JudikaturAUSL EGMR

Bsw20949/21 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Familienrecht
14. Mai 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Mitrevska gg Nordmazedonien, Urteil vom 14.5.2024, Bsw. 20949/21.

Spruch

Art 8 EMRK - Weitergabe von Informationen über die leiblichen Eltern an das Adoptivkind aus gesundheitlichen Gründen.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 4.500, – für immateriellen Schaden; € 1.440, – für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf wurde als Kind im Rahmen einer »vollständigen Adoption« adoptiert. Dadurch endeten alle Rechte und Pflichten zwischen ihr und den leiblichen Eltern.

2017 beantragte die Bf beim Sozialdienst Skopje Informationen über ihre Adoption, insb über die Krankengeschichte ihrer Familie. Begründend führte sie aus, im Jahr 2014 seien bei ihr Depressionen, Angststörungen und ein Sprachfehler diagnostiziert worden. Sie würde daher die Informationen über die Krankengeschichte ihrer leiblichen Eltern benötigen, um festzustellen, ob es sich hierbei um Erbkrankheiten handelt. Der Sozialdienst Skopje verwies die Bf an den Adoptionsausschuss, woraufhin sie den Informationsantrag an diesen stellte. Nach mehreren erfolglosen Ersuchen um eine offizielle Entscheidung in der Rechtssache – sowohl an den Sozialdienst als auch an das Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik, zu dem der Adoptionsausschuss gehörte – wurde die Bf darüber informiert, dass keine Information über ihre Adoption weitergegeben werden kann. Begründend wurde ausgeführt, dass gemäß § 123a des Familiengesetzes (Anm: Der durch eine Novellierung im Jahr 2004 eingeführte § 123a des Familiengesetzes

klassifiziert Informationen bezüglich einer »Volladoption« als »offiziell geheim«.) Informationen über eine »vollständige Adoption« offiziell geheim und eine Offenlegung daher nicht möglich wäre. Die Rechtsmittel an das zuständige Verwaltungsgericht und später an den Verwaltungsgerichtshof blieben erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf rügte nach Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), dass es ihr unmöglich gemacht wurde, Informationen betreffend ihre Adoption zu erlangen.

Zulässigkeit

(42) [...] Der GH erkennt, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig ist. Die Beschwerde ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(46) Der Begriff »Jedermann« in Art 8 EMRK findet in Fällen betreffend eine Adoption Anwendung sowohl auf das Kind als auch auf die Mutter. Einerseits hat das Kind ein Recht darauf, Informationen über seine Herkunft zu erfahren. [...] Andererseits entschied der GH in der Rechtssache Godelli/IT [...], dass das Interesse der Mutter, anonym zu bleiben, um ihre Gesundheit zu schützen, indem sie unter angemessenen medizinischen Bedingungen entbindet, nicht verletzt werden durfte. Letztlich könnte auch ein allgemeines Interesse bestehen, da innerstaatliche Behörden bspw die Gesundheit der Mutter und des Kindes während der Schwangerschaft schützen oder illegale Schwangerschaftsabbrüche und Kindesaussetzungen vermeiden möchten.

(47) [...] Wenn ein besonders wichtiger Aspekt bezüglich der Existenz oder Identität eines Individuums betroffen ist, wird der Ermessensspielraum der Staaten in der Regel begrenzt sein. Wenn jedoch innerhalb der Mitgliedstaaten des Europarates kein Konsens entweder über die relative Bedeutung der betroffenen Interessen oder über die besten Maßnahmen zu deren Schutz herrscht [...], ist der Ermessensspielraum weiter. [...]

(48) Schließlich stellt der GH fest, dass einerseits eine positive Verpflichtung zur Gewährleistung eines effektiven und zugänglichen Verfahrens besteht, die den Bf Zugang zu gesundheitsbezogenen Daten verschafft. Andererseits ist nach Auffassung des GH aus der Sicht jener Person, deren gesundheitsbezogenen Daten offengelegt werden, die Achtung der Vertraulichkeit dieser Daten ein elementarer Grundsatz in den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten.

Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den vorliegenden Fall

(50) [...] Der GH bekräftigt, dass Personen, die – wie die Bf im vorliegenden Fall – versuchen, ihre Abstammung festzustellen, ein wesentliches, durch die Konvention geschütztes Interesse daran haben, die notwendigen Informationen zu erhalten, um die Wahrheit über einen wichtigen Aspekt ihrer persönlichen Identität in Erfahrung zu bringen. Darüber hinaus hat die Bf auch ein Interesse an der Einholung von Daten, die für ihre Gesundheit relevant sind, da sie in den innerstaatlichen Verfahren vorgebracht hat, dass sie die Information über die Krankengeschichte ihrer Eltern in Erfahrung bringen möchte, um feststellen zu können, ob sie eine Erbkrankheit hat.

(51) Der GH stellt fest, dass die innerstaatlichen Behörden keine Versuche unternommen haben, um zu erheben, ob die leiblichen Eltern der Bf den Wunsch geäußert hätten, dass die Adoption anonym bleibt. [...]

(52) Betreffend den Ermessensspielraum der innerstaatlichen Behörden merkt der GH an, dass einerseits der Zugang adoptierter Kinder zu Informationen über ihre biologische Herkunft eine moralisch und ethisch sensible Angelegenheit ist, die eine Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen erfordert. Daher muss dem Staat ein breiterer Ermessensspielraum zukommen. Andererseits ist das Recht auf eine Identität, was das Recht umfasst, seine Abstammung zu kennen, ein integraler Teil des Begriffs »Privatleben«. In solchen Fällen ist bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen eine besonders strenge Prüfung geboten. Dadurch wird der Ermessensspielraum eingeschränkt.

(53) Der GH stellt fest, dass sowohl die Verwaltungsbehörden als auch Gerichte in zwei Instanzen den Antrag auf Information über die Herkunft der Bf ablehnten. Dabei beriefen sie sich lediglich auf § 123a des Familiengesetzes [...]. [...] Sie haben es unterlassen, die konkurrierenden Interessen explizit zu nennen oder diese gegen die Interessen der Bf abzuwägen. Sie haben sich in keiner Weise mit ihrem Vorbringen befasst, die Erlangung der Krankengeschichte ihrer leiblichen Eltern sei notwendig gewesen.

(54) Bezüglich § 123a des Familiengesetzes stellt der GH fest, dass diese Bestimmung gemäß der Auslegung der innerstaatlichen Behörden alle Informationen bezüglich abgeschlossener Adoptionen als offiziell geheim klassifiziert. Sie beinhaltet keine Möglichkeit zur Erlangung von nicht-identifizierenden Informationen [...]. Darüber hinaus sieht sie keine Ausnahme aus medizinischen Gründen vor [...].

(55) [...] Im vorliegenden Fall liegt keine Information über das Gesetzgebungsverfahren zur Einführung des § 123a des Familiengesetzes im Jahr 2004 vor [...]. Insb ist keine Information darüber vorhanden, ob und wie die Legislative die konkurrierenden Interessen gegeneinander abgewogen hat. [...]

(57) Letztlich ist betreffend das Vorbringen der Regierung, die Bf sei im Rahmen einer »vollständigen Adoption« adoptiert worden, festzustellen, dass gemäß § 123a des Familiengesetzes die Art der Adoption (»vollständige« oder »teilweise« Adoption) im Hinblick auf den Zugang zu Informationen über die Adoption irrelevant war; derartige Informationen waren unabhängig von der Art der Adoption »offiziell geheim«. Jedenfalls hätte die Tatsache, dass die Bf im Zuge einer »vollständigen Adoption« adoptiert wurde, die Behörden nicht von ihrer Pflicht befreit, die konkurrierenden Interessen gegeneinander abzuwägen.

Schlussfolgerung

(58) Der GH berücksichtigt die Sensibilität der Angelegenheit und unterschätzt nicht die Auswirkung, die eine Offenlegung von adoptionsbezogenen Informationen für die betroffenen Personen haben könnte. Er betont das Fehlen der Möglichkeit, Zugriff zu nicht-identifizierenden Informationen zu erhalten. In Anbetracht der vorstehenden Überlegungen stellt der GH fest, dass die innerstaatlichen Behörden keinen angemessenen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen gefunden und daher ihren Ermessensspielraum überschritten haben.

(59) Folglich liegt eine Verletzung von Art 8 EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 4.500, – für immateriellen Schaden; € 1.440, – für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Odièvre/FR, 13.2.2003, 42326/98 (GK) = NL 2003, 27

K. H. ua/SK, 28.4.2009, 32881/04 = NLMR 2009, 109

S. H. ua/AT, 3.11.2011, 57813/00 (GK) = NLMR 2011, 339

Godelli/IT, 25.9.2012, 33783/09 = NLMR 2012, 312

Gutachten auf Antrag des französischen Conseil d’État, 13.7.2022, P16-2021-002 = NLMR 2022, 356

Y. G./RU, 30.8.2022, 8647/12

Gauvin-Fournis and Silliau/FR, 7.9.2023, 21424/16, 45728/17 = NLMR 2023, 463

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.5.2024, Bsw. 20949/21, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 225) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise