JudikaturAUSL EGMR

Bsw25344/20 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Juni 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Friedrich ua gg Polen, Urteil vom 20.6.2024, Bsw. 25344/20.

Spruch

Art 5, 10 EMRK - Unterbindung eines friedlichen Protests und dessen Übertragung im Internet.

Zulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich Art 5 Abs 1 EMRK, Art 5 Abs 2 EMRK, Art 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK hinsichtlich Inhaftierung aller Bf vom Abend des 9.9.2019 bis zum Morgen des 10.9.2019 (einstimmig).

Verletzung von Art 5 Abs 2 EMRK hinsichtlich Inhaftierung der Erst- und des ZweitBf vom frühen Morgen des 10.9.2019 bis zum 11.9.2019 (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 5 Abs 4 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: Jeweils € 4.000,– an die Erst- und den ZweitBf für immateriellen Schaden; jeweils € 2.000,– an die Dritt- bis AchtzehntBf für immateriellen Schaden. Insgesamt € 3.239,64 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf handelt es sich um 16 Greenpeace-Aktivist*innen und zwei Journalisten, die aus unterschiedlichen Ländern stammen. Von Greenpeace wurde eine internationale Kampagne mit dem Titel »European Energy Transition Project« (Europäisches Projekt zur Energiewende) geführt, um nationale Volkswirtschaften angesichts der Klimakrise zu ermutigen, rasch aus der Kohleverbrennung auszusteigen und den Übergang von fossilen Brennstoffen zu erneuerbaren Energien zu vollziehen. Im Rahmen dieser Kampagne erfolgte neben zahlreichen weiteren Protesten auch der gegenständliche Protest in Gdańsk. Das Schiff Rainbow Warrior lief in die polnischen Hoheitsgewässer ein. Obwohl eine zuvor beantragte Erlaubnis, das Schiff näher an der Küste zu verankern, durch die Behörden nicht erteilt wurde, nahm die Rainbow Warrior am 9.9.2019 gegen 17:45 Uhr Kurs auf die Einfahrt des Seehafens Gdańsk Nord. Den zuständigen Behörden teilte die Besatzung der Rainbow Warrior während der Aktion mit, dass es sich um einen friedlichen Protest handle. Die Rainbow Warrior blockierte die Durchfahrt eines Kohleschiffs und hinderte es daran, in den Hafen einzulaufen und dort die Fracht zu entladen.

Die Festrumpf-Schlauchboote, die von der Rainbow Warrior abgeworfen wurden, hatten mehrere Greenpeace-Aktivist*innen und Journalisten an Bord. Dem Schlauchboot Nr 4 näherte sich gegen 20:00 Uhr ein Schlauchboot mit acht Grenzschutzbeamt*innen, wobei vier davon das Schlauchboot Nr 4 bestiegen und eine Identitätskontrolle durchführten. Diese Inspektion und Kontrolle dauerte acht Stunden, die Bf hätten währenddessen kein Wasser, kein Essen und keine Decken erhalten. Die ErstBf wurde wegen des Nichtbefolgens einer Anordnung einer zur Verkehrskontrolle befugten Person verhaftet.

Die Rainbow Warrior wurde am 9.9.2019 gegen 23:00 Uhr von Grenzschutzbeamt*innen betreten, unter den Aktivist*innen befanden sich die Zweit- bis SechzehntBf. Aus den Videoaufzeichnungen ist unter anderem ersichtlich, dass sich die Schiffsbesatzung auf der Brücke eingeschlossen hatte, einige Personen Plakate hochhielten udgl, bis Grenzschutzbeamt*innen sich gewaltsam Zutritt verschafften. Den Aktivist*innen wurde befohlen, sich auf den Boden zu legen. Körperliche Gewalt ist aus den Videoaufzeichnungen nicht ersichtlich. Die Aktivist*innen wurden im Bug des Schiffes zusammengepfercht, es wurden sowohl ihre Identität als auch die Schiffspapiere überprüft. Am 10.9.2019 um zirka 5:30 Uhr wurde die Rainbow Warrior aus dem Hafen geschleppt, die Grenzschutzbeamt*innen verließen das Schiff um 6:00 Uhr.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf (Erst- bis AchtzehntBf) behaupteten aufgrund des Einsperrens auf der Rainbow Warrior, der Verhinderung ihrer freien Bewegung an Bord des Schiffes und des Eingreifens durch den Grenzschutz eine Verletzung von Art 5 (Recht auf persönliche Freiheit), Art 10 (hier: Meinungsäußerungsfreiheit) und Art 11 EMRK (hier: Versammlungsfreiheit).

(112) Unter Berücksichtigung der ähnlichen Beschwerdegegenstände hält es der GH für angemessen, die Beschwerden gemeinsam in einer Entscheidung zu behandeln (einstimmig).

Zu Art 1 EMRK

(113) Es gab keine Einwände, dass sich die Bf zu dem Zeitpunkt, als die von ihnen beanstandeten Ereignisse stattfanden, iSv Art 1 EMRK unter der territorialen Hoheitsgewalt Polens – des Küsten- und Hafenstaats – befunden haben. Der GH sieht keinen Anlass zur Beanstandung.

(118) Die Bf brachten insb vor, dass das alleinige Ziel ihrer Aktionen darin bestand, das Bewusstsein für die Einfuhr von Kohle nach Polen und die Beendigung der Verwendung fossiler Brennstoffe zu schärfen, um die Auswirkungen des Klimawandels abzuschwächen. Die Entscheidung, Journalist*innen zur Berichterstattung über den Protest einzuladen, sei von drei Erwägungen getragen gewesen. Erstens sei dadurch eine direkte und breite Berichterstattung über die Greenpeace-Kampagne gewährleistet worden. Zweitens habe sie indirekt die Sicherheit der Aktivist*innen gewährleistet; der exzessive Einsatz von Zwangsmaßnahmen zur Unterbrechung friedlicher Proteste sei zwar ein systematisches Problem in Polen, doch sei es weniger wahrscheinlich, dass die Behörden im Zusammenhang mit dem Rainbow Warrior-Protest auf solche Maßnahmen zurückgreifen würden, wenn die Veranstaltung gefilmt und live übertragen würde. Drittens würde die Berichterstattung in den Medien den friedlichen Ablauf des Protests belegen und zeigen, dass die Bf nichts vor der Öffentlichkeit zu verbergen hätten. [...]

(119) Den Bf gehe es nicht nur um ihr Recht auf Freiheit, sondern auch um die Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit. [...]

Zur behaupteten Verletzung von Art 5 Abs 1 und 2 EMRK

Zulässigkeit

(133) Der GH stellt fest, dass Uneinigkeit darüber herrscht, ob die Situation (i) der Dritt- bis SechzehntBf [diese waren an Bord der Rainbow Warrior], (ii) der Siebzehnt- und AchtzehntBf [die beiden Journalisten, die an Bord des Schlauchboots Nr 4 gegangen waren] und (iii) die Erst- und der ZweitBf [die Steuerfrau des Schlauchboots Nr 4 und der Kapitän der Rainbow Warrior] in Bezug auf die Ereignisse am Abend des 9.9. bis zum frühen Morgen des 10.9.2019 nach Art 5 EMRK zu prüfen ist. [...]

(141) Die Bf behaupteten, dass die Beamt*innen des Grenzschutzes an Bord der beiden fraglichen Schiffe gegangen seien und die vollständige Kontrolle über sie übernommen hätten. Die Bf hätten nichts ohne die Zustimmung der Beamt*innen tun dürfen – zB auf die Toilette gehen, miteinander sprechen oder ihre Kleidung wechseln. [...]

(142) In diesem Zusammenhang wiesen die Bf auch darauf hin, dass die Definition des Begriffs »Freiheitsentzug« durch das nationale Gericht nicht dem Standard der EMRK entspreche. Dies sei insb der Fall gewesen, als das Gericht seine Beurteilung darauf stützte, ob ein Festnahmeprotokoll erstellt worden sei – dies sei ein Faktor, der vollständig im Ermessen der an der untersuchten Situation beteiligten Behörden gelegen habe.

(143) Zur Dauer der Situation machten die Bf geltend, dass die Dritt- bis SechzehntBf (an Bord der Rainbow Warrior) sieben Stunden und der Siebzehnt- und AchtzehntBf (im Schlauchboot Nr 4) über acht Stunden lang unter der Kontrolle der Behörden gestanden hätten. Der Siebzehnt- und der AchtzehntBf brachten vor, dass ihre Identitätskontrollen innerhalb einer Stunde abgeschlossen gewesen seien und dass die Behörden während der restlichen Zeit nichts unternommen hätten. Die Dauer der Identitätskontrollen und der Inspektionen der Schiffe sei unverhältnismäßig gewesen [...].

(144) Die Art und Weise der Durchführung des Grenzschutzes sei invasiv und unverhältnismäßig gewesen. Der Eingriff habe bis tief in die Nacht gedauert und die Bf seien eingeschüchtert worden, da die Beamt*innen bewaffnet gewesen seien und ihnen jeden Kontakt mit ihren Anwält*innen untersagt hätten.

(145) Zudem machten die Erst- und der ZweitBf geltend, dass der Zeitraum ihres Freiheitsentzugs von dem Zeitpunkt an, an dem die Beamt*innen die Kontrolle über sie an Bord ihrer jeweiligen Schiffe (am 9.9.) übernommen hätten, bis zum Ende ihrer jeweiligen Vernehmung am 11.9.2019 gedauert habe.

(160) Mindestens sechs Grenzschutzbeamt*innen gingen am 9.9.2019 gegen 23:00 Uhr an Bord der Rainbow Warrior. [...] Es rückte Verstärkung an, sodass 14 bis 16 Beamt*innen an der Durchsuchung des Schiffs beteiligt waren [...]. Die Beamt*innen schlugen in weiterer Folge ein Fenster ein, da sich die Besatzung versteckt und alle Türen verschlossen hatte. Daraufhin wurde eine [etwa zwei Stunden andauernde] vollständige Kontrolle der Besatzung des Schiffs durchgeführt, wobei die Beamt*innen Waffen auf die Bf richteten [...]. [...] Die Bf durften weder ihre Telefone benutzen noch sich bewegen. Für die Benutzung der Toilette, welche nur in Begleitung [eines/einer der Beamt*innen] aufgesucht werden durfte, war die Erlaubnis der Beamt*innen einzuholen. [...] Während der gesamten Dauer der Anhaltung durften die Bf weder untereinander kommunizieren noch mit ihren Anwält*innen [...].

(161) In den frühen Morgenstunden des 10.9.2019 wurden acht Bf an Land gebracht.

(162) Am 10.9.2019 gegen 5:30 Uhr wurde die Rainbow Warrior mit der Besatzung aus dem Hafen geschleppt. Die Grenzschutzbeamt*innen verließen das Schiff um etwa 6:00 Uhr – ab diesem Zeitpunkt stand es den an Bord verbliebenen Bf frei, das Schiff zu verlassen.

(168) Der GH kommt zum Ergebnis, dass den Dritt- bis SechzehntBf [die sich an Bord der Rainbow Warrior befanden] die Freiheit iSv Art 5 Abs 1 EMRK entzogen wurde.

(173) Den Siebzehnt- und AchtzehntBf [Journalisten im Schlauchboot Nr 4] wurde die Freiheit iSv Art 5 Abs 1 EMRK entzogen.

(180) Der ErstBf [...] wurde die Freiheit für mehr als 45 Stunden entzogen, gerechnet ab dem Zeitpunkt, an dem die Beamt*innen die Schlauchboote am 9.9.2019 festsetzten. [Sie wurde im Zusammenhang mit der Straftat nach Art 178b Strafgesetzbuch am 10.9.2019 um 3:55 Uhr festgenommen und am 11.9.2019 um 17:15 Uhr wieder freigelassen.]

(186) Der ZweitBf [...] war über 24 Stunden lang seiner Freiheit beraubt, gerechnet ab dem Zeitpunkt, an dem die Beamt*innen die Rainbow Warrior festsetzten (am 9.9. um 23:00 Uhr). [Am 10.9.2019 um 3:31 Uhr erfolgte die Festnahme, welche bis zum 11.9.2019 um 17:30 Uhr andauerte.]

(187) In Anbetracht der Art und Dauer der den Bf auferlegten Beschränkungen ist festzustellen, dass allen Bf die Freiheit iSv Art 5 Abs 1 EMRK entzogen wurde [...]. [...]

(188) Der GH ist ratione materiae für die Prüfung der Beschwerden der Bf nach Art 5 EMRK zuständig.

(202) Der GH stellt fest, dass die Beschwerden der Bf [...] weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig sind. Die Beschwerden sind daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

(216) Der GH betont, dass die wichtigsten relevanten Grundsätze zu Art 5 Abs 1 lit b und c EMRK in den Urteilen S., V. und A./DK und Ostendorf/DE [...] zusammengefasst sind.

(217) Art 5 Abs 1 EMRK verlangt die Rechtmäßigkeit jeder Freiheitsentziehung, dh [...] sie hat »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« zu erfolgen. Zur Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung verweist die EMRK im Wesentlichen auf das nationale Recht sowie gegebenenfalls auf andere anwendbare Rechtsnormen – einschließlich solcher, die ihren Ursprung im Völkerrecht haben. In allen Fällen ist vorgeschrieben, [...] die materiellen und verfahrensrechtlichen Vorschriften der betreffenden Gesetze einzuhalten. Jede Freiheitsentziehung muss mit dem Zweck von Art 5 EMRK (dem Schutz des Einzelnen vor Willkür) vereinbar sein [...].

(218) Zu den allgemeinen Grundsätzen hinsichtlich [...] des Erfordernisses gemäß Art 5 Abs 1 lit c erster Teil EMRK ist festzuhalten, dass eine Festnahme im Rahmen eines Strafverfahrens auf dem begründeten Verdacht beruhen muss, eine Straftat begangen zu haben [...].

Anwendung der Grundsätze des Art 5 Abs 1 EMRK auf den Sachverhalt

Inhaftierung aller Bf vom Abend des 9.9.2019 bis zum Morgen des 10.9.2019

(219) Der GH stimmt der Regierung zu, dass die Kapitäne der Schiffe die Anweisungen der Grenzschutzbeamt*innen nicht befolgten und möglicherweise den Seeverkehr an der Einfahrt zum Hafen von Gdańsk gefährdeten. Daher können die Umstände des Falls unter Art 5 Abs 1 lit b EMRK fallen. Die Regierung konnte jedoch nicht nachweisen, dass die gesamte Reihe von Zwangsmaßnahmen, die gegenüber den Bf ergriffen wurden und zu ihrer Freiheitsentziehung führten, [...] eine ausreichende Rechtsgrundlage im nationalen Recht hatten. Außerdem konnte nicht belegt werden, dass der gesamte Zeitraum der tatsächlichen Inhaftierung für die Durchführung der Identitätskontrollen und der Inspektion der Schiffe erforderlich war.

(220) In Bezug auf die Inhaftierung der Bf vom Abend des 9.9.2019 bis zum frühen Morgen des 10.9.2019 liegt eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK vor (einstimmig).

Inhaftierung der Erst- und des ZweitBf vom frühen Morgen des 10.9.2019 bis zum 11.9.2019

(221) Der GH stellt fest, dass es im Kern darum geht, ob die Inhaftierung der Erst- und des ZweitBf ab dem Zeitpunkt der förmlichen Verhaftung gemäß Art 5 Abs 1 lit c EMRK rechtmäßig war. [...]

(222) Die beiden Bf wurden [...] formell im Zusammenhang mit der Straftat der Nichtbefolgung einer Anordnung einer zur Verkehrskontrolle befugten Person nach Art 178b Strafgesetzbuch festgenommen und angeklagt. Diese Bestimmung regelt ausdrücklich nur den Straßenverkehr [...]. Wie die nationalen Gerichte [...] festgestellt haben [...], ist die nationale Rsp unzweifelhaft dahingehend zu verstehen, dass die fragliche Vorschrift nicht auf den Seeverkehr und damit auf die beiden Bf anwendbar ist [...]. Der GH stellt fest, dass die Maßnahmen und Anklagen gegen die Erst- und den ZweitBf im Wesentlichen auf Tatsachen gründeten, die vernünftigerweise nicht als ein nach nationalem Recht strafbares Verhalten angesehen werden können.

(223) Da kein hinreichender Verdacht besteht [...], dass die Erst- und der ZweitBf eine Straftat begangen haben und ihre Haft vom Morgen des 10.9.2019 bis zu ihrer Freilassung am 11.9.2019 rechtswidrig war, liegt eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK vor (einstimmig).

Anwendung der Grundsätze des Art 5 Abs 2 EMRK auf den Sachverhalt

(224) Gemäß Art 5 Abs 2 EMRK [...] muss jede festgenommene Person wissen, warum ihr die Freiheit entzogen wird. Jede festgenommene Person muss in einer einfachen [...] Sprache, die sie verstehen kann, über die wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründe für ihre Festnahme informiert werden, damit sie [...] ein Gericht anrufen kann, um die Rechtmäßigkeit der Festnahme überprüfen zu lassen [...].

(225) Es wurde nicht bestritten, dass die Dritt- bis AchtzehntBf nicht über die rechtlichen Gründe für die Maßnahmen informiert wurden, die den Entzug ihrer Freiheit zur Folge hatten, während die Erst- und der ZweitBf diese Informationen erst mehrere Stunden nach ihrer tatsächlichen Verhaftung erhielten. Aufgrund dieser Tatsachen und der Feststellung durch den GH, dass die Inhaftierung der Bf rechtswidrig war, kommt der GH zum Ergebnis, dass die Behörden die Anforderungen von Art 5 Abs 2 EMRK nicht erfüllt haben [...].

(226) Es liegt daher hinsichtlich aller Bf eine Verletzung von Art 5 Abs 2 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 5 Abs 4 EMRK

(227) Die Bf brachten vor, dass [...] der im nationalen Recht vorgesehene Rechtsbehelf zur Anfechtung ihrer Freiheitsentziehung unwirksam sei, da die polnischen Gerichte systematisch jede faktische Inhaftierung, die nicht als solche aufgezeichnet wurde, außer Acht ließen und einen restriktiv engen Ansatz für den Begriff der Freiheitsentziehung verwendeten. [...]

(228) Der GH stellt fest, dass die Bf zwischen zirka acht und etwas mehr als 45 Stunden festgehalten und am 10. bzw 11.9.2019 freigelassen wurden, bevor sie ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Festnahme einleiten konnten. Tatsächlich legten sie am 16.9.2019 eine einstweilige Beschwerde ein [...], als sie bereits freigelassen worden waren. [...] Der GH weist darauf hin, dass Art 5 Abs 4 EMRK nur die Rechtsbehelfe betrifft, die einer Person während der Haft zur Verfügung stehen müssen, damit diese Person eine rasche gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft geltend machen kann, die gegebenenfalls zu ihrer Freilassung führt. Die Bestimmung befasst sich nicht mit anderen Rechtsbehelfen, die dazu dienen können, die Rechtmäßigkeit einer bereits beendeten Haft zu überprüfen, einschließlich einer kurzen Haft wie in den vorliegenden Fällen [...].

(229) Die Bf hatten wegen der kurzen Dauer der Freiheitsentziehung keine Zeit, »ein Verfahren zu beantragen, [in dem von einem Gericht ehetunlich über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden wird]« und das zu einer Anordnung der Freilassung führen hätte können. Daher stellt sich unter diesen Umständen keine Frage im Hinblick auf Art 5 Abs 4 EMRK [...].

(230) Da die Beschwerde offensichtlich unbegründet ist, ist diese [...] als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK

(231) Alle Bf brachten gemäß Art 10 und 11 EMRK vor, dass das Eingreifen der Grenzschutzbeamt*innen eine unverhältnismäßige Einschränkung ihres Rechts auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit dargestellt habe.

Zulässigkeit

(233) Der GH stellt fest, dass die Beschwerden der Bf [...] weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig sind. Die Beschwerden sind daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

(242) Die Vorbringen der Bf nach Art 10 und 11 EMRK beruhen weitgehend auf denselben Tatsachen und Behauptungen, nämlich dass der Protest auf See, den sie entweder organisiert oder an dem sie teilgenommen haben, durch die Maßnahmen der Behörden zunächst gestört und schließlich unterbunden wurde. Die Situation des Siebzehnt- und des AchtzehntBf muss jedoch insofern davon unterschieden werden, als diese Bf als Journalisten und nicht als aktiv teilnehmende Greenpeace-Aktivist*innen am Ort des Protests waren.

(243) Die Fragen der Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit sind in den vorliegenden Fällen eng miteinander verbunden. Der durch Art 10 EMRK garantierte Schutz persönlicher Meinungen ist eines der Ziele der Versammlungsfreiheit, wie sie in Art 11 EMRK verankert ist. Die Meinungsäußerungsfreiheit stellt eines der Ziele der Freiheit dar, sich friedlich zu versammeln (wie in Art 11 EMRK verankert) [...].

(244) Der GH stellt daher fest, dass es nicht erforderlich ist, die Vorbringen nach Art 11 EMRK gesondert zu prüfen [...].

(248) Die Bf haben eindeutig erklärt, dass es sich bei ihrer Aktion um einen friedlichen Protest handelte, der darauf abzielte, die Öffentlichkeit auf die Umweltauswirkungen der Kohleverbrennung und die Notwendigkeit eines Übergangs von fossilen Brennstoffen zu erneuerbaren Energien aufmerksam zu machen [...]. Der GH stellt zudem fest, dass die Aktion der Bf im Internet übertragen wurde. Ungeachtet ihres störenden und unbefugten Charakters und der Tatsache, dass sie möglicherweise eine reale Bedrohung für den Seeverkehr darstellte [...], kann eine solche Aktion als Meinungsäußerung zu einem Thema von gesellschaftlichem Interesse angesehen werden [...].

(251) Es ist unerheblich [...], ob die Störung des Protests durch Boote des Grenzschutzes [...] Teil des Plans der Aktivist*innen war oder nicht. Ausschlaggebend ist, dass der Protest effektiv unterbrochen und beendet wurde. Die Bf, die die Aktion durchführten, wurden für einen langen Zeitraum in ihren Booten festgehalten. Darüber hinaus wurden die Erst- und der ZweitBf in weiterer Folge festgenommen und im Rahmen eines langwierigen Strafverfahrens verfolgt [...].

(252) Der Siebzehnt- und der AchtzehntBf, die jeweils Journalisten waren, wurden daran gehindert, den Protest aufzunehmen und darüber zu berichten.

(253) Der GH kommt daher zum Ergebnis, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung aller Bf vorliegt.

(254) Sofern ein solcher Eingriff nicht gesetzlich vorgeschrieben war, kein legitimes Ziel vorfolgte oder in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, um dieses Ziel zu erreichen, liegt eine Verletzung von Art 10 EMRK vor [...].

(255) Der GH hat bereits festgestellt, dass die Freiheitsentziehung der Bf iSv Art 5 Abs 1 EMRK unrechtmäßig war und daher eine Konventionsverletzung nach dieser Bestimmung vorlag [...]. Die Anforderung der Rechtmäßigkeit nach Art 5 und 10 EMRK zielt darauf ab, den Einzelnen vor Willkür zu schützen [...]. Folglich ist eine Inhaftierung, die unrechtmäßig erfolgt und einen Eingriff in eine der durch die EMRK garantierten Freiheiten darstellt, grundsätzlich nicht als eine durch das nationale Recht vorgesehene Beschränkung der Freiheit anzusehen. Der GH muss daher nicht prüfen, ob der Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

(256) Somit liegt in den gegenständlichen Fällen eine Verletzung von Art 10 EMRK vor (einstimmig).

Weitere behauptete Konventionsverletzungen

(259) Mit Blick auf den Sachverhalt, die Vorbringen der Parteien und die Feststellungen zu Art 5 Abs 1 und 2 sowie Art 10 EMRK ist der GH der Ansicht, dass er die hier wesentlichen Rechtsfragen [...] geprüft hat. Es ist daher nicht erforderlich, auf die verbleibenden Beschwerden [Art 2 Abs 1 und 3 des 4. ZPEMRK und Art 13 iVm Art 5 und Art 2 des 4. ZPEMRK] weiter einzugehen [...].

Entschädigung nach Art 41 EMRK

Jeweils € 4.000,– an die Erst- und den ZweitBf für immateriellen Schaden; jeweils € 2.000,– an die Dritt- bis AchtzehntBf für immateriellen Schaden. Insgesamt € 3.239,64 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Slivenko/LV, 9.10.2003, 48321/99 (GK) = NL 2003, 263 = EuGRZ 2006, 560

Women On Waves ua/PT, 3.2.2009, 31276/05 = NL 2009, 31

Palomo Sánchez ua/ES, 12.9.2011, 28955/06 ua (GK) = NLMR 2011, 267

Ostendorf/DE, 7.3.2013, 15598/08 = NLMR 2013, 86 = EuGRZ 2013, 489

S., V. und A./DK, 22.10.2018, 35553/12 ua (GK) = NLMR 2018, 409

Selahattin Demirtaş/TR (Nr 2), 22.12.2020, 14305/17 (GK) = NLMR 2020, 453

Mătăsaru/MD, 1.2.2022, 20253/09

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.6.2024, Bsw. 25344/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 191) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.