es somit zu keinem Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt kommen wird; zudem hatte der Bf. nie den Versuch unternommen, mit seiner Tochter ein Familienleben im gemeinsamen Haushalt aufzunehmen.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über den Bericht der EKMR vom 4.4.1995, Bsw. 23218/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1995,119) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Der Bericht im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/95_3/Guel v CH.pdf

Das Original des Berichts ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise