JudikaturAUSL EGMR

Bsw71008/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. April 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache M. B. gg die Niederlande, Urteil vom 23.4.2024, Bsw. 71008/16.

Spruch

Art 5 Abs 1 lit f EMRK - Anhaltung eines Asylwerbers wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 4.560,– für immateriellen Schaden (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Der aus Syrien stammende Bf verließ sein Heimatland Ende 2013 und kam nach einem längeren Aufenthalt in der Türkei im Oktober 2015 in die Niederlande, wo er internationalen Schutz beantragte.

Nachdem sich zwei Mitbewohner des Aufnahmezentrums an die Polizei gewandt hatten, wurden strafrechtliche Ermittlungen gegen den Bf eingeleitet. Am 30.11.2015 erfolgte seine Festnahme wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und die Verhängung der Untersuchungshaft. Am 29.8.2016 verurteilte ihn das Bezirksgericht Rotterdam zu einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe. Aufgrund der Untersuchungshaft endete die strafrechtliche Anhaltung des Bf am 23.9.2016.

Noch am selben Tag ordnete der Staatssekretär für Sicherheit und Justiz die Einwanderungshaft des Bf gemäß § 59b Abs 1 lit b und lit d Fremdengesetz 2000 an. (Anm: Nach § 59b Abs 1 kann ein Asylwerber unter anderem in Haft genommen werden, (b) wenn dies erforderlich ist, um Beweise zu sichern, die für die Beurteilung seines Asylantrags benötigt werden, insb wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Zugriff entziehen wird; oder (d) wenn er eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung iSv Art 8 Abs 3 lit e der RL 2013/33/EU darstellt.). Die Freiheitsentziehung wurde damit begründet, dass sie zur Erlangung von Informationen für die Behandlung des Asylantrags notwendig sei und der Bf angesichts seiner Verurteilung eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder öffentliche Ordnung darstelle.

Das Bezirksgericht Den Haag wies die Haftbeschwerde des Bf am 10.10.2016 ab. Da dem Bf die Einreise in die Niederlande nicht gestattet worden sei und er nach wie vor auf eine Entscheidung über seinen Asylantrag warte, diene sie der Verhinderung der unerlaubten Einreise. Zudem habe sie eine gesetzliche Grundlage in § 59b Abs 1 lit d Fremdengesetz 2000 und sei angesichts der Verurteilung des Bf auch nicht willkürlich. Eine Aussicht auf seine tatsächliche Abschiebung sei keine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Haft nach § 59b Abs 1 lit d leg cit, der Art 8 Abs 3 lit e der AufnahmeRL (Anm: RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), ABl L 2013/180, 96.) umsetze. Die Vereinbarkeit dieser unionsrechtlichen Bestimmung mit Art 6 GRC sei vom EuGH bestätigt worden. (Anm: EuGH 15.2.2016, C-601/15 PPU (J. N. gg Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie).).

§ 59b Abs 1 lit b leg cit könne hingegen nicht herangezogen werden, weil keine Hinweise auf eine Fluchtgefahr bestünden. Ein weiteres Rechtsmittel des Bf blieb erfolglos.

Aufgrund einer weiteren Haftbeschwerde erklärte das Bezirksgericht Den Haag am 13.12.2016 die Freiheitsentziehung für rechtswidrig und ordnete die Entlassung des Bf an.

Im Strafverfahren erfolgte am 12.12.2017 ein Freispruch durch das Berufungsgericht Den Haag, das die Vorwürfe nicht als ausreichend bewiesen ansah. Dieses Urteil wurde vom Obersten Gerichtshof bestätigt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK

(41) Der Bf brachte vor, seine Einwanderungshaft habe gegen Art 5 Abs 1 lit f EMRK verstoßen [...].

Zulässigkeit

(43) [...] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(50) [...] Eine Freiheitsentziehung ist nur in den in Art 5 Abs 1 lit a bis lit f EMRK genannten Situationen zulässig. Eine dieser Ausnahmen, die in Art 5 Abs 1 lit f enthalten ist, gestattet es dem Staat, Fremden im Kontext der Einwanderung die Freiheit zu entziehen.

(53) In seinem Urteil [Saadi/GB] betonte der GH, dass die Staaten [...] das souveräne Recht genießen, Einreise und Aufenthalt von Fremden zu kontrollieren und dass es den Staaten als notwendige Ergänzung dieses Rechts zusteht, [...] eine Person zu inhaftieren, die [...] um Erlaubnis zur Einreise ersucht hat. [...]

(54) In seinem Urteil Suso Musa/MT bekräftigte er diese Grundsätze und stellte ergänzend fest, es könne ein Problem hinsichtlich Art 5 Abs 1 lit f EMRK aufwerfen, wenn ein Staat über seine Verpflichtung hinausgehend Gesetze erlassen hat, welche die Einreise und den Aufenthalt von Asylwerbern bis zur Entscheidung über ihren Antrag ausdrücklich gestatten, und dann eine Freiheitsentziehung zum Zweck der Verhinderung der unrechtmäßigen Einreise erfolgt. [...]

(55) Nach der stRsp [...] muss jede Freiheitsentziehung nicht nur unter eine der in Art 5 Abs 1 lit a bis lit f EMRK genannten Ausnahmen fallen, sondern auch »rechtmäßig« sein. Diesbezüglich [...] verweist die EMRK im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht. [...] Die Übereinstimmung mit dem nationalen Recht ist jedoch nicht ausreichend: Art 5 Abs 1 EMRK verlangt zusätzlich, dass jede Freiheitsentziehung mit dem Zweck vereinbar ist, den Einzelnen vor Willkür zu schützen. [...]

(57) [...] Solange eine Person nach Art 5 Abs 1 lit f EMRK wegen eines schwebenden Ausweisungsverfahrens angehalten wird, muss nicht geprüft werden, ob die Haft – etwa zur Verhinderung der Begehung einer Straftat oder der Flucht – notwendig ist. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist auf eine Haft unter Art 5 Abs 1 lit f EMRK nur insofern anwendbar, als sie nicht unverhältnismäßig lange dauern darf.

(58) [...] Der Grundsatz, wonach eine Freiheitsentziehung nicht willkürlich sein darf, muss auf Haft unter der ersten Alternative des Art 5 Abs 1 lit f EMRK in der gleichen Weise angewendet werden, wie auf Haft nach dessen zweiter Alternative. Da Staaten gleichermaßen das Recht zukommt, die Einreise eines Fremden in ihr Territorium und dessen Aufenthalt dort zu kontrollieren, wäre es gekünstelt, eine andere Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Fälle der Festnahme bei der Einreise anzuwenden als jene, die auf Ausweisung, Auslieferung oder Abschiebung einer bereits im Land befindlichen Person anwendbar ist.

(59) Um zu verhindern, dass eine solche Haft als willkürlich gebrandmarkt wird, muss sie somit in gutem Glauben durchgeführt werden; sie muss in engem Zusammenhang zum Zweck der Verhinderung des unberechtigten Eindringens der Person in das Land stehen; Ort und Bedingungen der Haft sollten angemessen sein und die Haft darf nicht länger dauern, als es für den verfolgten Zweck erforderlich ist.

Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

Fiel die Anhaltung unter Art 5 Abs 1 lit f EMRK und entsprach sie dem nationalen Recht?

(60) Der Bf bestritt, dass seine Einwanderungshaft in den Anwendungsbereich der ersten Alternative von Art 5 Abs 1 lit f EMRK fiel. [...] Weiters brachte er vor, [...] sein Aufenthalt in den Niederlanden sei rechtmäßig, solange nicht über seinen Asylantrag entschieden worden sei.

(62) [...] Das Bezirksgericht Den Haag verneinte [...], dass § 59b Abs 1 lit d Fremdengesetz 2000 keine ausreichende Rechtsgrundlage für die Anhaltung des Bf sein könne. [...] Der GH sieht keinen Grund, davon [abzuweichen] und stellt fest, dass die Freiheitsentziehung des Bf [...] dem nationalen Recht entsprach.

(63) Zum Vorbringen des Bf, seine Haft falle nicht in den Anwendungsbereich von Art 5 Abs 1 lit f EMRK, weil er bereits in die Niederlande eingereist war, dort internationalen Schutz beantragt hatte und während des anhängigen Asylverfahrens rechtmäßig aufhältig gewesen sei, trifft der GH folgende Feststellungen.

(64) [...] Die erste Alternative von Art 5 Abs 1 lit f EMRK erlaubt die Anhaltung eines Asylwerbers oder sonstigen Einwanderers, bis der Staat dieser Person die Einreise gestattet hat. Der GH erinnert an [...] das Urteil Saadi/GB, wonach jede Einreise »unerlaubt« ist, solange ein Staat die Einreise nicht »erlaubt« hat und die Anhaltung einer Person, die einreisen möchte aber noch keine Erlaubnis dazu erhalten hat, ohne jegliche Entstellung der Sprache dazu dienen kann, »die unerlaubte Einreise zu verhindern«. Nach diesem [...] Ansatz kommt es nicht auf die Einreise de facto an, sondern auf die Einreise de jure. Daher ist es möglich, dass sich ein Asylwerber zwar unbestreitbar physisch auf dem Gebiet eines Staats befindet, seine Einreise aber rechtlich von diesem Staat noch nicht erlaubt wurde. In diesem Fall kann er nach der ersten Alternative von Art 5 Abs 1 lit f EMRK angehalten werden. Der Anwendungsbereich dieser Bestimmung ist allerdings nicht, wie vom Bf behauptet, auf Verfahren an der Grenze beschränkt. [...] Wann der Anwendungsbereich der ersten Alternative von Art 5 Abs 1 lit f endet, hängt weitgehend vom nationalen Recht ab.

(65) Der vorliegende Fall [...] ähnelt insofern dem Fall Saadi/GB, als zum Zeitpunkt der Verhängung der Einwanderungshaft noch keine Entscheidungen über die Asylanträge gefallen waren. [...] Der »rechtmäßige Aufenthalt«, auf den sich der Bf berief, beruhte auf § 8 lit f Fremdengesetz 2000. (Anm: § 8 Fremdengesetz 2000 lautet: »Ein Ausländer hält sich nur dann rechtmäßig in den Niederlanden auf, [...] (f) wenn in Erwartung der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung [einer befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] die Abschiebung des Antragstellers nach diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes oder einer gerichtlichen Entscheidung unterbleiben muss, bis über den Antrag entschieden wurde.«). Nach dieser Bestimmung hält sich ein Fremder während des Asylverfahrens rechtmäßig in den Niederlanden auf, wenn es das Gesetz oder eine gerichtliche Entscheidung verbietet, den Fremden vor Abschluss des Asylverfahrens auszuweisen.

(66) Der Regierung zufolge stellt § 8 lit f Fremdengesetz 2000 die Umsetzung von Art 9 Abs 1 VerfahrensRL (Anm: RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung), ABl L 2013/180, 60.) dar, der es verbietet, einen Asylwerber auszuweisen, bevor über den Antrag entschieden wurde. Sie brachte vor, aus dieser Bestimmung könne weder eine Erlaubnis der Einreise oder eine Aufenthaltsberechtigung noch eine Anerkennung des Aufenthaltsrechts des Bf abgeleitet werden.

