JudikaturAUSL EGMR

Bsw24228/18 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. Mai 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Biba gg Albanien, Urteil vom 7.5.2024, Bsw. 24228/18.

Spruch

Art 6, 8 EMRK - Haftung der Schule für Verletzung eines Kindes durch einen Mitschüler während einer unbeaufsichtigten Pause.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Verletzung von Art 8 EMRK hinsichtlich des Schutzes der Rechte von Kindern (4:3 Stimmen).

Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich des Rechts des Bf auf Zugang zum Verfassungsgericht (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 11.700,– für immateriellen Schaden; € 5.000,– für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der am 6.6.2000 geborene Sohn des Bf besuchte eine Privatschule in Tirana. Am 20.9.2011 wurde er gegen 11:45 Uhr am rechten Auge von einem Projektil getroffen, das ein anderer Schüler mit einer Gummischleuder abgeschossen hatte. Dieser Schüler war damals noch unter 14 Jahre alt. Der Sohn des Bf verlor 90 % der Sehkraft am rechten Auge.

Am 16.12.20211 erhob der Bf eine Schadenersatzklage gegen die Schule, die er dafür haftbar machte, den Angriff nicht verhindert und nicht angemessen reagiert zu haben. Er brachte vor, von einem anderen Schüler wären einige Tage vor dem Vorfall 20 Gummischleudern verteilt worden, die benutzt worden seien, ohne dass die Schule eingeschritten wäre. Zudem sei er nicht sofort informiert worden, sondern habe erst von der Verletzung erfahren, als er seinen Sohn wie üblich um 13:00 Uhr abgeholt habe. Durch die fehlende erste Hilfe sei der gesundheitliche Zustand seines Kindes weiter verschlimmert worden.

Das Bezirksgericht Tirana wies die Klage am 21.1.2013 mit der Begründung ab, der Schaden sei nicht durch die Schule, sondern durch einen Dritten verursacht worden. Außerdem hätte sich der Kläger zunächst an die Versicherung der Schule wenden müssen.

Das Berufungsgericht Tirana bestätigte diese Entscheidung am 1.4.2014. Begründend verwies es insb auf die fehlende Kausalität des Verhaltens der Schule für die Verletzung des Sohnes des Bf. Ein solcher Vorfall sei für die Schule nicht vorhersehbar gewesen, außerdem hätte sie die Schüler nicht an der Verwendung von Gummibändern hindern können, da diese benötigt würden, um Rollen von Geldscheinen zu fixieren. Zudem hätte sich der Vorfall in einer Pause ereignet, während der die Schüler nicht direkt von einem Lehrer beaufsichtigt worden seien, weshalb die Schule nicht für das Verhalten eines Schülers haftbar gemacht werden könne.

Am 26.9.2017 wies der Oberste Gerichtshof das dagegen erhobene Rechtsmittel des Bf als unbegründet ab. Das Verfassungsgericht erklärte eine Beschwerde für unzulässig, weil sie verspätet erhoben worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete Verletzungen von Art 3 (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und von Art 6 Abs 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur Beschwerdebefugnis des Bf

(29) Eingangs ist zu klären, ob der Bf befugt war, im eigenen Namen eine Beschwerde wegen einer behaupteten Verletzung der Rechte seines Sohnes zu erheben.

(32) [...] Ziel und Zweck der Konvention als Instrument zum Schutz der individuellen Menschenrechte verlangen, dass sowohl ihre materiellen als auch ihre verfahrensrechtlichen Vorschriften so ausgelegt und angewendet werden, dass ihre Garantien praktisch und effektiv sind. In diesem Kontext gebietet die Stellung von Kindern gemäß Art 34 EMRK eine sorgfältige Betrachtung, da sie generell auf andere Personen angewiesen sind, um ihre Ansprüche geltend zu machen und ihre Interessen zu vertreten, und möglicherweise aufgrund ihres Alters oder ihrer Reife nicht in der Lage sind, in ihrem Namen erfolgende Schritte im eigentlichen Sinn zu genehmigen. Ein restriktiver oder technischer Zugang ist daher in diesem Bereich zu vermeiden. Die wichtigste Überlegung in solchen Fällen besteht darin, dass jede ernsthafte Angelegenheit hinsichtlich der Achtung der Rechte eines Kindes geprüft werden muss.

(36) [...] Zur Zeit der fraglichen Ereignisse und auch bei der Erhebung der Beschwerde war der Sohn des Bf noch minderjährig. Das innerstaatliche Verfahren wurde ebenso vom Bf geführt. Zudem bevollmächtigte der Sohn des Bf, als er volljährig wurde, sowohl seinen Vater als auch dessen Rechtsanwalt dazu, ihn vor dem GH zu vertreten. Folglich [...] war der Bf befugt, sich an den GH zu wenden, um die Interessen seines Sohnes zu schützen.

(37) Daher [...] war der Bf befugt, die Beschwerde im Namen seines Sohnes zu erheben (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

(38) Gestützt auf Art 3 und Art 8 EMRK brachte der Bf vor, der Staat habe es im Hinblick auf den Vorfall, bei dem sein Sohn eine schwere Verletzung erlitten hatte, verabsäumt, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Der GH [...] wird dieses Beschwerdevorbringen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Art 8 EMRK prüfen [...].

Zulässigkeit

(41) [...] Der Begriff des Privatlebens [...] umfasst auch die physische und psychische Integrität. Allerdings [...] greift nicht jede Handlung oder Maßnahme einer Privatperson, die sich nachteilig auf die physische oder psychische Integrität eines anderen auswirkt, in das Recht auf Achtung des Privatlebens ein [...]. Die Anwendbarkeit von Art 8 EMRK verlangt in einer solchen Situation eine Mindestschwere.

(42) Im vorliegenden Fall [...] verlor der Sohn des Bf 90 % der Sehkraft eines Auges. Diese Folgen wirkten sich ihrer Art nach ohne Zweifel auf das tägliche Leben des Sohnes des Bf in einem solchen Ausmaß aus, dass sie eine nachteilige Wirkung auf sein Privatleben hatten. Zudem scheint grundsätzlich nichts dagegen zu sprechen, dass sich der Begriff des »Privatlebens« auch auf Angriffe auf die physische Integrität erstrecken sollte.

(43) Die Vorbringen des Bf sind daher [...] unter Art 8 EMRK zu prüfen, der eine Verpflichtung des Staats enthält, die physische und psychische Integrität einer Person zu gewährleisten.

(49) [...] Der Bf brachte seine Beschwerden unter Art 8 EMRK in der Sache auch vor die nationalen Gerichte [...], selbst wenn er sich nicht ausdrücklich auf Art 8 EMRK gestützt hat.

(50) Folglich ist die von der Regierung erhobene Einrede der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu verwerfen.

(51) [...] Dieser Teil der Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(59) Im Kontext einer wichtigen öffentlichen Leistung wie der Bildung besteht die zentrale Rolle der Schulbehörden darin, Gesundheit und Wohlergehen der Schüler zu beschützen, wobei insb auf deren aus ihrem jungen Alter resultierende Verletzlichkeit Rücksicht zu nehmen ist. Die primäre Pflicht der Schulbehörden besteht daher darin, die Sicherheit der Schüler zu gewährleisten, um sie vor jeder Form der Gewalt zu schützen, während sie unter ihrer Aufsicht stehen.

(60) Die Schuldisziplin [...] fällt in den Anwendungsbereich des Rechts auf Bildung. Der Staat kann sich seiner Verantwortung nicht entziehen, indem er seine Verpflichtungen auf private Gremien oder Personen überträgt. Dasselbe gilt [...] in Bezug auf Fragen der Disziplin im Verhältnis von Schülern untereinander.

(63) Was die von den innerstaatlichen Behörden verlangte Reaktion auf die fragliche Situation betrifft, erinnert der GH daran, dass ein Angriff auf die physische Integrität einer Person auch im Kontext von Art 8 EMRK grundsätzlich eine strafrechtliche Antwort verlangen würde. [...]

(64) Während im vorliegenden Fall der Angriff auf den Sohn des Bf physische Gewalt umfasste, [...] war der Täter ein Minderjähriger, der noch nicht 14 Jahre alt und somit nicht strafmündig war. Tatsächlich beschwerte sich der Bf nicht über ein Versäumnis der Behörden, [...] eine effektive Strafverfolgung durchzuführen, um den angemessenen Schutz der Rechte seines Sohnes gemäß Art 8 EMRK zu gewährleisten. Er behauptete vielmehr, die innerstaatlichen Gerichte hätten gegen ihre positiven Verpflichtungen verstoßen, weil sie ihm keine Entschädigung zusprachen. Folglich behauptete der Bf nicht, dass der Rückgriff auf das Strafrecht der einzige Weg war, wie der belangte Staat seine positive Verpflichtung [...] erfüllen konnte, seinen Sohn vor Gewalt in der Schule zu schützen.

(65) Im vorliegenden Fall, der einen Angriff eines Schülers im Alter von unter 14 Jahren auf einen anderen Schüler mit einer Schleuder betrifft und in dem es zu keiner gewaltsamen Handlung oder absichtlichen Unterlassung seitens eines Mitglieds des Lehrkörpers gekommen ist, war daher [...] eine strafrechtliche Ermittlung nicht unbedingt erforderlich.

(67) Wie der GH zum Schutz der physischen und psychischen Integrität einer Person vor anderen Personen [...] festgehalten hat, können die positiven Verpflichtungen der Behörden [...] eine Pflicht einschließen, einen angemessenen rechtlichen Rahmen vorzusehen und in der Praxis anzuwenden, der Schutz vor Gewalttaten Privater bietet. Im Kontext von Gewalt in der Schule [...] müssen die innerstaatlichen Behörden angemessene legislative, administrative, soziale und erzieherische Maßnahmen vorsehen, die jedes solche Verhalten gegen Kinder zu jeder Zeit und unter allen Umständen verbieten und somit eine Nulltoleranz gegenüber jeglicher Gewalt oder jeglichem Missbrauch in Bildungseinrichtungen gewährleisten. Dies bezieht sich auch auf die Notwendigkeit, durch angemessene straf-, zivil , verwaltungs- und berufsrechtliche Mittel eine Rechenschaftspflicht sicherzustellen. In diesem Kontext ist es wichtig, an den Ermessensspielraum zu erinnern, den der Staat bei der [...] Organisation seines Systems zur

Gewährleistung der Einhaltung der EMRK genießt.

(68) Zum rechtlichen Rahmen Albaniens zur damaligen Zeit stellt der GH fest, dass § 66 des Gesetzes Nr 7952 über Bildungseinrichtungen vorsah, dass der Staat für die Sicherheit von Lehrern und Schülern sowie für die Sicherheit von Bildungseinrichtungen und ihren Räumlichkeiten sorgen muss. Der Betrieb von Privatschulen einschließlich der Sicherheit solcher Schulen ist im Allgemeinen dem Bildungsministerium anvertraut. Die Aufsichtspflichten des dem Bildungsminister unterstehenden staatlichen Inspektorats erstrecken sich auch darauf sich zu vergewissern, dass Sicherheitsmaßnahmen, Pläne und interne Regeln für die Vorbeugung von Schäden und für die Sicherheit der Schüler angemessen sind und in der Praxis befolgt werden. [...]

(70) Was die zivilrechtlichen Mechanismen [...] betrifft, nimmt der GH zur Kenntnis, dass Art 608 des albanischen Zivilgesetzbuchs eine Pflicht zum Ersatz physischen oder psychischen Schadens vorsieht, der einer anderen Person zugefügt wurde. Art 614 und Art 615 erklären Eltern und Aufsichtspersonen, einschließlich für Minderjährige verantwortliche Lehrer, für Schäden haftbar, die von Minderjährigen und von nicht zurechnungsfähigen Personen verursacht wurden, sofern sie nicht beweisen, dass sie den Schaden nicht verhindern hätten können. [...]

(71) Der Bf erhob eine zivilrechtliche Klage gegen die Schule [...]. Die innerstaatlichen Behörden erklärten die Schule unter anderem mit der Begründung für nicht haftbar, dass sich der Vorfall in einer Pause [...] ereignet hätte, während derer die Schulbehörden ihrer Ansicht nach die Schüler nicht beaufsichtigen hätten können. Der GH kann dieser Einschätzung allerdings nicht zustimmen. Wie er bereits festgehalten hat, ist eine Bildungseinrichtung grundsätzlich verpflichtet, Schüler während der gesamten Zeit, die sie in ihrer Obhut verbringen, zu beaufsichtigen.

(72) Es ist unbestritten [...], dass sich der Vorfall während der regulären Schulzeit am Schulgelände ereignete und der Angreifer ein anderer Schüler derselben Schule war, der hochriskante Handlungen durchführte. Von Erziehungseinrichtungen wird erwartet, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um die Verwendung gefährlicher Gegenstände durch Schüler am Schulgelände [...] zu verhindern. Einen harten Gegenstand mit einem Gummiband auf einen anderen Schüler zu schießen, ist potenziell gefährlich und kann zu schweren Verletzungen führen, wie es in diesem Fall geschehen ist.

(73) Auch wenn vom Lehrpersonal nicht erwartet werden kann, eine durchgehende Beaufsichtigung jedes einzelnen Schülers sicherzustellen, um sofort auf jedes unvorhersehbare Verhalten zu reagieren, sind die Schulbehörden zu jeder Zeit, wenn sich die Schüler in der Schule befinden oder außerhalb derselben unter ihrer Obhut stehen, für die Disziplin auch zwischen den Schülern verantwortlich. Der Schutz Minderjähriger während der Schulzeiten könnte andernfalls nicht gewährleistet werden, da während der Pausen niemand für ihre Sicherheit verantwortlich wäre. [...] Die nationalen Gerichte verwiesen auf die Verwendung von Gummibändern zur Fixierung von Banknoten, aber die Schule verabsäumte es zu erklären, warum elfjährige Schüler Gummibänder benötigten, um ihr Taschengeld aufzubewahren. Auf die Behauptung des Bf, ein anderer Schüler habe 20 Gummischleudern [...] verteilt, die in den Tagen vor dem Zwischenfall offen verwendet worden seien, wurde von den innerstaatlichen Gerichten in ihren [...]

Urteilen nicht [...] angemessen eingegangen.

(74) Was die von der Schule nach dem Zwischenfall ergriffenen Maßnahmen betrifft, stellten die innerstaatlichen Gerichte fest, dass die Schule von den Eltern der anderen Schüler Spenden einsammelte und ihre Versicherung [...] zur Zahlung der Kosten der medizinischen Behandlung des Sohnes des Bf aufforderte. Nicht angesprochen wurden allerdings die [...] Vorwürfe des Bf, er sei nicht unverzüglich informiert worden und die Schule habe nicht für die sofortige medizinische Versorgung seines Sohnes gesorgt. Der GH kann diese Vorwürfe nicht selbst beurteilen. Die innerstaatlichen Gerichte hätten sie in ihren begründeten Urteilen angemessen prüfen müssen.

(75) [...] Die [...] Gerichte verwiesen auf die von der Schule abgeschlossene Versicherung [...], an die sich der Bf hätte wenden müssen [...]. Wie der GH allerdings feststellt, hatte nicht der Bf die Versicherung abgeschlossen, sondern die Schule. Der Bf hatte das innerstaatlich anerkannte Recht, Schadenersatz von der Schule zu verlangen. Hätte er diesen erhalten, hätte die Schule von der Versicherung eine Rückerstattung fordern können [...]. Es ist daher schwierig anzunehmen, dass die innerstaatlichen Behörden bei ihrer Gesamteinschätzung den Grundsatz des Kindeswohls gebührend berücksichtigten.

(76) Unter diesen Umständen ist der GH nicht davon überzeugt, dass das im gegenständlichen Fall durchgeführte Zivilverfahren angemessenen Schutz [...] bot, insb im Hinblick auf den Grundsatz, wonach Kinder und andere verletzliche Personen ein Recht auf effektiven Schutz durch die Behörden haben [...].

(77) [...] Der dem Bf unter den Umständen des gegenständlichen Falls zur Verfügung stehende zivilrechtliche Rechtsbehelf bot somit nach Ansicht des GH keinen angemessenen Schutz des Sohnes des Bf vor einem Angriff auf seine physische Integrität. Die Art und Weise, wie die rechtlichen Mechanismen im vorliegenden Fall angewendet wurden, war so mangelhaft, dass sie eine Verletzung der Verpflichtungen des belangten Staats unter Art 8 EMRK begründeten – insb angesichts der vorrangigen Bedeutung des Schutzes der Rechte von Kindern (4:3 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum von Richter Pastor Vilanova, Richterin Schukking und Richter Roosma; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Serghides).

Zur behaupteten Verletzung von Art 6 EMRK

(78) Der Bf rügte die Dauer des Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshof und eine Verletzung seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht durch die Berechnung der Frist für die Erhebung seiner Beschwerde an das Verfassungsgericht. [...]

Zulässigkeit

Verfahrensdauer

(79) Die Regierung brachte vor, [...] 2017 sei ein neuer Rechtsbehelf zur Beschleunigung überlanger zivilrechtlicher Verfahren bzw zur Entschädigung eingeführt worden [...]. Der Bf habe davon keinen Gebrauch gemacht und somit die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft.

(82) [...] Die neuen Rechtsbehelfe [...] traten am 5.11.2017 in Kraft und müssen grundsätzlich erschöpft werden, bevor eine Beschwerde über die Verfahrensdauer an den EGMR herangetragen wird. [...]

(84) Dieser Teil der Beschwerde muss daher [...] wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zugang zum Verfassungsgericht

(85) [...] Dieser Teil der Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(89) [...] Der Bf erhob eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die am 26.9.2017 und damit nach Inkrafttreten der viermonatigen Frist für eine Verfassungsbeschwerde [...] erlassen worden war. Somit war auf seinen Fall eindeutig die neue viermonatige Frist anwendbar.

(90) [...] Der Oberste Gerichtshof entschied am 26.9.2017 in einer nicht öffentlichen Sitzung in Abwesenheit des Bf und seines Anwalts über das Rechtsmittel des Bf. Daher war die Entscheidung dem Bf nicht bekannt. Sie wurde ihm am 10.1.2018 zugestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er erstmals Gelegenheit, die Begründung [...] zu lesen.

(91) Angesichts dessen hätte die viermonatige Frist nach Ansicht des GH ab 10.1.2018 berechnet werden müssen [...]. Für das Verfassungsgericht begann die Frist jedoch mit 26.9.2017 zu laufen [...].

(93) Folglich hat eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich des Rechts des Bf auf Zugang zum Verfassungsgericht stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 11.700,– für immateriellen Schaden; € 5.000,– für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum von Richter Pastor Vilanova, Richterin Schukking und Richter Roosma).

Vom GH zitierte Judikatur:

Đurđević/HR, 19.7.2011, 52442/09

Kayak/TR, 10.7.2012, 60444/08

Söderman/SE, 12.11.2013, 5786/08 (GK) = NLMR 2013, 413

O’Keeffe/IR, 28.1.2014, 35810/09 (GK) = NLMR 2014, 24

Zubac/HR, 5.4.2018, 40160/12 (GK) = NLMR 2018, 138

F. O./HR, 22.4.2021, 29555/13 = NLMR 2021, 165

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.5.2024, Bsw. 24228/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 232) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.