Bsw53600/20 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Verein KlimaSeniorinnen Schweiz ua gg die Schweiz, Urteil vom 9.4.2024, Bsw. 53600/20.
Spruch
Art 2, 6, 8, 13 EMRK - Recht auf effektive Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels.
Zulässigkeit der Beschwerden (16:1 Stimmen).
Verletzung von Art 8 EMRK (16:1 Stimmen).
Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: Materieller oder immaterieller Schaden wurde nicht geltend gemacht; € 80.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Verein KlimaSeniorinnen Schweiz setzt sich für einen effektiven Klimaschutz ein. Die Mehrheit seiner mehr als 2.000 ausschließlich weiblichen Mitglieder ist älter als 70 Jahre.
Die vorliegende Beschwerde wurde von diesem Verein und vier seiner Mitglieder erhoben. Eine der vier Frauen verstarb während des Verfahrens. Alle vier brachten vor, unter den zunehmenden Hitzewellen zu leiden und aus gesundheitlichen Gründen ihr Sozialverhalten an die Temperaturen anzupassen. Insb müssten sie bei großer Hitze in ihren Wohnungen bleiben und ihr tägliches Leben entsprechend gestalten. Zudem legten sie medizinische Bestätigungen über hitzebedingte gesundheitliche Probleme vor.
Am 22.11.2016 wandten sich die Bf mit einem Ersuchen an den Bundesrat, das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), das Bundesamt für Umwelt und das Bundesamt für Energie und begehrten, eine Verfügung über Realakte iSv Art 25a des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVG) zu erlassen. Sie machten geltend, die Schweiz habe sich verpflichtet, den weltweiten Temperaturanstieg auf einen Wert von höchstens bzw deutlich unter 2 °C zu begrenzen. Es seien daher alle erforderlichen Handlungen zu veranlassen, um den Temperaturanstieg entsprechend begrenzen zu können.
Das UVEK teilte mit Verfügung vom 25.4.2017 mit, dass auf die Eingabe nicht inhaltlich einzugehen sei, weil das Begehren auf den Erlass generell-abstrakter Regelungen zum Schutz der Allgemeinheit abziele, was nicht Gegenstand einer Verfügung nach Art 25a VwVG sein könne. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVGer) am 27.11.2018 als unbegründet abgewiesen. (Anm: BVGer 27.11.2018, A-2992/2017.) Nach Ansicht des BVGer waren die Bf von den Klimaschutzmaßnahmen des Bundes nicht in einer stärkeren Weise betroffen als die Allgemeinheit, weshalb ihr Begehren als unzulässige Popularbeschwerde zu qualifizieren sei.
Mit Urteil vom 5.5.2020 bestätigte das Bundesgericht diese Entscheidung. (Anm: BGer 5.5.2020, 1C_37/2019.) Das Begehren der Bf diene nicht ihrem individuellen Rechtsschutz, sondern ziele als Popularklage darauf ab, die Klimaschutzmaßnahmen abstrakt auf ihre Vereinbarkeit mit den staatlichen Schutzpflichten überprüfen und indirekt deren Verschärfung in die Wege leiten zu lassen. Ein solches Anliegen sei nicht auf dem Rechtsweg durchzusetzen, sondern mit demokratischen Mitteln.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten Verletzungen von Art 2 (Recht auf Leben) und Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung) durch Versäumnisse des belangten Staats bei der Bekämpfung des Klimawandels. Außerdem machten sie Verletzungen von Art 6 Abs 1 (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) und Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) geltend.
Vorfragen
Zur ZweitBf
(273) Die ZweitBf verstarb während des Verfahrens vor dem GH. [...] Nach Ansicht des GH hat ihr Sohn ein legitimes Interesse und ist somit berechtigt, das Verfahren weiter zu verfolgen (einstimmig).
Zum Umfang der Rechtssache
(275) In ihrer ergänzenden Stellungnahme [...] an die Kammer äußerten sich die Bf ausdrücklich zur Frage jener Treibhausgasemissionen, die im Ausland bei der Produktion von Gütern generiert werden und der Schweiz aufgrund des Imports dieser Güter zuzurechnen sind (»embedded emissions«). Dies warf die Frage auf, ob dieses Vorbringen Teil der ursprünglichen Beschwerde [...] war. [...]
(279) [...] In den Berichten der zuständigen schweizerischen Behörden [...] wurde anerkannt, dass die der Schweiz zuzurechnenden Treibhausgasemissionen, die durch den Import von Waren und deren Verbrauch entstehen, einen erheblichen Anteil (2015 rund 70 %) des Gesamtausstoßes der Schweiz ausmachen. [...]
(280) Es wäre daher schwierig oder gar unmöglich, die Verantwortung der Schweiz für die Auswirkungen ihrer Treibhausgasemissionen auf die Rechte der Bf zu diskutieren, ohne jene Emissionen zu berücksichtigen, die durch den Import von Waren und ihre Konsumation verursacht werden [...]. Daher [...] muss der GH diese Tatsachen [...] klären, wenn er das ursprüngliche – und eher allgemein gehaltene – Beschwerdevorbringen prüft, die Schweiz hätte es verabsäumt, ihre Treibhausgasemissionen entsprechend dem 1,5-Grad-Ziel zu reduzieren.
(283) Folglich [...] fällt das sich auf die »embedded emissions« beziehende Vorbringen der Bf in den Umfang der Rechtssache. Die diesbezügliche Einrede der Regierung ist zu verwerfen (einstimmig). [...]
Zur Hoheitsgewalt
(284) Die Regierung bestritt nicht die Hoheitsgewalt der Schweiz hinsichtlich der Beschwerde über die innerstaatlichen Treibhausgasemissionen und deren Auswirkungen auf den Klimawandel. In Bezug auf die im Ausland generierten Emissionen brachte sie allerdings gestützt auf die stRsp des GH vor, dass die Angelegenheit unter keines der Kriterien für die ausnahmsweise Feststellung einer extraterritorialen Hoheitsgewalt des Staats fiel.
(287) Nach Ansicht des GH wirft das Vorbringen betreffend die »embedded emissions« keine wirkliche Frage zur Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK auf. [...] Alle Bf sind Einwohnerinnen der Schweiz und stehen daher unter deren territorialer Hoheitsgewalt, weshalb sich die Schweiz gemäß Art 1 EMRK für jede ihr zurechenbare Verletzung der durch die EMRK garantierten Rechte und Freiheiten der Bf verantworten muss. Auch wenn das Vorbringen zu den »embedded emissions« einen extraterritorialen Aspekt umfasst, wirft es daher keine Frage bezüglich der Hoheitsgewalt der Schweiz hinsichtlich der Bf auf, sondern vielmehr eine ihrer Verantwortlichkeit für die behaupteten Auswirkungen der »embedded emissions« auf die Konventionsrechte der Bf. Dies ist allerdings eine gesonderte Angelegenheit, die falls nötig im Zusammenhang mit der Prüfung in der Sache zu behandeln ist.
(288) Vor diesem Hintergrund verwirft der GH die sich auf die fehlende Hoheitsgewalt beziehende Einrede der Regierung (einstimmig).
Zur Frist von sechs Monaten
(290) Die von der Regierung [...] aufgeworfene Frage der Fristerstreckung [...] wurde in der Rsp bereits geklärt. Der GH sieht keinen Grund dafür, diese Rsp zu überdenken. Die Einrede der Regierung wird daher verworfen (einstimmig).
Einleitende Bemerkungen zu den vorliegenden Beschwerdevorbringen
(291) Die Bf stützten ihre Beschwerde über die Versäumnisse der schweizerischen Behörden, den Klimawandel und insb die Auswirkungen der globalen Erwärmung einzudämmen, sowie über das Fehlen eines Zugangs zu einem Gericht [...] auf die Art 2, 6, 8 und 13 EMRK.
(292) [...] Zwischen den inhaltlichen Verpflichtungen gemäß den im vorliegenden Kontext relevanten Bestimmungen besteht ein enger Zusammenhang. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Auslegung der Konvention eine innere Konsistenz und Harmonie zwischen ihren unterschiedlichen Bestimmungen schaffen soll und sich die positiven Verpflichtungen des Staats gemäß Art 2 und Art 8 EMRK im Umweltkontext weitgehend überschneiden.
(293) Während Art 6 EMRK [...] ein »Recht auf ein Gericht« für die Entscheidung über »zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen« einräumt, dient Art 8 EMRK dem breiteren Zweck der Gewährleistung einer angemessenen Achtung unter anderem des Privatlebens. Der Entscheidungsprozess, der zu Eingriffsmaßnahmen führt, muss fair und so gestaltet sein, dass er die durch Art 8 EMRK geschützten Interessen angemessen achtet. Es kann daher in manchen Fällen ausreichen, den Fall auch hinsichtlich der jeweiligen verfahrensrechtlichen Gewährleistungen aus dem Blickwinkel des Art 8 EMRK zu prüfen, während sich der GH in anderen Fällen dazu entscheiden kann, beide Bestimmungen gesondert heranzuziehen. Dies ist eine Frage, die nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls entschieden werden kann.
(294) Derselbe Zugang gilt hinsichtlich der prozeduralen Gewährleistungen des Art 13 EMRK, deren Prüfung neben der Beurteilung unter der relevanten materiellen Bestimmung der GH als notwendig erachten kann oder auch nicht. [...]
(295) Diese Überlegungen beachtend wird der GH zunächst den Inhalt der positiven Verpflichtungen des Staats unter den materiellen Bestimmungen – Art 2 und Art 8 EMRK – prüfen. Die unter Art 6 und Art 13 EMRK aufgeworfenen Beschwerdebehauptungen wird er gesondert behandeln.
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 und Art 8 EMRK
(296) Die Bf rügten verschiedene Versäumnisse der schweizerischen Behörden, den Klimawandel und insb die Auswirkungen der globalen Erwärmung einzudämmen, durch die Leben sowie Lebensbedingungen und Gesundheit der individuellen Bf und der Mitglieder des bf Vereins beeinträchtigt worden seien. Sie bezogen sich auf Art 2 und Art 8 EMRK.
Vorbemerkungen
(410) Einleitend bemerkt der GH, dass der Klimawandel eine der drängendsten Fragen unserer Zeit ist. Während die primäre Ursache für den Klimawandel in der Ansammlung von Treibhausgasen in der Atmosphäre liegt, sind seine Konsequenzen für die Umwelt und seine nachteiligen Auswirkungen auf verschiedene menschliche Gemeinschaften und Individuen komplex und vielfältig. Dem GH ist auch bewusst, dass die schädlichen Folgen des Klimawandels eine Frage der intergenerationellen Lastenverteilung aufwerfen und sich am schwersten auf verschiedene verletzliche Gruppen [...] auswirken.
(411) Allerdings kann er sich mit den vom Klimawandel aufgeworfenen Problemen nur in den Grenzen seiner Zuständigkeit nach Art 19 EMRK befassen [...]. Er ist sich in diesem Zusammenhang der Tatsache bewusst, dass Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und seiner schädlichen Folgen in weiten Teilen ein Handeln des Gesetzgebers sowohl in Bezug auf den politischen Rahmen als auch in verschiedenen Sektoren erfordern [...]. In einer Demokratie [...] erfordert ein solches Handeln eine demokratische Entscheidungsfindung.
(412) Ein Einschreiten der Gerichte, einschließlich des GH, kann die von der Legislative und der Exekutive zu ergreifenden Handlungen nicht ersetzen [...]. Allerdings kann Demokratie nicht in Missachtung der Erfordernisse der Rechtsstaatlichkeit auf den Willen der Mehrheit der Wähler*innen und ihrer Vertreter*innen reduziert werden. Die Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte und des GH tritt somit ergänzend neben jene demokratischen Prozesse. [...]
(413) Zugleich darf der GH nicht außer Acht lassen, dass die weithin anerkannte Unzulänglichkeit der bisherigen staatlichen Aktivitäten zur globalen Bekämpfung des Klimawandels eine Verschärfung der mit seinen nachteiligen Wirkungen einhergehenden Risiken und der daraus erwachsenden Bedrohungen für den Genuss der Menschenrechte mit sich bringt [...]. Die derzeitige Lage betrifft daher zwingende, durch wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigte, aktuelle Bedingungen, die der GH als gerichtliche Instanz mit der Aufgabe der Durchsetzung von Menschenrechten nicht ignorieren kann. Angesichts der notwendigerweise vorgehenden Verantwortung der Legislative und der Exekutive und des seiner Natur nach kollektiven Charakters sowohl der Konsequenzen als auch der Herausforderungen, die mit den nachteiligen Folgen des Klimawandels verbunden sind, ist die Frage, wer in diesem Kontext nach der Konvention Rechtsschutz geltend machen kann, allerdings nicht bloß eine Frage danach, wer dieses gemeinsame Problem vor den Gerichten – zunächst innerstaatlich und dann durch Anrufung des GH – ansprechen kann, sondern sie betrifft die breitere Angelegenheit der Gewaltenteilung.
(414) Der vorliegende Fall und die beiden anderen, von der GK in derselben Zusammensetzung gehörten Rechtssachen [Duarte Agostinho ua/PT ua; Carême/FR] werfen vor dem GH noch nie dagewesene Angelegenheiten auf. Die besondere Natur der sich aus dem Klimawandel ergebenden Probleme hinsichtlich der betroffenen Fragen unter der Konvention wurden in der Rsp des GH bislang nicht angesprochen. Zwar kann die bisherige Rsp zu Umweltangelegenheiten gewisse Leitlinien bieten, doch bestehen wichtige Unterschiede zwischen den vom Klimawandel aufgeworfenen und den bisher behandelten Rechtsfragen.
(415) In der bisherigen Rsp zu Umweltangelegenheiten [...] gibt es eine Verbindung zwischen einer Schadensquelle und den von der Schädigung Betroffenen, und die erforderlichen Abhilfemaßnahmen können benannt werden und [...] zur Verfügung stehen.
(416) Die wesentlichen Merkmale und Umstände im Kontext des Klimawandels unterscheiden sich davon erheblich. Erstens gibt es keine einzelne oder spezifische Quelle der Schädigung. Treibhausgasemissionen stammen aus einer Vielzahl an Quellen. Der Schaden ergibt sich aus der Summe dieser Emissionen. Zweitens ist CO2 – das wichtigste Treibhausgas – in normalen Konzentrationen als solches nicht giftig. Die Emissionen führen in Folge einer komplexen Wirkungskette zu nachteiligen Konsequenzen. Diese Emissionen nehmen keine Rücksicht auf Staatsgrenzen.
(417) Drittens ist diese Wirkungskette sowohl komplex als auch weniger vorhersehbar hinsichtlich Zeit und Ort als dies bei anderen Emissionen spezifischer toxischer Abgase der Fall ist. Die Menge des angesammelten CO2 führt zu globaler Erwärmung und Klimawandel, was wiederum Extremwetterereignisse oder -perioden nach sich zieht. Diese führen ihrerseits zu unterschiedlichen schädlichen Phänomenen wie langen Hitzewellen, Dürren, übermäßigem Regen, starken Winden und Stürmen, was wiederum Katastrophen wie Waldbrände, Überschwemmungen, Erdrutsche oder Lawinen verursacht. Die unmittelbare Gefahr für Menschen ergibt sich aus derartigen Folgen [...]. Langfristig geht damit [...] die Gefahr der Zerstörung der Lebensgrundlagen [...] in den am schwersten betroffenen Gebieten einher. [...]
(418) Viertens beschränken sich die Quellen von Treibhausgasemissionen nicht auf spezifische Aktivitäten, die als gefährlich gekennzeichnet werden könnten. Die Hauptverursacher [...] liegen in Bereichen wie Industrie, Energie, Verkehr, Wohnen, Bauwesen und Landwirtschaft und damit in grundlegenden Aktivitäten menschlicher Gesellschaften. Die Eindämmungsmaßnahmen sind notwendigerweise eine Angelegenheit umfassender Regulierung in unterschiedlichen Sektoren. Anpassungsmaßnahmen können in größerem Umfang von lokalen Handlungen abhängen. Ohne wirksame Eindämmung (was den Kern der Argumente der Bf ausmacht [...]) können Anpassungsmaßnahmen jedoch für sich nicht zur Bekämpfung des Klimawandels ausreichen.
(419) Fünftens hängt die Bekämpfung des Klimawandels [...] nicht von Maßnahmen ab, die sich auf einen spezifischen Ort oder einen einzigen Sektor beziehen. [...] Eine »grüne Transformation« erfordert ein sehr komplexes und weitreichendes Paket an Maßnahmen, Strategien und Investitionen. Auch einzelne Personen werden dazu aufgefordert sein, einen Beitrag [...] zu leisten. Strategien zur Bekämpfung des Klimawandels umfassen daher unweigerlich Fragen der gesellschaftlichen Anpassung und der Lastenverteilung zwischen den Generationen – sowohl hinsichtlich unterschiedlicher derzeit lebender Generationen als auch hinsichtlich künftiger Generationen.
(420) [...] Dieser intergenerationellen Lastenteilung kommt besondere Bedeutung zu [...]. Während sich die rechtlichen Verpflichtungen der Staaten nach der Konvention auf jene derzeit lebenden Individuen beziehen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Hoheitsgewalt eines bestimmten Mitgliedstaats fallen, ist klar, dass zukünftige Generationen in Folge der gegenwärtigen Versäumnisse und Unterlassungen bei der Bekämpfung des Klimawandels wahrscheinlich eine immer schwerere Last tragen werden müssen und sie zugleich keine Möglichkeit haben, sich an den relevanten gegenwärtigen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Durch ihren Beitritt zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen verpflichteten sich die Staaten zum Schutz des Klimas zugunsten gegenwärtiger und künftiger Generationen. [...] Die intergenerationelle Perspektive unterstreicht das den politischen Entscheidungsprozessen innewohnende Risiko, dass kurzfristige Interessen und Anliegen gegenüber der dringenden Notwendigkeit einer nachhaltigen Politik überwiegen und auf deren Kosten gehen, und macht diese Gefahr besonders schwerwiegend. Dies verstärkt die Rechtfertigung der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung.
(421) [...] Selbst wenn der Klimawandel langfristig existentielle Gefahren für die Menschheit birgt, ändert dies schließlich nichts an der Tatsache, dass die Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels kurzfristig verschiedene Konflikte mit sich bringt, deren Abwägung [...] Sache der demokratischen Entscheidungsfindungsprozesse sein sollte, die von einer gerichtlichen Aufsicht [...] ergänzt werden.
(422) Aufgrund dieser grundlegenden Unterschiede wäre es weder angemessen noch angebracht, [...] die bestehende Rsp zu Umweltfragen direkt auf den Kontext des Klimawandels zu übertragen. Der GH erachtet es als angemessen, einen auf die spezifischen Merkmale des Klimawandels zugeschnittenen Zugang anzuwenden [...]. Während er aus der bestehenden Rsp eine gewisse Inspiration ableitet, wird der GH daher im vorliegenden Fall versuchen, einen angemesseneren und genauer zugeschnittenen Zugang betreffend die unterschiedlichen Fragen zu entwickeln, die sich aus Sicht der Konvention im Kontext des Klimawandels stellen.
Allgemeine Überlegungen zu Klimawandel-Fällen
(423) Der GH erachtet es zunächst als notwendig, sich einigen der allgemeinen Überlegungen zuzuwenden, die sich auf Klimawandel-Fälle beziehen.
Fragen der Kausalität
(425) Die erste Dimension der Frage der Kausalität bezieht sich auf die Verbindung zwischen Treibhausgasemissionen – und der daraus resultierenden Ansamlung von Treibhausgasen in der Atmosphäre – und den unterschiedlichen Phänomenen des Klimawandels. Dies ist eine Sache wissenschaftlicher Erkenntnisse [...]. Die zweite bezieht sich auf die Verbindung zwischen den verschiedenen nachteiligen Wirkungen der Folgen des Klimawandels und den Risiken solcher Auswirkungen für den derzeitigen und künftigen Genuss der Menschenrechte. Allgemein formuliert geht es hier um die rechtliche Frage, wie der Umfang des Schutzes der Menschenrechte im Hinblick auf die Auswirkungen zu verstehen ist, die sich für Menschen aus einer (drohenden) Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen ergeben. Die dritte Dimension betrifft die individuelle Verbindung zwischen einer (drohenden) Schädigung, die sich auf spezifische Personen oder Gruppen auswirkt, und den Handlungen oder Unterlassungen staatlicher Behörden, gegen die sich eine Menschenrechtsbeschwerde richtet. Die vierte bezieht sich auf die Zurechenbarkeit der Verantwortung hinsichtlich der [...] behaupteten nachteiligen Folgen des Klimawandels zu einem bestimmten Staat [...].
(426) Der GH wird diese Fragen unten in Rz 427–444 nacheinander behandeln.
Beweisfragen
(427) Eines der Schlüsselmerkmale von Klimawandel-Fällen besteht darin, dass sich das zuständige Gericht mit komplexen wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen muss. [...] In die Umwelt betreffenden Fällen hielt der GH in Fadeyeva/RU (Rz 79) folgende allgemeine Grundsätze zu Beweisstandards und zur Beweislast fest: »Im Allgemeinen wird der Standard des ›über vernünftige Zweifel erhabenen‹ Beweises angewendet. [...] Der GH lässt in dieser Hinsicht eine gewisse Flexibilität zu, wobei er die Art des auf dem Spiel stehenden materiellen Rechts und etwaige Beweisschwierigkeiten berücksichtigt. [...]«
(429) Der GH stützt sich auch auf Studien und Berichte relevanter internationaler Gremien [...]. Was den Klimawandel betrifft, weist er auf die besondere Bedeutung der vom Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change – IPCC) [...] erstellten Berichte hin. Diese Berichte bieten wissenschaftliche Leitlinien betreffend den regionalen und globalen Klimawandel, dessen Auswirkungen und künftige Risiken sowie Möglichkeiten zur Anpassung und Eindämmung.
(430) Zuletzt misst der GH bei der Feststellung des Sachverhalts den Befunden der innerstaatlichen Gerichte und anderer zuständiger Behörden besonderes Gewicht bei. [...]
Auswirkungen des Klimawandels auf den Genuss von Konventionsrechten
(431) In jüngster Zeit hat eine Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, gesellschaftlichen und politischen Haltungen sowie der rechtlichen Standards hinsichtlich der Notwendigkeit des Schutzes der Umwelt stattgefunden, die auch den Kontext des Klimawandels umfasst. Es wurde auch anerkannt, dass die Zerstörung der Umwelt ernste und potenziell irreversible nachteilige Auswirkungen auf den Genuss der Menschenrechte hat und haben kann. Dies zeigt sich in den wissenschaftlichen Feststellungen, internationalen Instrumenten und nationalen Gesetzen und Standards und wird in der innerstaatlichen und internationalen Rsp anerkannt.
(432) Die Befunde der IPCC-Berichte [...] wurden vom belangten und von den drittbeteiligten Staaten nicht [...] in Zweifel gezogen. [...]
(433) Zudem entsprechen die Feststellungen des IPCC der Haltung, die von den Staaten im Kontext ihrer internationalen Verpflichtungen zur Bewältigung des Klimawandels grundsätzlich eingenommen wird. [...]
(434) Der GH kann die oben genannten Entwicklungen und Überlegungen nicht ignorieren. Vielmehr ist daran zu erinnern, dass die EMRK ein lebendiges Instrument ist, das im Licht der aktuellen Verhältnisse und im Einklang mit den Entwicklungen des Völkerrechts ausgelegt werden muss, damit sie dem zunehmend hohen Standard entspricht, der im Bereich des Schutzes der Menschenrechte verlangt wird [...]. Ein angemessener und maßgeschneiderter Ansatz hinsichtlich der unterschiedlichen, sich im Kontext des Klimawandels ergebenden Fragen hinsichtlich der EMRK, der aus den oben in Rz 422 genannten Gründen geboten ist, muss die vorliegenden und sich laufend weiterentwickelnden wissenschaftlichen Beweise für die Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels und die Dringlichkeit der Befassung mit seinen nachteiligen Wirkungen [...] sowie die wissenschaftliche, politische und gerichtliche Anerkennung einer Verbindung zwischen den negativen Folgen des Klimawandels und dem Genuss (verschiedener Aspekte) der Menschenrechte berücksichtigen.
(435) Wie der GH bereits anerkannt hat, kann Art 8 EMRK wegen nachteiliger Auswirkungen nicht nur auf die persönliche Gesundheit, sondern auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität auf den Plan treten. Dies gilt nicht nur bei aktuellen negativen Wirkungen, sondern auch bei ausreichend schwerwiegenden Risiken solcher Auswirkungen auf Personen. [...] Art 8 EMRK kann in Umweltfällen anwendbar sein, wenn die Verschmutzung direkt vom Staat verursacht wird oder wenn sich die staatliche Verantwortlichkeit aus dem Versäumnis ergibt, die Privatwirtschaft gebührend zu regulieren. [...]
(436) [...] Der GH wird bei seiner Beurteilung der vom vorliegenden Fall aufgeworfenen Fragen [...] von folgenden Tatsachen ausgehen: es gibt ausreichend verlässliche Hinweise darauf, dass ein vom Menschen verursachter Klimawandel existiert; dieser stellt eine ernste aktuelle und zukünftige Bedrohung für den Genuss der durch die Konvention garantierten Menschenrechte dar; den Staaten ist dies bewusst und sie sind in der Lage, Maßnahmen zur effektiven Bewältigung zu ergreifen; die relevanten Risiken werden als geringer eingeschätzt, wenn der Temperaturanstieg auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau beschränkt bleibt und sofort gehandelt wird; und die derzeitigen globalen Bemühungen zur Eindämmung reichen nicht aus, um dieses Ziel zu erreichen.
Die Frage der Verursachung und die positiven Verpflichtungen im Kontext des Klimawandels
(439) [...] Die nachteiligen Auswirkungen auf und Risiken für spezifische Personen oder Gruppen, die an einem bestimmten Ort wohnen, ergeben sich aus der Summe der globalen Treibhausgasemissionen. Die von einem bestimmten Hoheitsgebiet ausgehenden Emissionen bilden nur einen Teil der Ursachen für den Schaden. Dementsprechend ist der kausale Zusammenhang zwischen den Handlungen oder Unterlassungen seitens der Behörden eines Staats und dem dort (drohenden) Schaden notwendigerweise schwächer und indirekter als bei lokalen Quellen schädlicher Verschmutzung. Aus der Perspektive der Menschenrechte beziehen sich die staatlichen Verpflichtungen im Kontext des Klimawandels zudem im Kern auf die Reduktion der Gefahren einer Schädigung von Personen. Umgekehrt bringen Versäumnisse bei der Erfüllung dieser Pflichten eine Erhöhung der Risiken mit sich, auch wenn sich die individuelle Betroffenheit von solchen Risiken nach ihrer Art, Schwere und Unmittelbarkeit aufgrund verschiedener Umstände unterscheiden wird.
Dementsprechend können Fragen der individuellen Opfereigenschaft oder des spezifischen Inhalts staatlicher Verpflichtungen nicht anhand einer strengen sine qua non-Voraussetzung entschieden werden.
(440) Folglich muss der diese Angelegenheiten betreffende Zugang weiter angepasst werden, wobei die besonderen Merkmale des Problems des Klimawandels zu berücksichtigen sind, aus dem sich eine positive Verpflichtung des Staats abhängig von einem Schwellenwert der Ernsthaftigkeit des Risikos nachteiliger Folgen für menschliches Leben, Gesundheit und Wohlergehen ergeben wird. Der GH wird diesen bei der Beurteilung der Opfereigenschaft sowie der Anwendbarkeit der einschlägigen Konventionsbestimmungen und bei der Festlegung des Inhalts der positiven Verpflichtungen der Staaten im Detail entwickeln.
Die Frage des Anteils der staatlichen Verantwortung
(442) [...] Während der Klimawandel zweifellos ein globales Phänomen ist, das von der Staatengemeinschaft auf globaler Ebene behandelt werden muss, beruht das globale Klimaregime [...] auf dem Grundsatz der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und der jeweiligen Fähigkeiten der Staaten. [...] Jeder Staat hat demnach seinen eigenen Anteil an der Verantwortung, Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels zu ergreifen. Die Ergreifung dieser Maßnahmen wird durch die eigenen Fähigkeiten des Staats bestimmt und nicht durch eine bestimmte Handlung (oder Unterlassung) eines anderen Staats. Ein belangter Staat darf sich nach Ansicht des GH seiner Verantwortung nicht entziehen, indem er auf die Verantwortung anderer Staaten verweist [...].
(444) Was schließlich das Argument des »Tropfens im Ozean« betrifft [...], hat der GH stets festgehalten, dass nicht mit Gewissheit festgestellt werden muss, dass sich eine Angelegenheit anders entwickelt hätte, wenn die Behörden anders gehandelt hätten. Der relevante Test verlangt nicht den Nachweis, dass der Schaden ohne die Handlung oder Unterlassung der Behörden nicht eingetreten wäre. Es [...] reicht zur Begründung der Verantwortlichkeit des Staats vielmehr aus, dass vernünftige Maßnahmen, die von den innerstaatlichen Behörden verabsäumt wurden, eine reale Aussicht auf eine Änderung des Ausgangs oder eine Milderung des Schadens gehabt haben könnten. [...]
Umfang der Beurteilung des GH
(446) Der GH hat sich häufig mit unterschiedlichen Umweltproblemen befasst, die sich auf die Konventionsrechte und insb Art 8 EMRK auswirkten. [...] Das entscheidende Element, das vorliegen muss, [...] ist das Bestehen einer nachteiligen Wirkung auf eine Person und nicht bloß die allgemeine Schädigung der Umwelt.
(449) Dem GH ist bewusst, dass es in einem Kontext wie dem vorliegenden schwierig sein kann, rechtliche Fragen von politischen klar zu unterscheiden [...]. [...]
(450) Dies schließt jedoch [...] nicht aus, dass der Gegenstand von an den GH herangetragenen Beschwerden, die sich auf eine staatliche Politik hinsichtlich einer Angelegenheit beziehen, [...] nicht länger lediglich eine politische [...] Angelegenheit ist, sondern eine rechtliche, die Auswirkungen auf die Auslegung und Anwendung der Konvention hat. In solchen Fällen behält der GH seine Zuständigkeit, wenn auch mit erheblichem Respekt vor dem innerstaatlichen Entscheidungsträger und den Maßnahmen, die sich aus dem demokratische Prozess bzw der Überprüfung durch die innerstaatlichen Gerichte ergeben. [...]
(451) Aus den obigen Überlegungen folgt, dass die Zuständigkeit des GH im Kontext von Klimaklagen nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein kann. [...]
Relevante Grundsätze der Auslegung der EMRK
(453) [...] Nach Ansicht der belangten Regierung [...] dürfen die Grundsätze der harmonischen und evolutiven Interpretation der Konvention nicht dazu verwendet werden, diese zu einem Mechanismus der internationalen gerichtlichen Durchsetzung im Bereich des Klimawandels zu erklären und die in ihr enthaltenen Rechte in Rechte zur Bekämpfung des Klimawandels umzuwandeln.
(454) Der GH bekräftigt, dass er nur dafür zuständig ist, die Einhaltung der EMRK sicherzustellen. [...] Ihm kommt keine Autorität dafür zu, die Befolgung anderer internationaler Verträge [...] zu gewährleisten. [...]
(455) Dennoch kann und muss die Auslegung und Anwendung der Konventionsrechte sowohl durch faktische Entwicklungen betreffend den Genuss der fraglichen Rechte als auch durch einschlägige rechtliche Instrumente [...] beeinflusst werden. [...] Die EMRK ist soweit wie möglich in Einklang mit anderen völkerrechtlichen Regeln auszulegen. [...]
(456) Der GH kann die zwingenden wissenschaftlichen Beweise und den wachsenden internationalen Konsens betreffend die kritischen Auswirkungen des Klimawandels auf den Genuss der Menschenrechte nicht außer Acht lassen. Diese Überlegung gilt insb für den Konsens, der sich aus den völkerrechtlichen Mechanismen ergibt, denen die Mitgliedstaaten freiwillig beigetreten sind, und den damit verbundenen Anforderungen und Verpflichtungen, die sie etwa mit dem Pariser Abkommen eingegangen sind. [...]
(457) Zugleich muss sich der GH seiner subsidiären Rolle und der Notwendigkeit bewusst sein, den Vertragsstaaten einen Ermessensspielraum bei der Umsetzung von Strategien und Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels einzuräumen und den vorherrschenden Verfassungsgrundsätzen, wie jenem der Gewaltenteilung, den gebührenden Respekt zu zollen.
Zulässigkeit
Opfereigenschaft/Parteifähigkeit (Vertretung)
(459) Aus Gründen der methodischen Klarheit und weil die Frage der Opfereigenschaft eine der zentralen Angelegenheiten der Klimawandel-Fälle ist, erachtet es der GH als geboten, an dieser Stelle die allgemeinen Grundsätze zur Opfereigenschaft gesondert darzulegen. Ob den Bf im vorliegenden Fall Opfereigenschaft zukommt, wird er jedoch angesichts des engen Zusammenhangs zwischen dem Opferstatus und der Anwendbarkeit der einschlägigen Konventionsbestimmungen zusammen mit der Beurteilung der Anwendbarkeit von Art 2 und Art 8 EMRK prüfen.
Allgemeine Grundsätze
(463) Der Begriff »Opfer« in Art 34 EMRK beschreibt die folgenden Personenkategorien: [...] direkte Opfer, [...] indirekte Opfer und [...] potenzielle Opfer. [...] Egal ob es sich um ein direktes, indirektes oder potenzielles Opfer handelt, muss es jedenfalls eine Verbindung zwischen dem Bf und dem Schaden geben, den er in Folge der mutmaßlichen Verletzung erlitten zu haben behauptet.
(464) [...] Die Opfereigenschaft muss von der Frage der Parteifähigkeit (locus standi) unterschieden werden, die sich auf die Vertretung [...] vor dem GH bezieht. [...]
(469) In der Rsp können zwei Arten von potenziellen Opfern ausgemacht werden. Der erste Typ betrifft Personen, die behaupten, aktuell von einer bestimmten allgemeinen Maßnahme der Gesetzgebung betroffen zu sein. [...]
(470) Der zweite Typ betrifft Personen, die vorbringen, an einem künftigen Zeitpunkt betroffen sein zu können. Der GH hat klargestellt, dass die Ausübung des Individualbeschwerderechts nicht dazu dienen kann, eine potenzielle künftige Verletzung zu verhindern und er theoretisch eine Verletzung nur im Nachhinein prüfen kann, nachdem sie eingetreten ist. [...]
(472) In Umweltfällen wurde es vom GH nicht als ausreichend angesehen, wenn sich ein Bf über allgemeine Schädigungen der Umwelt beschwert. [...]
(473) Nach der Rsp kann eine Vereinigung eine behauptete Verletzung von Art 8 EMRK grundsätzlich nicht auf Überlegungen der Gesundheit stützen. [...]
(475) Auch wenn der GH einer Vereinigung normalerweise keine Opfereigenschaft zuspricht, wenn keine sie direkt betreffende Maßnahme vorliegt, [...] kann es doch »besondere Überlegungen« geben, wenn eine Vereinigung Personen vertritt [...].
Opfereigenschaft von Einzelpersonen im Kontext des Klimawandels
(478) [...] Es gibt überzeugende wissenschaftliche Beweise dafür, dass der Klimawandel bereits zu einer Erhöhung der Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit beigetragen hat, insb unter verletzlicheren Gruppen [...] und dass er droht, unumkehrbar und katastrophal zu werden, wenn die Staaten nicht entschieden handeln. Zugleich haben die Staaten [...] die nachteiligen Folgen des Klimawandels anerkannt und sich [...] verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung (durch Reduktion der Treibhausgasemissionen) und zur Anpassung [...] zu ergreifen. Diese Überlegungen deuten auf einen rechtlich relevanten Kausalzusammenhang hin zwischen staatlichen Handlungen oder Unterlassungen (die den Klimawandel verursachen oder es verabsäumen, ihm zu begegnen) und dem Schaden, der Einzelne trifft (siehe oben Rz 436).
(479) Aufgrund der Natur des Klimawandels und seiner vielfältigen negativen Folgen und künftigen Risiken ist die Zahl der in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmaß betroffenen Personen unbegrenzt. Die Lösung der Klimakrise verlangt eine Reihe umfassender und komplexer Transformationsstrategien [...]. Die kritischen Probleme erwachsen aus fehlenden oder unzureichenden Handlungen, also mit anderen Worten aus Unterlassungen. Die Defizite sind im Wesentlichen auf der Ebene des gesetzlichen und regulatorischen Rahmens angesiedelt. Der Bedarf nach einem besonderen Ansatz zur Opfereigenschaft und ihrer Eingrenzung ergibt sich in diesem Kontext somit aus der Tatsache, dass sich Beschwerden auf Handlungen oder Unterlassungen im Hinblick auf generelle Maßnahmen unterschiedlicher Art beziehen können, deren Folgen sich nicht auf bestimmte, identifizierbare Personen oder Gruppen beschränken, sondern die Bevölkerung umfassender betreffen. Der Ausgang rechtlicher Verfahren in diesem Kontext wird unweigerlich über die Rechte und Interessen einer bestimmten Person oder Gruppe hinausgehen und hinsichtlich der zur Gewährleistung einer wirksamen Eindämmung der negativen Folgen des Klimawandels oder der Anpassung daran gebotenen Maßnahmen zukunftsbezogen sein.
(481) Im vorliegenden Fall stellt sich für den GH die Frage, wie und in welchem Umfang Behauptungen eines im Zusammenhang mit auf den Klimawandel bezogenen Handlungen bzw Unterlassungen des Staats stehenden Schadens, der die Konventionsrechte Einzelner (wie das Recht auf Leben [...] oder auf Achtung des Privat- und Familienlebens [...]) betrifft, geprüft werden können, ohne den Ausschluss einer actio popularis im Konventionssystem zu untergraben und ohne die Natur der gerichtlichen Funktion des GH zu missachten, die per definitionem reaktiv ist und nicht proaktiv.
(482) Der GH [...] hat bereits die Notwendigkeit anerkannt, die Opfereigenschaft evolutiv auszulegen [...].
(483) Die Rsp des GH zur Opfereigenschaft beruht auf dem Bestehen einer direkten Wirkung der umstrittenen Handlung oder Unterlassung auf den Bf oder auf einem realen Risiko einer solchen Wirkung. Im Kontext des Klimawandels kann jedoch jeder in der einen oder anderen Weise [...] direkt betroffen oder einer realen Gefahr ausgesetzt sein [...]. [...] Es wäre mit dem Ausschluss der actio popularis [...] und dem effektiven Funktionieren des Individualbeschwerderechts kaum zu vereinbaren, das Bestehen der Opfereigenschaft im Klimawandel-Kontext ohne ausreichende und sorgfältige Bedingungen zu akzeptieren.
(484) Den Kreis der »Opfer« innerhalb der Gesamtbevölkerung [...] der Mitgliedstaaten, die aktuell oder potenziell betroffen ist, weit und großzügig zu ziehen, würde die Gefahr mit sich bringen, durch die Öffnung eines breiten Zugangs zur rechtsprechenden Gewalt als Mittel zur Herbeiführung von Veränderungen in der allgemeinen Klimapolitik nationale Verfassungsgrundsätze und die Gewaltenteilung zu durchbrechen. Wenn andererseits der Kreis zu eng und restriktiv gezogen wird, besteht die Gefahr, dass selbst offensichtliche Defizite und Funktionsstörungen im Regierungshandeln oder im parlamentarischen Prozess, die sich auf die Konventionsrechte Einzelner [...] auswirken, [...] nicht an den GH herangetragen werden können. [...] Die Notwendigkeit, einerseits einen effektiven Schutz der Konventionsrechte zu gewährleisten und andererseits sicherzustellen, dass die Voraussetzungen für die Opfereigenschaft nicht in eine de facto-Zulassung einer actio popularis abgleiten, ist im vorliegenden Kontext besonders akut.
(485) [...] Obwohl das Fehlen staatlicher Maßnahmen [...] gegen den Klimawandel eine Situation mit allgemeinen Wirkungen betrifft, erachtet der GH seine Rsp zu »potenziellen« Opfern, wonach eine »Kategorie von Personen« den Opferstatus beanspruchen kann, wenn sie »ein legitimes persönliches Interesse« an der Beendigung der Situation hat, hier nicht als anwendbar. Dies würde im Kontext des Klimawandels praktisch jedermann umfassen und daher als Abgrenzungskriterium nicht funktionieren. [...]
(486) Angesichts der besonderen Merkmale des Klimawandels wird der GH daher bei der Festlegung der Voraussetzungen für die Opfereigenschaft [...] auf unterscheidende Kriterien abstellen, wie einen besonderen Grad an Schwere und Ernsthaftigkeit der Gefahr nachteiliger Auswirkungen des Klimawandels auf die fragliche(n) Person(en), wobei er die Dringlichkeit ihres Bedürfnisses nach individuellem Schutz berücksichtigt.
(487) Zusammenfassend stellt der GH fest, dass ein Bf, um im Kontext von Beschwerden betreffend (drohende) Schäden aufgrund behaupteter Versäumnisse des Staats bei der Bekämpfung des Klimawandels die Opfereigenschaft [...] geltend zu machen, nachweisen muss, dass er persönlich und direkt durch die behaupteten Versäumnisse betroffen ist. Dies verlangt vom GH die – anhand der oben in Rz 427–430 dargelegten Beweisgrundsätze zu treffende – Feststellung der folgenden Umstände hinsichtlich der Situation des Bf:
(a) Der Bf muss in hohem Maße den negativen Auswirkungen des Klimawandels ausgesetzt sein, dh das Ausmaß und die Schwere der (drohenden) den Bf betreffenden negativen Folgen staatlicher Handlungen oder Untätigkeit müssen erheblich sein; und
(b) es muss ein dringendes Bedürfnis danach bestehen, den individuellen Schutz des Bf zu gewährleisten, das sich aus dem Fehlen oder der Mangelhaftigkeit etwaiger Maßnahmen zur Schadensminderung ergibt.
(488) Die Schwelle zur Erfüllung dieser Kriterien ist besonders hoch. Angesichts des Ausschlusses einer actio popularis nach der EMRK [...] hängt die Frage, ob ein Bf diese Schwelle erreicht, von einer sorgfältigen Prüfung der konkreten Umstände des Einzelfalls ab. Dabei wird der GH Umstände wie die lokalen Verhältnisse und individuellen Eigenschaften und Verletzlichkeiten gebührend berücksichtigen. Seine Beurteilung wird auch folgende Überlegungen einschließen, ohne sich darauf beschränken zu müssen: Natur und Umfang der Beschwerde, Aktualität bzw Ferne sowie Wahrscheinlichkeit der negativen Wirkungen [...], spezifische Auswirkungen auf Leben, Gesundheit oder Wohlbefinden des Bf, Umfang und Dauer der negativen Wirkungen, Umfang des Risikos (örtlich oder allgemein) und die Art der Verletzlichkeit des Bf.
Parteifähigkeit von Vereinigungen
(489) [...] In modernen Gesellschaften, in denen Bürger mit besonders komplexen Verwaltungsentscheidungen konfrontiert sind, stellt der Rückgriff auf [...] Vereinigungen eines der für sie verfügbaren [...] Mittel dar, um ihre Einzelinteressen kollektiv zu verteidigen. Dies gilt in besonderem Maße im Kontext des Klimawandels [...]. [...]
(490) Soweit es um Umweltangelegenheiten geht, spiegeln sich diese allgemeinen Überlegungen [...] in internationalen Instrumenten wie der Aarhus-Konvention wider. (Anm: Übereinkommen von Aarhus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, BGBl III 88/2005.) [...]
(491) Die Aarhus-Konvention betont die Wichtigkeit der Rolle, die NGOs im Kontext des Umweltschutzes spielen. Sie sieht die Notwendigkeit vor, den umfassenden Zugang von NGOs zur Gerichtsbarkeit in Umweltangelegenheiten zu gewährleisten. [...]
(492) Wie der GH zur Kenntnis nimmt, hat die EU eine Reihe rechtlicher Instrumente zur Umsetzung der Aarhus-Konvention entwickelt. [...]
(494) [...] Eine vom GH [...] durchgeführte rechtsvergleichende Erhebung zeigte, dass die Aarhus-Konvention durch beinahe alle Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert wurde und Vereinigungen, die gewisse Kriterien erfüllen [...], im Allgemeinen die Befugnis eingeräumt wurde, Gerichtsverfahren anzustrengen, um das Interesse am Umweltschutz bzw Interessen von Privatpersonen geltend zu machen, die von spezifischen Umweltgefahren oder industriellen Aktivitäten betroffen sein können. Während die Parteifähigkeit von Vereinigungen im Kontext von Klimaklagen – die von der Aarhus-Konvention nicht erfasst sind – eine noch in Entwicklung begriffene Angelegenheit ist, scheint es in den meisten Mitgliedstaaten zumindest eine theoretische Möglichkeit für Umweltorganisationen zu geben, Klimaklagen zu erheben [...].
(495) Angesichts der obigen Überlegungen legt der GH zur Herausarbeitung eines Ansatzes für die Behandlung der vorliegenden Rechtssache, in der die bf Vereinigung ebenfalls die Opfereigenschaft geltend macht, einige Schlüsselkriterien fest, die ihn bei dieser Entscheidung leiten müssen.
(496) Erstens muss eine Unterscheidung getroffen und aufrechterhalten werden zwischen der Opfereigenschaft von Einzelpersonen und der Parteifähigkeit von Vertretern, die im Namen von Personen handeln, deren Konventionsrechte mutmaßlich verletzt wurden. [...] Eine Vereinigung kann sich nicht auf Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Belästigungen und Probleme im Zusammenhang mit dem Klimawandel berufen, die nur von natürlichen Personen erlitten werden können. [...]
(497) Zweitens hat in der heutigen Gesellschaft eine Weiterentwicklung hinsichtlich der Anerkennung der Bedeutung von Vereinigungen für die Prozessführung im Namen betroffener Personen bezüglich des Klimawandels stattgefunden. Klimaklagen werfen oft komplexe Sach- und Rechtsfragen auf und erfordern erhebliche finanzielle und logistische Ressourcen [...].
(498) Die spezifischen Überlegungen hinsichtlich des Klimawandels sprechen für die Anerkennung der Möglichkeit von Vereinigungen, unter bestimmten Voraussetzungen vor dem GH als Vertreter jener Personen parteifähig zu sein, deren Rechte den Behauptungen nach betroffen sind oder sein werden. Wie der GH [in früheren Urteilen] festgestellt hat, kann eine Vereinigung vor dem GH parteifähig sein, auch wenn sie selbst nicht behaupten kann, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein.
(499) Überdies sprechen die besonderen Merkmale des Klimawandels als gemeinsames Anliegen der Menschheit und die Notwendigkeit, die intergenerationelle Lastenteilung zu fördern [...], für die Anerkennung der Parteifähigkeit von Vereinigungen in Klimafällen vor dem GH. [...]
(500) Allerdings verlangt es der Ausschluss einer actio popularis nach der EMRK – ähnlich wie hinsichtlich der Opfereigenschaft natürlicher Personen (siehe oben Rz 483) –, die Möglichkeit der Erhebung von Beschwerden an den GH durch Vereinigungen gewissen Voraussetzungen zu unterwerfen. Das Konventionssystem kann klarerweise keine abstrakte Beschwerde über eine allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen von Menschen ohne Bezug auf ihre Auswirkungen auf eine bestimmte Person oder Personengruppe akzeptieren.
(501) Bei der Entwicklung des Tests für die Parteifähigkeit von Vereinigungen in den Klimawandel betreffenden Rechtssachen vor dem GH erachtet er es als sachdienlich, die Aarhus-Konvention zu beachten [...]. Er darf allerdings die Unterschiede zwischen Zweck und Ziel der Aarhus-Konvention [...] und der EMRK [...] nicht außer Acht lassen und muss auch die besonderen Merkmale von auf den Klimawandel bezogener Prozessführung und den lineareren und örtlich begrenzteren (traditionellen) Umweltangelegenheiten bedenken, auf deren Behandlung die Aarhus-Konvention abstellt. [...]
(502) Unter Berücksichtigung der obenstehenden Überlegungen werden die folgenden Faktoren darüber entscheiden, ob einer Vereinigung im gegenständlichen Kontext vor dem GH Parteifähigkeit zukommt.
Damit einer Vereinigung gemäß Art 34 EMRK die Legitimation zur Erhebung einer Beschwerde wegen des angeblichen Versäumnisses eines Mitgliedstaats, angemessene Maßnahmen zum Schutz von Personen vor den negativen Folgen des Klimawandels [...] zu ergreifen, zuerkannt wird, muss die Vereinigung: (a) im betroffenen Staat rechtlich bestehen oder dort handlungsbefugt sein; (b) nachweisen können, dass sie gemäß ihren Statuten einen bestimmten Zweck verfolgt, der in der Verteidigung der Menschenrechte ihrer Mitglieder oder anderer betroffener Personen im fraglichen Staat besteht und kollektives Handeln für den Schutz dieser Rechte vor sich aus dem Klimawandel ergebenden Bedrohungen einschließt oder sich darauf beschränkt; und (c) nachweisen können, dass sie als wirklich qualifiziert und repräsentativ angesehen werden kann, um im Namen ihrer Mitglieder oder anderer betroffener Personen zu handeln [...].
In diesem Zusammenhang wird der GH Faktoren wie den Gründungszweck der Organisation, ihre Gemeinnützigkeit, Art und Umfang ihrer Aktivitäten im betroffenen Staat, Mitgliedschaft und repräsentativen Charakter, Grundsätze und Transparenz ihrer Verwaltung berücksichtigen sowie die Frage, ob es unter den besonderen Umständen des Falls insgesamt im Interesse der geordneten Rechtspflege liegt, eine solche Beschwerdelegitimation zu gewähren.
[...] Die Legitimation einer Vereinigung, im Namen ihrer Mitglieder oder anderer betroffener Personen [...] zu handeln, hängt nicht vom gesonderten Nachweis ab, dass jene, in deren Namen die Beschwerde erhoben wurde, selbst die Voraussetzungen der Opfereigenschaft [...] erfüllt hätten.
(503) Im Fall bestehender Einschränkungen bezüglich der Parteifähigkeit vor den innerstaatlichen Gerichten von Vereinigungen, die den oben genannten Bedingungen entsprechen, kann der GH im Interesse der geordneten Rechtspflege auch berücksichtigen, ob und in welchem Ausmaß ihre Mitglieder oder andere betroffene Personen im selben oder einem ähnlichen innerstaatlichen Verfahren Zugang zu einem Gericht gehabt haben könnten.
Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall
(505) Unter Berücksichtigung des oben in Rz 459 dargelegten Ansatzes wird der GH die Frage der Opfereigenschaft der Bf Nr 2–5 und die Parteifähigkeit der bf Vereinigung im Kontext seiner Beurteilung der Anwendbarkeit von Art 2 und Art 8 EMRK prüfen (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Eicke).
Anwendbarkeit der relevanten Koventionsbestimmungen
(506) [...] Die Frage der Anwendbarkeit [...] kann entweder gesondert als Angelegenheit der Zulässigkeit geprüft werden oder im Kontext der Behandlung der Beschwerde in der Sache. Im Sinne der methodischen Klarheit wird der GH die allgemeinen Grundsätze zur Anwendbarkeit gesondert ausführen.
Allgemeine Grundsätze zu Art 2 EMRK
(508) Durch die vorliegende Rsp zu [...] Umweltbeeinträchtigungen zieht sich ein roter Faden, wonach eine positive Verpflichtung des Staats nur dann entstehen kann, wenn es um eine Bedrohung des Rechts auf Leben geht. [...]
(509) [...] Beschwerden über angebliche Versäumnisse des Staats, den Klimawandel zu bekämpfen, fallen am ehesten in die Kategorie von Rechtssachen, die Aktivitäten betreffen, die schon ihrer Art nach geeignet sind, das Leben einer Person zu gefährden. Tatsächlich verwiesen die Bf [...] auf zwingende wissenschaftliche Beweise für eine Verbindung zwischen dem Klimawandel und einem steigenden Sterblichkeitsrisiko, insb bei verletzlichen Gruppen. Die Relevanz und Zuverlässigkeit dieser Beweise wird [...] durch nichts in Frage gestellt.
(511) Art 2 EMRK kann allerdings nicht in abstracto anwendbar sein, um die Bevölkerung vor jeder Art von Umweltbeeinträchtigung zu schützen, die sich aus dem Klimawandel ergibt. Nach der stRsp [...] hängt die Anwendbarkeit von Art 2 im Kontext einer ihrer Art nach für das Leben einer Person gefährlichen Aktivität vom Bestehen einer »realen und unmittelbaren« Lebensgefahr ab. Dies kann sich folglich auf Beschwerden über staatliches Handeln bzw Unterlassen im Hinblick auf den Klimawandel erstrecken, insb unter Umständen wie jenen des vorliegenden Falls, hat doch der IPCC mit hoher Verlässlichkeit festgestellt, dass ältere Erwachsene dem »höchsten Risiko« von hitzebedingten Erkrankungen und Todesfällen ausgesetzt sind.
(512) Es mag unmöglich sein, eine allgemeine Regel dafür zu entwickeln, was eine »reale und unmittelbare« Lebensgefahr darstellt, da dies von der Einschätzung der besonderen Umstände des Einzelfalls abhängt. Die Rsp [...] zeigt jedoch, dass der Begriff »real« der Anforderung des Bestehens einer ernsten, schweren und ausreichend bestimmbaren Bedrohung für das Leben entspricht. Die »Unmittelbarkeit« einer solchen Gefahr umfasst ein Element der physischen und zeitlichen Nähe der Bedrohung [...].
(513) Zusammengefasst muss für die Anwendbarkeit von Art 2 EMRK auf Beschwerden über staatliches Handeln oder Unterlassen im Kontext des Klimawandels festgestellt werden, dass eine »reale und unmittelbare« Lebensgefahr besteht. Eine solche Lebensgefahr muss im Kontext des Klimawandels allerdings im Licht der Tatsache verstanden werden, dass es ein schwerwiegendes Risiko der Unabwendbarkeit und Unumkehrbarkeit der nachteiligen Folgen des Klimawandels gibt, die höchstwahrscheinlich häufiger und schwerer auftreten werden. Daher kann der Test der »realen und unmittelbaren« Bedrohung als Verweis auf eine schwerwiegende, echte und ausreichend bestimmbare Lebensgefahr verstanden werden, der ein Element der materiellen und zeitlichen Nähe der Bedrohung zu dem vom Bf behaupteten Schaden einschließt. Dies bedeutet auch, dass im Fall der Feststellung der Opfereigenschaft eines Bf anhand der oben in Rz 487–488 dargelegten Kriterien angenommen werden kann, dass eine schwerwiegende Gefahr einer erheblichen Herabsetzung der Lebenserwartung aufgrund des Klimawandels auch die Anwendbarkeit von Art 2 EMRK nach sich ziehen könnte.
Allgemeine Grundsätze zu Art 8 EMRK
(514) Um in den Anwendungsbereich von Art 8 EMRK zu fallen, müssen Beschwerden über Umweltbeeinträchtigungen nach der bestehenden Rsp nachweisen, dass erstens ein »tatsächlicher Eingriff« in den Genuss des Privat- oder Familienlebens oder der Wohnung stattgefunden hat, und dass zweitens ein gewisser Schweregrad erreicht wurde. [...]
(515) Die Frage des »tatsächlichen Eingriffs« bezieht sich in der Praxis auf das Bestehen einer direkten und unmittelbaren Verbindung zwischen der behaupteten Umweltschädigung und dem Privat- oder Familienleben oder der Wohnung des Einzelnen. Die allgemeine Zerstörung der Umwelt reicht [...] nicht aus. Es muss eine nachteilige Wirkung auf den privaten oder familiären Bereich des Einzelnen geben [...].
(517) [...] Eine vertretbare Behauptung [einer Verletzung] von Art 8 EMRK wird nicht vorliegen, wenn der geltend gemachte Nachteil im Vergleich zu den mit dem Leben in jeder modernen Stadt einhergehenden Umweltrisiken vernachlässigbar ist. [...]
(518) [...] In manchen Fällen kann es für die Anwendbarkeit von Art 8 EMRK auch ausreichen, dass eine Person einem schwerwiegenden Umweltrisiko ausgesetzt wird. [...]
(519) [...] Angesichts des kausalen Zusammenhangs zwischen den staatlichen Handlungen und Unterlassungen betreffend den Klimawandel und dem (drohenden) Schaden, von dem Personen betroffen sind (siehe oben Rz 435, 436 und 478), muss Art 8 EMRK so verstanden werden, dass er ein Recht des Einzelnen auf effektiven Schutz durch die staatlichen Behörden vor schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf sein Leben, seine Gesundheit, sein Wohlergehen und seine Lebensqualität umfasst.
(520) Die Frage des »tatsächlichen Eingriffs« oder des Bestehens einer relevanten und ausreichend schwerwiegenden Gefahr, aus der sich die Anwendbarkeit von Art 8 EMRK ergibt, hängt in diesem Kontext allerdings von der Beurteilung ähnlicher Kriterien wie jenen ab, die oben in Rz 487–488 betreffend die Opfereigenschaft [...] oder in Rz 502 zur Parteifähigkeit von Vereinigungen dargelegt wurden. Diese Kriterien sind somit entscheidend für die Feststellung, ob durch Art 8 EMRK geschützte Rechte auf dem Spiel stehen und ob diese Bestimmung anwendbar ist. Diese Angelegenheiten müssen stets anhand der Umstände des Einzelfalls und der verfügbaren Beweise beurteilt werden.
Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall
(521) Im Hinblick auf die oben in Rz 502 genannten Kriterien stellt der GH fest, dass die bf Vereinigung gemäß ihren Statuten ein nach schweizerischem Recht errichteter gemeinnütziger Verein ist, der im Namen seiner Mitglieder effektiven Klimaschutz fördert und umsetzt. Er hat mehr als 2.000 weibliche Mitglieder, die in der Schweiz leben und deren Durchschnittsalter 73 Jahre beträgt. Beinahe 650 Mitglieder sind mindestens 75 Jahre alt. Der bf Verein [...] handelt nicht nur im Interesse seiner Mitglieder, sondern auch im Interesse der allgemeinen Öffentlichkeit und künftiger Generationen [...]. Er verfolgt sein Ziel durch verschiedene Aktivitäten, einschließlich solcher rechtlicher Art [...].
(522) BVGer und Bundesgericht [...] erachteten es nicht als notwendig, auf die Beschwerdelegitimation des bf Vereins einzugehen. [...]
(523) [...] Angesichts seiner Mitgliederbasis und seines repräsentativen Charakters sowie des Zwecks seiner Gründung akzeptiert der GH, dass der bf Verein ein kollektives Instrument zur Verteidigung der Rechte und Interessen von Einzelnen gegen Gefahren des Klimawandels im belangten Staat darstellt. Weiters stellt der GH fest, dass die einzelnen Bf im belangten Staat keinen Zugang zu einem Gericht hatten. Insgesamt betrachtet liegt daher die Gewährung der Beschwerdelegitimation vor dem GH für den bf Verein im Interesse der geordneten Rechtspflege.
(524) In Anbetracht der obigen Überlegungen stellt der GH fest, dass der bf Verein rechtmäßig gegründet wurde, nachgewiesen hat, einen bestimmten Zweck zu verfolgen, der [...] im Schutz der Menschenrechte seiner Mitglieder und anderer Betroffener vor den Bedrohungen des Klimawandels im belangten Staat besteht, und dass er wirklich qualifiziert und repräsentativ ist, um im Namen jener Personen zu handeln, die vertretbarerweise behaupten können, spezifischen Bedrohungen oder negativen Folgen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlergehen oder ihre Lebensqualität [...] ausgesetzt zu sein.
(525) Unter diesen Umständen fallen die vom bf Verein im Namen seiner Mitglieder verfolgten Beschwerden [...] in den Anwendungsbereich von Art 8 EMRK.
(526) Folglich hat der bf Verein im vorliegenden Verfahren die erforderliche Parteifähigkeit und Art 8 EMRK ist auf seine Beschwerde anwendbar. Die Einreden der Regierung sind daher zu verwerfen (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Eicke).
(531) Während [...] die Bf [Nr 2–5] ohne Zweifel einer Gruppe angehören, die besonders anfällig für die Auswirkungen des Klimawandels ist, reicht dies für sich nicht aus, um ihnen nach den oben in Rz 487–488 dargelegten Kriterien die Opfereigenschaft einzuräumen. Es muss in jedem einzelnen Fall festgestellt werden, dass die Voraussetzung eines besonderen Grads und einer besonderen Schwere der nachteiligen Auswirkungen auf die Bf erfüllt ist [...].
(533) Während anerkannt werden kann, dass die Lebensqualität der Bf durch Hitzewellen beeinträchtigt wurde, geht aus dem vorliegenden Material nicht hervor, dass sie den negativen Wirkungen des Klimawandels in einer Intensität ausgesetzt waren, oder Gefahr laufen, diesen irgendwann in der Zukunft ausgesetzt zu sein, die ein dringendes Bedürfnis nach Gewährleistung ihres individuellen Schutzes begründet [...]. [...] Die Bf litten an keinen kritischen gesundheitlichen Problemen, deren mögliche Verschlechterung durch Hitzewellen nicht durch die in der Schweiz verfügbaren Anpassungsmaßnahmen oder durch eine zumutbare persönliche Anpassung gemildert werden könnte [...]. [...]
(535) Aus den obigen Überlegungen folgt, dass die Bf Nr 2–5 die Kriterien der Opfereigenschaft gemäß Art 34 EMRK nicht erfüllen. Dies reicht für den GH für die Schlussfolgerung aus, dass ihre Beschwerden ratione personae unvereinbar mit der Konvention [...] sind.
(536) [...] Der GH erachtet es [...] nicht als notwendig, die sich auf die Schwelle der Anwendbarkeit von Art 2 EMRK beziehenden Angelegenheiten näher zu prüfen (einstimmig). [...] Die Beschwerden der Bf Nr 2–5 unter Art 2 EMRK sind wegen Unvereinbarkeit mit der den Bestimmungen der Konvention ratione personae [...] für unzulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
Zu den positiven Verpflichtungen des Staats im Kontext des Klimawandels
Zum Ermessensspielraum der Staaten
(542) In Anbetracht insb der wissenschaftlichen Beweise für die Auswirkungen des Klimawandels auf Konventionsrechte und unter Berücksichtigung der [...] Dringlichkeit der Bekämpfung seiner negativen Folgen sowie deren Schwere einschließlich des Risikos der Irreversibilität [...] erachtet es der GH als gerechtfertigt davon auszugehen, dass dem Klimaschutz bei der Abwägung gegen mögliche widerstreitenden Interessen erhebliches Gewicht zukommen sollte. [...]
(543) Vom Grundsatz ausgehend, dass die Staaten in diesem Bereich einen gewissen Ermessensspielraum genießen müssen, bringen die obigen Überlegungen eine Unterscheidung mit sich zwischen einerseits dem Bekenntnis des Staats zur Notwendigkeit, den Klimawandel und seine negativen Folgen zu bekämpfen sowie die entsprechenden Ziele zu definieren, und andererseits der Wahl der zu deren Verwirklichung gedachten Mittel. Was den ersten Aspekt betrifft, sprechen die Art und Schwere der Bedrohung und der allgemeine Konsens darüber, was [...] auf dem Spiel steht, für einen eingeschränkten Ermessensspielraum der Staaten. Was den zweiten Aspekt betrifft, nämlich ihre Wahl der Mittel [...], ist den Staaten ein weiter Spielraum zu gewähren.
Inhalt der positiven Verpflichtungen der Staaten
(545) [...] Die primäre Pflicht des Staats besteht darin, Regulierungen und Maßnahmen zu beschließen und in der Praxis effektiv anzuwenden, die geeignet sind, die bestehenden und potenziell irreversiblen künftigen Folgen des Klimawandels einzudämmen. Diese Verpflichtung erwächst aus dem kausalen Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und dem Genuss von Konventionsrechten sowie der Tatsache, dass die EMRK [...] so ausgelegt und angewendet werden muss, dass ihre Rechte praktisch und effektiv sind [...].
(546) Entsprechend den von den Mitgliedstaaten eingegangenen internationalen Verpflichtungen, insb nach dem [...] Pariser Abkommen, und den zwingenden wissenschaftlichen Beweisen, die vor allem vom IPCC vorgelegt wurden, müssen die Mitgliedstaaten die notwendigen Regulierungen und Maßnahmen vorsehen, die darauf abzielen, eine Erhöhung der Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre und einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur über jenes Maß zu vermeiden, das schwere und irreversible negative Folgen für die Menschenrechte hätte, insb das Recht auf Privat- und Familienleben und Wohnung nach Art 8 EMRK.
(547) [...] Die [im Pariser Abkommen formulierten] Ziele können für sich alleine kein ausreichendes Kriterium für die Beurteilung der Einhaltung der EMRK durch einzelne Vertragsstaaten sein. Denn jeder einzelne Staat ist aufgefordert, seinen eigenen angemessenen Weg zur CO2-Neutralität festzulegen [...].
(548) Aus den obigen Überlegungen folgt, dass eine effektive Achtung der durch Art 8 EMRK geschützten Rechte von jedem einzelnen Mitgliedstaat Maßnahmen für eine erhebliche und fortschreitende Reduktion seiner jeweiligen Treibhausgasemissionen verlangt, um grundsätzlich in den nächsten drei Jahrzehnten Klimaneutralität zu erreichen. Damit die Maßnahmen wirksam sind, müssen die öffentlichen Stellen rechtzeitig, angemessen und konsequent handeln.
(549) Damit dies tatsächlich erreichbar ist und eine unverhältnismäßige Belastung künftiger Generationen vermieden wird, muss sofort gehandelt werden und sind angemessene Zwischenziele für den Zeitraum bis zum Erreichen der Klimaneutralität zu setzen. Solche Maßnahmen müssen zunächst Teil eines verbindlichen Rahmens auf nationaler Ebene sein, dem eine angemessene Umsetzung folgt. [...] Der GH erachtet es [...] als angemessen, die positiven Verpflichtungen der Staaten in diesem Bereich wie folgt darzulegen.
(550) Bei der Beurteilung, ob ein Staat innerhalb seines Ermessensspielraums geblieben ist, wird der GH prüfen, ob die zuständigen nationalen Stellen – sei es auf Ebene der Legislative, der Exekutive oder der Gerichtsbarkeit – die Notwendigkeit angemessen beachtet haben,
(a) allgemeine Maßnahmen zu erlassen, die einen Fahrplan zur Erreichung der Klimaneutralität und das verbleibende Gesamt-Co2-Budget für diesen zeitlichen Rahmen oder eine andere, gleichwertige Methode zur Quantifizierung der künftigen Treibhausgasemissionen darlegen, die dem übergeordneten Ziel der nationalen bzw globalen Verpflichtungen zur Eindämmung des Klimawandels entsprechen;
(b) Zwischenziele und Fahrpläne zur Reduktion von Treibhausgasemissionen (nach Sektoren oder anderen relevanten Methoden) festzulegen, die grundsätzlich als geeignet angesehen werden, die nationalen Gesamtziele der Treibhausgas-Reduktion innerhalb der relevanten, in den nationalen Strategien festgelegten zeitlichen Rahmen zu erreichen;
(c) Beweise dafür vorzulegen, dass sie ihren Treibhausgas-Reduktionszielen gebührend entsprochen haben oder dabei sind, diesen zu entsprechen;
(d) die relevanten Treibhausgas-Reduktionsziele mit gebührender Sorgfalt und anhand der besten verfügbaren Beweise zu aktualisieren; und
(e) bei der Ausarbeitung und Umsetzung der einschlägigen Gesetze und Maßnahmen rechtzeitig, angemessen und konsequent zu handeln.
(551) Der GH wird grundsätzlich anhand einer Gesamteinschätzung prüfen, ob die obigen Anforderungen erfüllt sind. Ein Versäumnis in nur einem spezifischen Aspekt wird daher nicht zwingend dazu führen, dass der Ermessensspielraum des Staats als überschritten angesehen wird.
(552) Der effektive Schutz der Rechte von Personen vor schwerwiegenden negativen Auswirkungen auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlergehen und ihre Lebensqualität erfordert zudem, dass die oben genannten Eindämmungsmaßnahmen durch Anpassungsmaßnahmen ergänzt werden, die darauf abzielen, die schwersten oder unmittelbarsten Folgen des Klimawandels abzufedern [...]. [...]
(553) Zuletzt werden die für die Betroffenen verfügbaren prozeduralen Gewährleistungen [...] bei der Entscheidung, ob der belangte Staat seinen Ermessensspielraum überschritten hat, besonders wichtig sein. Dies gilt auch in Angelegenheiten der allgemeinen Politik, die auch die Wahl der Mittel zur Bekämpfung des Klimawandels durch Eindämmungs- und Anpassungsmaßnahmen einschließen.
(554) [...] Im Hinblick auf den staatlichen Entscheidungsfindungsprozess im Kontext des Klimawandels sind folgende Arten prozeduraler Gewährleistungen zu berücksichtigen:
(a) Die den öffentlichen Stellen vorliegenden Informationen, die für die Entwicklung und Umsetzung der relevanten Regulierungen und Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels von Bedeutung sind, müssen der Öffentlichkeit und insb jenen Personen, die von den Regulierungen und Maßnahmen oder von deren Fehlen betroffen sind, zugänglich gemacht werden. In diesem Zusammenhang müssen prozedurale Garantien verfügbar sein, die einen Zugang der Bevölkerung zu den Schlussfolgerungen der relevanten Studien sicherstellen, damit sie die Risiken, denen sie ausgesetzt ist, einschätzen kann.
(b) Es müssen Verfahren verfügbar sein, damit die Ansichten der Bevölkerung und insb die Interessen jener, die von den relevanten Regulierungen und Maßnahmen oder deren Fehlen betroffen sind oder Gefahr laufen, in der Zukunft betroffen zu sein, im Entscheidungsfindungsprozess berücksichtigt werden können.
Anwendung der Grundsätze auf den vorliegenden Fall
Vorbemerkungen
(555) Der GH wird [...] beurteilen, ob der belangte Staat seiner Pflicht nachgekommen ist, die relevanten Eindämmungsmaßnahmen zu beschließen und in der Praxis effektiv umzusetzen. Ein Versäumnis des Staats, diesem Aspekt seiner positiven Verpflichtungen nachzukommen, würde für den GH ausreichen, um [eine Verletzung von Art 8 EMRK] festzustellen, ohne dass es notwendig wäre zu prüfen, ob die begleitenden Anpassungsmaßnahmen ergriffen wurden.
(556) Angesichts der Art der vom bf Verein erhobenen Beschwerde bezüglich den gegenwärtigen und künftigen negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Rechte jener Personen, in deren Interesse er handelt, [...] kann sich die Beurteilung des GH auf die Gesamtsituation im belangten Staat und auf alle relevanten Informationen beziehen [...]. Allerdings wird sich die Einschätzung des GH angesichts des derzeit laufenden Gesetzgebungsprozesses auf die Prüfung der innerstaatlichen Rechtslage zum Zeitpunkt des Beschlusses des vorliegenden Urteils am 14.2.2024 [...] beschränken.
Die Befolgung der positiven Verpflichtungen durch den belangten Staat
(558) [...] Das derzeit geltende CO2-Gesetz (Anm: Bundesgesetz über die Reduktion der CO2-Emissionen vom 23.12.2011, AS 2012, 6989.) (in Kraft seit 2013) erforderte eine Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2020 um 20 % im Vergleich zum Niveau von 1990. [...] Allerdings stellte der Schweizerische Bundesrat [...] 2009 fest, dass damals die wissenschaftlichen Beweise bezüglich einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf plus 2–2,4 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau [...] eine Reduktion der globalen Emissionen um mindestens 50–85 % gegenüber dem Niveau von 1990 bis 2050 erforderte. Dies bedeutete, dass Industriestaaten [...] ihren Ausstoß bis 2020 um 25–40 % gegenüber dem Niveau von 1990 reduzieren mussten. [...] Die angestrebte Reduktion um 20 % bis 2020 wurde als unzureichend für die langfristige Verwirklichung dieses Ziels angesehen, was zusätzliche Anstrengungen für die Zeit nach 2020 bedeutete.
(559) Wie die Regierung anerkannte, stellten die innerstaatlichen Einschätzungen zudem fest, dass selbst das für 2020 gesetzte Ziel [...] verfehlt wurde. Insgesamt reduzierte die Schweiz zwischen 2013 und 2020 ihre Treibhausgasemissionen um rund 11 % gegenüber 1990, was die Unzulänglichkeit der bisherigen Handlungen der Behörden [...] zeigt.
(560) Im Dezember 2017 schlug der Bundesrat eine Revision des CO2-Gesetzes vor, die für 2020 bis 2030 eine Gesamtreduktion der Emissionen um 50 % vorsah [...].
(561) Die vorgeschlagene Revision wurde jedoch im Juni 2021 bei einer Volksabstimmung abgelehnt. Nach Ansicht der Regierung war dies nicht auf die Verneinung der Notwendigkeit der Bekämpfung der globalen Erwärmung [...] durch die Bevölkerung zurückzuführen, sondern eher auf eine Ablehnung der vorgeschlagenen Maßnahmen. Der GH erinnert [...] an den weiten Ermessensspielraum hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Bewältigung des Klimawandels. Jedenfalls bleibt es ungeachtet der Gestaltung des nationalen Gesetzgebungsprozesses eine Tatsache, dass nach dem Referendum eine Gesetzeslücke für den Zeitraum nach 2020 bestand. Der Staat versuchte, diese durch die am 17.12.2021 erfolgte Verabschiedung einer Teilrevision des CO2-Gesetzes zu schließen, wonach das Reduktionsziel für die Jahre 2021–2024 mit 1,5 % gegenüber 1990 festgelegt wurde [...]. Auch dies ließ den Zeitraum nach 2024 ungeregelt und damit unvereinbar mit der Notwendigkeit des Bestehens eines generellen Rahmens, mit dem die Eindämmungsmaßnahmen
des belangten Staats entsprechend einem Fahrplan zur Klimaneutralität dargelegt werden.
(562) Diese Lücken deuten auf ein Versäumnis des belangten Staats hin, seiner aus Art 8 EMRK abgeleiteten positiven Verpflichtung nachzukommen, einen regulatorischen Rahmen festzulegen, der die entsprechenden Ziele [...] definiert. [...]
(563) Es hat jedoch andere Entwicklungen und Gesetzesinitiativen auf nationaler Ebene [...] gegeben. Im Dezember 2021 übermittelte die Schweiz aktualisierte nationale Klimabeiträge (Nationally Determined Contributions – NDCs), um den im Pariser Abkommen festgelegten Zielen zu entsprechen. [...]
(564) Am 30.9.2022 wurde das Klimagesetz beschlossen. (Anm: Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit vom 30.9.2022, AS 2022, 2403.). Dieses am 18.6.2023 in einer Volksabstimmung bestätigte, aber noch nicht in Kraft getretene Gesetz sieht grundsätzlich das Erreichen des Netto-Null-Ziels bis 2050 vor, indem »die Treibhausgasemissionen so weit möglich vermindert werden«. Es sieht auch ein Zwischenziel für 2040 (Reduktion um 75 % gegenüber 1990) und für die Jahre 2031–2040 (im Durchschnitt der Jahre um mindestens 64 %) und 2041–2050 (im Durchschnitt der Jahre um mindestens 89 % gegenüber 1990) vor. Das Gesetz enthält auch Richtwerte für die Verminderung von Emissionen in den Sektoren Gebäude, Verkehr und Industrie für die Jahre 2040 und 2050.
(565) Wie der GH bemerkt, setzt das Klimagesetz die generellen Ziele fest, enthält aber keine konkreten Maßnahmen zu deren Verwirklichung. Es bleibt vielmehr dem Bundesrat überlassen, der Bundesversammlung »rechtzeitig« konkrete Maßnahmen vorzuschlagen. Außerdem hat der Beschluss konkreter Maßnahmen im CO2-Gesetz von 2011 zu erfolgen, das wie bereits oben in Rz 558–559 dargelegt in seiner derzeitigen Form nicht als ausreichender gesetzlicher Rahmen angesehen werden kann.
(566) Anzumerken ist auch, dass die Neuregelung nach dem Klimagesetz nur für die Zeit nach 2031 Zwischenziele vorsieht. Da das CO2-Gesetz von 2011 die Zwischenziele nur bis 2024 regelt, bleibt der Zeitraum zwischen 2025 und 2030 nach wie vor ungeregelt, bis ein neues Gesetz in Kraft tritt.
(567) Angesichts der Dringlichkeit des Klimawandels und des derzeitigen Fehlens eines zufriedenstellenden rechtlichen Rahmens fällt es dem GH unter diesen Umständen schwer zu akzeptieren, dass die bloße gesetzliche Verpflichtung, »rechtzeitig« konkrete Maßnahmen zu beschließen [...], die Pflicht des Staats erfüllt, einen wirksamen Schutz der seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen vor den negativen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben und ihre Gesundheit vorzusehen und praktisch umzusetzen.
(568) Während der GH den wesentlichen Fortschritt anerkennt, der vom kürzlich beschlossenen Klimagesetz zu erwarten ist, sobald es in Kraft getreten ist, muss er zu dem Schluss kommen, dass die Einführung dieses neuen Gesetzes nicht ausreicht, um Abhilfe für die festgestellten Mängel des bisher geltenden rechtlichen Rahmens zu schaffen.
(569) Der GH nimmt weiters eine vom bf Verein vorgelegte Schätzung zur Kenntnis [...], wonach die Schweiz nach ihrer derzeitigen Klimastrategie mehr Treibhausgasemissionen zulässt, als sie [...] ausstoßen dürfte.
(571) In diesem Kontext muss der GH darauf hinweisen, dass der IPCC die Bedeutung von CO2-Budgets und Strategien zur Erreichung des Netto-Null-Ziels betont hat, wofür die Berufung auf die NDCs nach dem Pariser Abkommen kein Ersatz sein kann [...]. [...]
(572) Auch wenn er anerkennt, dass die Maßnahmen und Methoden, mit denen die Details der Klimapolitik des Staats festgelegt werden, in dessen weiten Ermessensspielraum fallen, fällt es dem GH unter diesen Umständen angesichts des Fehlens irgendwelcher nationaler Maßnahmen [...] zur Quantifizierung des verbleibenden CO2-Budgets schwer anzuerkennen, dass die Schweiz ihren regulatorischen Verpflichtungen nach Art 8 EMRK (siehe oben Rz 550) nachgekommen ist.
Schlussfolgerung
(573) [...] Es gab einige problematische Lücken im Vorgehen der schweizerischen Behörden bei der Erstellung des relevanten nationalen regulatorischen Rahmens, einschließlich ihres Versäumnisses, durch ein CO2-Budget oder auf andere Weise nationale Begrenzungen der Treibhausgasemissionen festzulegen. Zudem [...] hat es der Staat in der Vergangenheit verabsäumt, seine Emissionsziele zu erreichen. Durch das Versäumnis, im Hinblick auf die Erarbeitung, Entwicklung und Umsetzung des relevanten gesetzlichen und regulatorischen Rahmens rechtzeitig, angemessen und konsequent zu handeln, überschritt der belangte Staat seinen Ermessensspielraum und verabsäumte es, [...] seinen positiven Verpflichtungen nachzukommen.
(574) Die obigen Befunde reichen für den GH aus um festzustellen, dass eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden hat (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Eicke).
Zur behaupteten Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK
(575) Die Bf brachten vor, keinen Zugang zu einem Gericht gehabt zu haben [...].
Zulässigkeit
(593) [...] Die Frage der Opfereigenschaft der Bf unter Art 6 Abs 1 EMRK wird zusammen mit der Beurteilung der Anwendbarkeit dieser Bestimmung geprüft (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Eicke).
Anwendbarkeit von Art 6 Abs 1 EMRK im Kontext des Klimawandels
(608) [...] Während Besonderheiten des Gegenstands den GH derzeit nicht dazu veranlassen, seine gefestigte Rsp zu Art 6 EMRK zu ändern, werden diese doch unvermeidlich Auswirkungen auf die Anwendung dieser Rsp sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Art 6 als auch der Beurteilung der Einhaltung der aus dieser Bestimmung erwachsenden Verpflichtungen haben.
(609) Art 6 EMRK garantiert kein Recht auf Zugang zu einem Gericht mit der Befugnis, vom Parlament verabschiedete Gesetze aufzuheben [...]. [...]
(610) Wie bereits dargelegt (siehe oben Rz 431 und 519) kann ein rechtlich relevanter Kausalzusammenhang zwischen staatlichen Handlungen bzw Unterlassungen und dem (drohenden) Schaden bestehen, von dem Einzelne betroffen sind. Wo solche Rechte nach innerstaatlichem Recht anerkannt werden, kann ein »zivilrechtlicher Anspruch« iSv Art 6 vorliegen. [...] Sofern das nationale Recht Ansprüche auf öffentliche Beteiligung und Zugang zu Informationen anerkennt [...], kann auch dies auf einen »zivilrechtlichen Anspruch« iSv Art 6 schließen lassen. [...]
(611) Die weitere Frage, ob ein wirklicher und ernsthafter Streit [...] vorliegt, muss anhand der Umstände des Einzelfalls beantwortet werden.
(612) Was schließlich die Voraussetzung betrifft, dass der Ausgang des Verfahrens für den Anspruch des Bf »unmittelbar entscheidend« sein muss, besteht [...] ein gewisser Zusammenhang [...] zu den Kriterien für die Opfereigenschaft und die Anwendbarkeit von Art 8 EMRK.
(613) Des Weiteren kann auch der Gegenstand des Verfahrens einen Einfluss darauf haben, ob der Ausgang des Verfahrens als entscheidend für den Anspruch angesehen werden kann. [...] Im Kontext von Klimaklagen kann der Gegenstand breiter sein, was dieser Frage [...] kritischere und entscheidendere Bedeutung verleiht.
(614) Zugleich können die unterschiedlichen Elemente der Analyse dieses Teils des Tests [der Anwendbarkeit] und insb der Begriff der Unmittelbarkeit des Schadens oder der Gefahr nicht angewendet werden, ohne die spezifische Natur der mit dem Klimawandel einhergehenden Gefahren zu berücksichtigen [...]. Wenn ein zukünftiger Schaden nicht bloß spekulativ ist, sondern real und höchstwahrscheinlich (oder so gut wie gewiss), kann im Fall des Fehlens angemessener [...] Handlungen die Tatsache, dass der Schaden streng genommen nicht unmittelbar bevorsteht, für sich alleine nicht die Schlussfolgerung tragen, dass der Ausgang des Verfahrens für dessen Milderung oder Reduktion nicht entscheidend ist. Ein solcher Ansatz würde den Zugang zu einem Gericht für viele der gravierendsten, mit dem Klimawandel einhergehenden Risiken ungebührlich beschränken. Dies gilt besonders für ein rechtliches Vorgehen von Vereinigungen. Im Kontext des Klimawandels müssen deren Handlungen im Licht ihrer Rolle als Mittel zur Verteidigung der Konventionsrechte der vom Klimawandel Betroffenen [...] angesehen werden [...].
Anwendung der Grundsätze auf den vorliegenden Fall
(615) [...] Das von den Bf auf innerstaatlicher Ebene angestrengte Verfahren betraf weitgehend Anträge auf legislative und regulatorische Handlungen, die nicht in den Anwendungsbereich von Art 6 Abs 1 EMRK fallen. Zum Teil bezog es sich jedoch auf die Umsetzung von Maßnahmen in der Zuständigkeit der jeweiligen Behörden, die zur Erreichung des aktuellen Reduktionsziels von 20 % und somit zur Beendigung der rechtswidrigen Unterlassungen notwendig waren. [...]
(616) Während die sich auf politische Entscheidungen [...] beziehende Beschwerde nicht in den Anwendungsbereich von Art 6 Abs 1 EMRK fällt, handelt es sich bei ihrer Beschwerde betreffend die effektive Umsetzung der Eindämmungsmaßnahmen nach geltendem Recht um eine Angelegenheit, die in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallen kann, sofern die übrigen Voraussetzungen [...] erfüllt sind.
(617) [...] Die Bf beriefen sich unter anderem auf das Recht auf Leben gemäß Art 10 der Schweizerischen Verfassung, aus dem [...] auch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit ableitbar ist. Es handelt sich dabei [...] um Rechte, die ihrer Art nach iSv [...] Art 6 »zivilrechtlicher« Natur sind.
(618) [...] Der GH kann der Ansicht des Bundesgerichts nicht zustimmen, wonach der von den individuellen Bf geltend gemachte Anspruch nicht als vertretbar iSv Art 6 Abs 1 EMRK anzusehen wäre. Zudem stellt er fest, dass die Klage des bf Vereins [...] auf der Gefahr [...] für die Gesundheit und das Wohlergehen seiner Mitglieder beruhte. Die vom Verein verteidigten Interessen waren nach Überzeugung des GH derart, dass die von ihm angestrengte »Streitigkeit« eine direkte und ausreichende Verbindung zu den betroffenen Rechten seiner Mitglieder hatte [...].
(619) Die obigen Überlegungen sind auch wichtig im Hinblick auf das zweite Kriterium für die Anwendbarkeit von Art 6 EMRK, nämlich das Vorliegen einer echten und ernsthaften Streitigkeit [...], das im gegenständlichen Fall ohne Zweifel gegeben war.
(620) Was schließlich das dritte Kriterium – die Frage, ob der Ausgang des Verfahrens »direkt entscheidend« für die Rechte der Bf war – betrifft, stellt der GH Folgendes fest.
(621) [...] Der bf Verein versuchte, die spezifischen zivilrechtlichen Ansprüche seiner Mitglieder bezüglich der negativen Folgen des Klimawandels zu verteidigen. Er handelte als Mittel, mit dem die Rechte jener verteidigt werden, die vom Klimawandel betroffen sein könnten, und mit dem diese versuchen konnten, angemessene Abhilfe gegen das Versäumnis des Staates zu erlangen, Eindämmungsmaßnahmen [...] effektiv umzusetzen [...].
(622) Der GH verweist in diesem Zusammenhang auf seine Feststellungen betreffend die Beschwerdelegitimation (siehe oben Rz 521–526) [...]. Er erinnert an die [...] besondere Bedeutung kollektiven Handelns im Kontext des Klimawandels [...]. Soweit eine Streitigkeit diese kollektive Dimension widerspiegelt, muss die Voraussetzung des »direkt entscheidenden« Ausgangs in einem weiteren Sinn des Versuchs verstanden werden, eine Form der Korrektur der Handlungen und Unterlassungen der Behörden zu erreichen [...].
(623) Art 6 Abs 1 EMRK ist daher auf die Beschwerde des bf Vereins anwendbar und diesem kommt Opfereigenschaft betreffend sein den fehlenden Zugang zu einem Gericht geltend machendes Vorbringen zu. Die sich darauf beziehende Verfahrenseinrede der Regierung wird daher verworfen (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Eicke).
(624) Im Hinblick auf die Bf Nr 2–5 kann nicht behauptet werden, das von ihnen angestrengte Verfahren [...] hätte für ihre spezifischen Rechte direkt entscheidend sein können. [...] Sie haben nicht nachgewiesen, dass die von den Behörden verlangten Handlungen – nämlich die effektive Umsetzung von Eindämmungsmaßnahmen im Rahmen des nationalen Rechts – als solche ausreichend unmittelbare und sichere Wirkungen auf ihre individuellen Rechte [...] gehabt hätten. [...] Der Ausgang der Streitigkeit war somit nicht direkt entscheidend für ihre zivilrechtlichen Ansprüche.
(625) Vor diesem Hintergrund stellt der GH fest, dass die Beschwerde der Bf Nr 2–5 ratione materiae unvereinbar mit der Konvention ist und [als unzulässig] zurückgewiesen werden muss (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Eicke).
In der Sache
(630) Das rechtliche Ansuchen des bf Vereins wurde zunächst von einer Verwaltungsbehörde, dem UVEK, und später von zwei Gerichten [...] ohne Behandlung in der Sache zurückgewiesen [...]. Es hat daher eine Beschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht stattgefunden und der GH muss prüfen, ob [...] dies eine Beeinträchtigung des Rechts in seinem Wesenskern mit sich brachte.
(631) [...] Soweit die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte darauf abzielten, [...] Popularbeschwerden zu verhindern, [...] entspricht die Wahrung der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative einem legitimen Ziel [...]. [...]
(632) Es bleibt jedoch [...] zu prüfen, ob eine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten legitimen Ziel bestand.
(633) [...] Das vom bf Verein auf innerstaatlicher Ebene angestrengte Verfahren kann als hybrid verstanden werden. In seinem Hauptteil betraf es eindeutig Angelegenheiten des demokratischen Gesetzgebungsprozesses, die nicht in den Anwendungsbereich von Art 6 Abs 1 EMRK fallen. Es bezog sich aber auch spezifisch auf behauptete Versäumnisse bei der Umsetzung des geltenden innerstaatlichen Rechts, die sich auf den Schutz der vom bf Verein verteidigten Rechte auswirkten. Einige der Vorbringen warfen damit Fragen über die Rechtmäßigkeit der umstrittenen Handlungen und Unterlassungen der Regierung auf und machten negative Auswirkungen auf das Recht auf Leben und auf den Schutz der körperlichen Integrität geltend, die insb in Art 10 der Verfassung innerstaatlich garantiert werden.
(634) In dem Umfang, in dem sie die Verteidigung dieser Rechte gegen die Bedrohungen durch die mutmaßlich [...] unzureichenden Handlungen der Behörden zur Umsetzung der relevanten, nach innerstaatlichem Recht gebotenen Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels anstrebte, kann diese Art von Eingabe nicht automatisch als actio popularis oder als eine politische Angelegenheit betreffend angesehen werden, mit der sich die Gerichte nicht befassen sollten. [...]
(636) [...] Die innerstaatlichen Gerichte befassten sich nicht mit der Beschwerdebefugnis des bf Vereins [...] und gingen nicht [...] auf seine Eingabe ein.
(637) Bevor der bf Verein und seine Mitglieder die Gerichte anriefen, wandten sie sich an verschiedene [...] Verwaltungsbehörden und Agenturen, von denen sich jedoch keine mit ihrem Anliegen befasste. [...] Die Zurückweisung der Beschwerde der Bf durch die Verwaltungsbehörden scheint auf unangemessenen und unzureichenden Überlegungen [...] beruht zu haben. Wie der GH zudem feststellt, standen den Bf [...] keine anderen Wege offen, um ihre Beschwerden vor ein Gericht zu bringen. Somit gab es keine anderen relevanten Garantien, die bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Einschränkung des Rechts des bf Vereins auf Zugang zu einem Gericht zu berücksichtigen wären.
(638) Die vorstehenden Überlegungen reichen für [...] die Schlussfolgerung aus, dass das Recht des bf Vereins auf Zugang zu einem Gericht, soweit seine Ansprüche in den Anwendungsbereich von Art 6 Abs 1 fielen, in einer Art und einem Ausmaß beschränkt wurde, dass eine Beeinträchtigung in seinem Wesensgehalt stattgefunden hat.
(639) Der GH erachtet es in diesem Kontext als wesentlich, die Schlüsselrolle zu betonen, die die innerstaatlichen Gerichte bei Klimaklagen gespielt haben und noch spielen werden [...].
(640) Im vorliegenden Fall stellt der GH eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK fest (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 13 EMRK
(644) [...] Art 6 ist im Verhältnis zu Art 13 EMRK lex specialis und die Anforderungen von Art 13 werden durch die strengeren Standards des Art 6 absorbiert. Angesichts der Feststellungen des GH zu Art 6 Abs 1 EMRK betreffend den bf Verein [...] sieht der GH keine Notwendigkeit einer gesonderten Behandlung der vorliegenden Beschwerde unter Art 13 EMRK (einstimmig).
(645) In Bezug auf die Bf Nr 2–5 stellt der GH [...] fest, dass sie keine vertretbare Behauptung unter Art 13 EMRK geltend machen können und ihre Beschwerde als ratione materiae unvereinbar mit der Konvention [als unzulässig] zurückzuweisen ist (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
Materieller oder immaterieller Schaden wurde nicht geltend gemacht; € 80.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Hatton ua/GB, 8.7.2003, 36022/97 (GK) = NL 2003, 193 = EuGRZ 2005, 584 = ÖJZ 2005, 642
Gorraiz Lizarraga ua/ES, 27.4.2004, 62543/00
Fadeyeva/RU, 9.6.2005, 55723/00 = NL 2005, 129
Tătar/RO, 27.1.2009, 67021/01 = NL 2009, 28
Di Sarno ua/IT, 10.1.2012, 30765/08 = NLMR 2012, 5
Hardy und Maile/GB, 14.2.2012, 31965/07
Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu/RO, 17.7.2014, 47848/08 (GK) = NLMR 2014, 321
Jugheli ua/GE, 13.7.2017, 38342/05 = NLMR 2017, 345
Radomilja ua/HR, 20.3.2018, 37685/10, 22768/12 (GK) = NLMR 2018, 161
Association Burestop 55 ua/FR, 1.7.2021, 56176/18 = NLMR 2021, 346
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.4.2024, Bsw. 53600/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 106) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.