(67) [...] Art 9 Abs 1 VerfahrensRL bestimmt, dass sich aus der Berechtigung zum Verbleib [...] während des Asylverfahrens kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel ergibt. Der GH nimmt auch die Feststellung des Bezirksgerichts zur Kenntnis, wonach es sich im Fall des Bf nicht um eine »erlaubte Einreise« gehandelt hatte, weil er nicht rechtmäßig in die Niederlande eingereist war und noch auf die Entscheidung über seinen Asylantrag wartete. Während der Begriff »rechtmäßiger Aufenthalt« in § 8 lit f Fremdengesetz 2000 beim Bf zu einer gewissen Verwirrung geführt haben mag, ergibt sich aus dem Kontext der Bestimmung [...] eindeutig, dass sie entsprechend den internationalen Standards vorschreibt, dass ein Asylwerber nicht abgeschoben werden darf, bevor über den Antrag entschieden wurde, und kein Verfahren zur förmlichen Gewährung eines Rechts auf Einreise oder Aufenthalt vorsieht. Wie oben ausgeführt, erlaubt die erste Alternative von Art 5 Abs 1 lit f EMRK die Anhaltung eines Asylwerbers, dem keine solche förmliche Erlaubnis erteilt wurde.

(68) Daher akzeptiert der GH, dass die Freiheitsentziehung des Bf eine eindeutige gesetzliche Grundlage hatte und in den Anwendungsbereich der ersten Alternative von Art 5 Abs 1 lit f EMRK fiel.

(69) [...] Für den Bf war ausreichend klar, dass seine Anhaltung darauf abzielte, seine unerlaubte Einreise zu verhindern. Zu prüfen bleibt, ob die Freiheitsentziehung willkürlich war.

War die Freiheitsentziehung willkürlich?

(70) [...] Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Ort und Bedingungen der Anhaltung unangemessen gewesen wären, sie unverhältnismäßig lange gedauert hätte oder die Behörden nicht gutgläubig gehandelt hätten. Der GH muss sich daher darauf konzentrieren, ob [...] ein ausreichend enger Zusammenhang zwischen der Einwanderungshaft und dem Zweck der Verhinderung der unerlaubten Einreise bestand.

(71) [...] Nach den Feststellungen des Bezirksgerichts Den Haag beruhte die Freiheitsentziehung des Bf ausschließlich auf § 59b Abs 1 lit d Fremdengesetz 2000, der nach Ansicht des Gerichts eine ausreichende rechtliche Grundlage für die Haft darstellte. § 59b Abs 1 lit d des Fremdengesetzes 2000, der Art 8 Abs 3 lit e AufnahmeRL umsetzt, sieht eine Freiheitsentziehung im Fall einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit vor.

(72) Obwohl Art 8 Abs 3 lit e AufnahmeRL vom unionsrechtlichen Standpunkt eine Haft erlaubt, »wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist«, ändert dies nichts an der Tatsache, dass Art 5 Abs 1 lit f EMRK eine Einwanderungshaft nur zum Zweck der Verhinderung der unerlaubten Einreise oder der Sicherstellung der Abschiebung gestattet. Bislang war der GH nur aufgefordert, die Rechtfertigung der Einwanderungshaft durch Gründe der öffentlichen Ordnung zu prüfen, die sich auf das Ziel der Abschiebung unter der zweiten Alternative [von Art 5 Abs 1 lit f EMRK] bezogen. In diesen Fällen stellte er fest, dass eine Haft, die mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt wurde, während kein Ausweisungsverfahren aktiv betrieben wurde, willkürlich war. Zudem bemerkt der GH, dass die 2012 überarbeiteten UNHCR-Richtlinien zur Haft von Asylsuchenden die öffentliche Ordnung erwähnen, aber zugleich aus Richtlinie 4.1.1. klar hervorgeht, dass der Schutz der öffentlichen Ordnung im Sinn dieser Richtlinien sich nicht auf eine vorangegangene strafrechtliche Verurteilung bezieht, wie sie im gegenständlichen Fall gegeben ist.

(73) Der GH kann die berechtigten Sorgen nachvollziehen, die bestehen, wenn ein Asylwerber kurz nach seiner Verurteilung wegen Taten im Zusammenhang mit Terrorismus aus der Haft entlassen wird. Dies kann allerdings weder zu einer »Präventivhaft« führen noch den Staat von seinen Verpflichtungen nach der Konvention befreien. Außerdem ist unbestritten, dass während der (Untersuchungs)Haft des Bf zwischen 30.11.2015 und 23.9.2016 keine Schritte zur Prüfung seines Asylantrags gesetzt wurden, wie etwa seine Befragung [...]. Vielmehr erfolgten zwei solche Einvernahmen erst, als sich der Bf zwischen 23.9.2016 und 13.12.2016 in Einwanderungshaft befand. Diese Haft erscheint folglich unverhältnismäßig und sogar überflüssig, da viele der zur Beurteilung des Asylantrags nötigen Schritte bereits während der strafrechtlichen Haft gesetzt hätten werden können und es nicht notwendig war, den Bf im Anschluss an diese in Einwanderungshaft zu halten.

(74) Auch wenn der Zeitablauf nicht dafür ausschlaggebend ist, ob die Freiheitsentziehung in den Anwendungsbereich der ersten Alternative von Art 5 Abs 1 lit f EMRK fällt, bleibt er für die Entscheidung darüber relevant, ob ein ausreichend enger Zusammenhang zwischen der Einwanderungshaft und der Verhinderung der unerlaubten Einreise bestand. Wenn mehr Zeit vergangen ist und sich der Bf währenddessen physisch im Hoheitsgebiet eines Staats aufhält, muss die Beachtung der Anforderung eines engen Zusammenhangs zwischen der Haft und der Verhinderung der unerlaubten Einreise genau geprüft werden. Ungeachtet der Tatsache, dass [...] das innerstaatliche Recht sowohl eine Höchstdauer der Freiheitsentziehung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit vorsieht als auch eine Garantie enthält, wonach die Rechtmäßigkeit der Haft nach spätestens 28 Tagen [...] gerichtlich überprüft werden muss, kann der GH nicht darüber hinwegsehen, dass die öffentliche Ordnung, so wie sie im vorliegenden Fall angewendet wurde, dazu

herangezogen werden könnte, eine unverhältnismäßig lange Einwanderungshaft im Anschluss an eine Strafhaft zu rechtfertigen, während das Asylverfahren anhängig bleibt. Dies würde auf eine Ausweitung der Gründe für die Rechtfertigung der Entziehung der Freiheit von Asylwerbern und anderen Einwanderern hinauslaufen, die von der Konvention nicht vorgesehen ist.

(75) Da der Bf nicht festgenommen wurde, als er in das Land einreiste und einen Asylantrag stellte und angesichts der Tatsache, dass die Einwanderungshaft des Bf nicht als notwendig für die Prüfung seines Asylantrags angesehen wurde und während der vorangegangenen zehn Monate seiner strafrechtlichen Haft keine Schritte unternommen wurden, um diese Prüfung voranzutreiben, bestand nach Ansicht des GH kein ausreichend enger Zusammenhang zwischen der Einwanderungshaft und dem Ziel der Verhinderung seiner unerlaubten Einreise. Die Einwanderungshaft des Bf war daher willkürlich und somit mit der ersten Alternative von Art 5 Abs 1 lit f EMRK unvereinbar.

Schlussfolgerung

(76) [...] Die Entscheidung, mit der die Einwanderungshaft des Bf angeordnet wurde, war nicht rechtmäßig. Daher hat eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Schukking; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten der Richter Serghides und Zünd).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 4.560,– für immateriellen Schaden (6:1 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Saadi/GB, 29.1.2008, 13229/03 (GK) = NL 2008, 18

Suso Musa/MT, 23.7.2013, 42337/12

Khlaifia ua/IT, 15.12.2016, 16483/12 (GK) = NLMR 2016, 511

Al Husin/BA (Nr 2), 25.6.2019, 10112/16

K. I./FR, 15.4.2021, 5560/19 = NLMR 2021, 147

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.4.2024, Bsw. 71008/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 102) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise