Bsw39611/18 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Georgien gg Russland (IV), Urteil vom 9.4.2024, Bsw. 39611/18.
Spruch
Art 2, 3, 5 Abs 1, Art 8, 13, 14, 18, 38 EMRK; Art 1 und 2 1. ZPEMRK; Art 2 4. ZPEMRK - Konventionswidrige Verwaltungspraxis Russlands in den von ihm annektierten Gebieten Georgiens.
Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).
Verletzung von Art 2 EMRK hinsichtlich seines materiellen Aspekts (einstimmig).
Verletzung von Art 2 EMRK hinsichtlich seines prozessualen Aspekts (einstimmig).
Verletzung von Art 3 EMRK hinsichtlich seines materiellen Aspekts (einstimmig).
Verletzung von Art 3 EMRK hinsichtlich seines prozessualen Aspekts (einstimmig).
Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 8 EMRK und Art 1 1. ZPEMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: Die Frage einer gerechten Entschädigung ist noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Im Zuge eines bewaffneten Konflikts zwischen Georgien und Russland im August 2008 nahm die russische Armee Abchasien und Südossetien ein. Auf der Grundlage von Freundschafts- und Kooperationsabkommen stationierte es bis zu 3.800 Soldaten in jeder der beiden Regionen. Gemäß einer Übereinkunft über »gemeinsame Anstrengungen zum Grenzschutz« wurde die Verwaltungsgrenzlinie (im Folgenden: VGL) zwischen den abtrünnigen Gebieten und dem von der georgischen Regierung kontrollierten Territorium durch russische Grenzwachen gesichert. Seit 2009 wurden im Zuge der »Vergrenzung« schrittweise physische Barrieren wie Zäune und Wachtürme errichtet und weitere Maßnahmen ergriffen, um Personen an einem freien Überqueren der Grenzlinie zu hindern. Ein Überschreiten der Grenze war nur noch an offiziellen Übergängen und mit einer Sondererlaubnis gestattet. Ungeachtet dessen fanden unkontrollierte Grenzübergänge des Öfteren über Schleichwege statt.
Amnesty International berichtete über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Zuge der »Vergrenzung«. (Anm: Behind barbed wire: Human rights toll of ›borderisation‹ in Georgia« (2018), 5–6.). Demnach wurden unter anderem zahlreiche Bewohner*innen der Dörfer in Grenznähe durch eine willkürliche Grenzziehung quer durch die Siedlungen von Verwandten getrennt und von ihren Äckern und Weiden abgeschnitten. Jedes Jahr würden hunderte Menschen beim Versuch, die Grenze zu überschreiten, willkürlich festgenommen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die georgische Regierung behauptete das Bestehen zweier Verwaltungspraktiken in den von Russland besetzten Gebieten.
(13) Die erste Praxis der russischen Behörden und der »Behörden« der nachgeordneten lokalen Verwaltung bestehe darin, Georgier, die versuchten, die VGL zu überqueren oder in deren Nähe wohnten, zu belästigen, unrechtmäßig zu inhaftieren, sie in ihrer Freizügigkeit einzuschränken, gegen ihren Willen festzuhalten und sie physisch zu misshandeln, was mitunter auf Folter oder ihren Tod hinauslaufe. Diese Verwaltungspraxis würde ein systematisches Handlungsmuster offenbaren, welches folgende Konventionsrechte der in der Nähe der Besetzungslinien auf beiden Seiten lebenden georgischen Bevölkerung verletze: Art 2 (Recht auf Leben), Art 3 (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), Art 5 (hier: Recht auf Schutz vor willkürlicher Freiheitsentziehung), Art 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens bzw auf Achtung der Wohnung), Art 2 4. ZPEMRK (Freizügigkeit), Art 1 1. ZPEMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) und Art 2 1. ZPEMRK (Recht auf Bildung). Die Regierung berief sich auch auf Art 14 (Diskriminierungsverbot) und Art 18 EMRK (Begrenzung der Rechtseinschränkungen).
Die zweite Praxis der russischen Behörden und der »Behörden« der nachgeordneten Lokalverwaltung bestehe darin, die für schwere Straftaten (einschließlich des Einsatzes tödlicher Gewalt) verantwortlichen Grenzwachen oder Funktionäre, für deren Handlungen die Russische Föderation unter der Konvention verantwortlich sei, vor dem Zugriff der Justiz zu schützen [...]. Dies laufe auf eine Verletzung der prozessualen Verpflichtungen gemäß Art 2 EMRK und Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) hinaus.
(14) Zusätzlich beklagte sich die georgische Regierung darüber, dass Russland gegen Art 38 EMRK (Prüfung der Rechtssache) verstoßen habe, da es dem GH [...] nicht alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen verschafft habe.
(15) Auf Ersuchen des GH übermittelte die bf Regierung diesem Listen über die mutmaßlichen Opfer der den Art 2 und 3 EMRK zuwiderlaufenden Verwaltungspraktiken. Sie enthielten 33 bzw 76 Namen nebst detaillierter Schilderung jedes einzelnen Falls. [...] Die georgische Regierung legte auch eine Liste mit mehr als 2.800 Fällen mutmaßlicher Festnahmen und Anhaltungen wegen »illegaler Überschreitung« der VGL [...] vor. [...]
Zum zeitlichen Anwendungsbereich des Falls
(16) Die bf Regierung beklagt sich im Wesentlichen über verschiedene Menschenrechtsverletzungen als Folge des 2009 beginnenden »Begrenzungsprozesses«. Ereignisse, welche vor 2009 stattfanden, vermögen daher nach Ansicht des GH nicht die behaupteten Verwaltungspraktiken zu illustrieren.
(17) Angesichts dessen, dass die Russische Föderation der Konvention ab dem 16.9.2022 nicht mehr angehört, ist der GH lediglich zur Behandlung der von der georgischen Regierung vorgetragenen Beschwerdepunkte zuständig, insoweit sie sich auf Ereignisse vor diesem Datum beziehen (siehe Georgien/RU [IV] [ZE]).
Zur Nichtteilnahme der russischen Regierung am Straßburger Beschwerdeverfahren
(18) Indem die belangte Regierung es unterließ, ein vom GH erbetenes schriftliches Vorbringen in der Sache zu erstatten, gab sie ihre Absicht kund, an der Prüfung der vorliegenden Beschwerde nicht länger mitwirken zu wollen. [...] Da sich diese auf Ereignisse bezieht, die vor dem 16.9.2022 stattgefunden haben, und der GH für deren Beurteilung zuständig ist (siehe Rz 17), stellt die Nichtteilnahme der russischen Regierung am Verfahren kein Hindernis dar, diese Ereignisse zu überprüfen.
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 EMRK
(26) Die Regierung beklagt sich über ein Muster von Tötungen ethnischer georgischer Zivilisten, die versucht hatten, Abchasien oder Südossetien zu betreten oder zu verlassen, und über eine fehlende angemessene Untersuchung dieser Vorfälle, was einer Verletzung des materiellen und prozessualen Aspekts von Art 2 EMRK gleichkomme. In dieser Hinsicht verwies sie auf drei illustrative Fälle, nämlich die Tötungen von Davit Basharuli (einen in Südossetien wohnhaften ethnischen Georgier, der von den dortigen de facto-Autoritäten am 4.6.2014 wegen des Verdachts des Einbruchsdiebstahls festgenommen worden war. [...] Man fand seine Leiche am 4.1.2015 [...] in einem Wald. Laut einem von der Regierung vorgelegten Sachverständigengutachten wies sein Körper Zeichen von Schlägen auf), Giga Otkhozoria (einem ethnischen Georgier, dem die Einreise nach Abchasien verweigert worden war und der dann von einem »Grenzbeamten« der de facto-Autoritäten von Abchasien in einem von der georgischen Regierung am 19.5.2016 kontrollierten Gebiet verfolgt und getötet worden war) und von Archil Tatunashvili (einem ethnischen Georgier, der im Zuge seines Versuchs, diese abtrünnige Region zu betreten, von den de facto-Autoritäten verhaftet, über seine Teilnahme am bewaffneten Konflikt aus 2008 befragt und laut einem von der bf Regierung vorgelegten Sachverständigenbericht zu Tode gefoltert worden war). Die georgische Regierung legte dem GH auch eine Liste von 30 weiteren mutmaßlichen Opfern zusammen mit Beweismaterial vor.
(29) Der GH hat die von der Regierung vorgelegte Liste mutmaßlicher Opfer und alle weiteren Beweise sorgfältig untersucht. Manche der in dieser Liste inkludierten Vorfälle fallen aus dem zeitlichen Anwendungsbereich dieses Falls, während manch andere [...] keine offensichtliche Verbindung zum Prozess der »Vergrenzung« aufweisen, da sie nicht an der VGL oder nach einer Verhaftung wegen »Grenzverletzung« stattfanden. Nichtsdestotrotz ist der GH der Ansicht, dass zumindest zwanzig Vorfälle in den Anwendungsbereich des vorliegenden Falls fallen – und zwar einschließlich von sieben in Abchasien ansässigen ethnischen Georgiern, die beim Versuch, die VGL im Wege von Alternativrouten zu überschreiten, [...] den Tod fanden. Die belangte Regierung stellte weder in Abrede noch legte sie Beweise vor, dass diese Ereignisse nicht stattgefunden hatten.
(30) Von der bf Regierung vorgelegte internationale Materialien beziehen sich auch auf Fälle des Gebrauchs tödlicher Gewalt oder solche mit unabsichtlicher Todesfolge. (Anm: Siehe beispielsweise den Lagebericht des Generalsekretärs des Europarats zum Konflikt in Georgien vom 1.4.2021, SG/Inf(2021)10.). [...]
(31) Der GH findet, dass die fraglichen Ereignisse ausreichend zahlreich und miteinander verbunden sind, sodass nicht von isolierten Vorfällen oder Ausnahmefällen, sondern von einem Muster oder System gesprochen werden muss. Zieht man zudem das offensichtliche Fehlen einer effektiven Untersuchung der Vorfälle in Betracht, ist für den GH das einer Verwaltungspraxis innewohnende Element der »offiziellen Duldung« jenseits vernünftiger Zweifel erfüllt.
(32) Was nun die Vereinbarkeit dieser Praxis mit Art 2 EMRK angeht, hat der GH zuerst jene Vorfälle untersucht, bei denen die Opfer durch von russischen oder de facto-abchasischen und -südossetischen Akteuren verabreichten Schläge oder abgegebenen Schüsse zu Tode kamen. Zwar trifft es zu, dass eine Anzahl von Personen, die von russischen Akteuren an der VGL niedergeschossen wurden, überlebt haben. Allerdings hat der GH bereits festgehalten, dass unter außergewöhnlichen Umständen, abhängig von Grad und Form der zur Anwendung kommenden Gewalt und der Art der Verletzungen, Gewalthandlungen durch staatliche Sicherheitskräfte, die nicht zum Tod führen, eine Verletzung von Art 2 EMRK nach sich ziehen können, wenn die Beamt*innen gerade durch ihr Verhalten das Leben der bzw des Bf ernsthaft in Gefahr bringen, mag dies auch nicht den Tod zur Folge haben (siehe Makaratzis/GR, Rz 55). Der GH sieht diese Bedingungen im vorliegenden Fall als erfüllt an. Der belangte Staat erstattete auch kein untermauertes Vorbringen dahingehend, dass die Anwendung von Gewalt nicht mehr als »absolut notwendig« zur Erreichung eines der in Art 2 Abs 2 EMRK festgelegten Ziele gewesen war. Was jene Personen betrifft, die bei der Überschreitung der VGL mittels einer Alternativroute getötet wurden, erinnert der GH daran, dass Art 2 EMRK nicht derart interpretiert werden kann, dass er jedem Individuum ein absolutes Ausmaß an Sicherheit bei Aktivitäten garantiert, bei welchen das Recht auf Leben auf dem Spiel steht. Dies ist insb dann der Fall, wenn die betroffene Person einen gewissen Grad an Verantwortung für einen Unfall trägt, indem sie sich selbst einer ungerechtfertigten Gefahr ausgesetzt hat. Da jedoch die Opfer im vorliegenden Fall gefährliche Routen wegen unrechtmäßiger Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit seitens der de facto-Autoritäten von Abchasien und Südossetien benutzen mussten, ist der GH der Auffassung, dass der belangte Staat für diese Todesfälle die Verantwortung trägt.
(33) Angesichts des Vorgesagten [...] verfügt der GH über ausreichende Beweise, um zu dem Schluss zu kommen, dass im vorliegenden Fall eine Verwaltungspraxis entgegen dem materiellen Aspekt von Art 2 EMRK bestand. [Es liegt somit in diesem Punkt eine Verletzung von Art 2 EMRK vor (einstimmig).]
(34) Dem GH liegt auch genügend Beweismaterial vor, welches ihm den Schluss erlaubt, dass keine effektive Untersuchung der strittigen Vorfälle stattfand und insofern ebenfalls von einer Verwaltungspraxis auszugehen ist, die dem prozessualen Aspekt von Art 2 EMRK zuwiderlief. [Es liegt somit auch in diesem Punkt eine Verletzung von Art 2 EMRK vor (einstimmig).]
Zur behaupteten Verletzung von Art 3 EMRK
(36) Die bf Regierung prangert unter dem materiellen Aspekt von Art 3 EMRK an, dass etliche ethnische Georgier, die von den russischen oder den de facto-Autoritäten von Abchasien und Südossetien wegen »illegalen Überschreitens« der VGL festgehalten wurden, sich später über Misshandlungen in der Haft und/oder über unmenschliche Haftbedingungen beklagt hätten.
(39) Der GH hat die von der Regierung vorgelegte Liste mutmaßlicher Opfer und alle weiteren Beweise sorgfältig untersucht. Manche der in dieser Liste inkludierten Vorfälle fallen aus dem zeitlichen Anwendungsbereich dieses Falls, während manch andere [...] keine offensichtliche Verbindung zum Prozess der »Vergrenzung« aufweisen, da sie nicht an der VGL oder nach einer Verhaftung wegen »Grenzverletzung« stattfanden. [...] Zumindest fünfzig Vorfälle aus dieser Liste fallen in den Anwendungsbereich des vorliegenden Falls (zumindest zwanzig betreffen Abchasien und zumindest dreißig Südossetien). [...]
(40) Von der bf Regierung vorgelegte internationale Materialien beziehen sich auch auf Misshandlungsfälle. (Anm: Siehe zB die Lageberichte des Generalsekretärs des Europarats zum Konflikt in Georgien vom 11.4.2017, SG/Inf(2017)18 und vom 11.4.2018, SG/Inf(2018)15, den Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte über die Kooperation mit Georgien vom 12.7.2022, A/HRC/51/64, und den 2017 veröffentlichen Bericht von Thomas Hammarberg und Magdalena Grono zum Thema »Menschenrechte im heutigen Abchasien«, in dem die Haftbedingungen in Abchasien als »derart schlimm« beschrieben werden, »dass sie durchaus zu schweren gesundheitlichen Problemen führen können« (23–24).). [...]
(42) Die georgische Regierung machte geltend, dass viele ethnische Georgier in Abchasien wegen »Grenzverletzung« unter derartigen Bedingungen angehalten worden wären und dass die Haftbedingungen in Südossetien auch nicht besser gewesen wären. Die russische Regierung stellte dies nicht in Abrede.
(43) Die fraglichen Ereignisse sind ausreichend zahlreich und miteinander verbunden, sodass nicht von isolierten Vorfällen oder Ausnahmefällen, sondern von einem Muster oder System auszugehen ist. Zieht man zudem das offensichtliche Fehlen einer effektiven Untersuchung der Vorfälle in Betracht, wurde das einer Verwaltungspraxis immanente Merkmal der »offiziellen Duldung« im gegenständlichen Fall zweifellos erfüllt.
(44) Was die Vereinbarkeit dieser Praxis mit Art 3 EMRK betrifft, erreichte sie nach Ansicht des GH eindeutig den erforderlichen Mindestgrad an Schwere, um in den Anwendungsbereich dieser Konventionsbestimmung zu fallen.
(45) Mit Blick auf das zuvor Gesagte kommt der GH zu dem Schluss, dass ihm ausreichende Beweise vorliegen, [...] dass [im vorliegenden Fall] eine Verwaltungspraxis entgegen dem materiellen Aspekt von Art 3 EMRK bestand. [Es liegt somit in diesem Punkt eine Verletzung von Art 3 EMRK vor (einstimmig).]
(46) Dem GH liegt auch genügend Beweismaterial vor, um ihm den Schluss zu erlauben, dass keine effektive Untersuchung der gegenständlichen Vorfälle stattfand und daher ebenfalls von einer Verwaltungspraxis auszugehen ist, die gegen den prozessualen Aspekt von Art 3 EMRK verstößt. [Es liegt somit auch in diesem Punkt eine Verletzung von Art 3 EMRK vor (einstimmig).]
Zur behaupteten Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK
(48) Laut der bf Regierung wären ethnische Georgier von den russischen und den de facto-Autoritäten der abtrünnigen Regionen wegen »illegalen Überschreitens« der VGL beinahe täglich festgehalten worden. All diese Anhaltungen wären klar unrechtmäßig gewesen, da weder die russischen noch die de facto-Autoritäten die Befugnis gehabt hätten, auf georgischem Territorium »rechtmäßige« Festnahmen oder Anhaltungen iSv Art 5 Abs 1 EMRK vorzunehmen.
(52) Die georgische Regierung legte eine Liste über mehr als 2.800 Fälle behaupteter Festnahmen und Anhaltungen wegen »illegalen Überschreitens« der VGL vor. Die belangte Regierung äußerte sich [...] dazu nicht. Zudem offenbart sich die große Zahl von Verhaftungen aus von der georgischen Regierung übermittelten internationalen Materialien. So wurde etwa die von der EU-Überwachungsmission für Georgien betriebene telefonische Notrufstelle 2.741 Mal hinsichtlich Anhaltungen wegen »illegalen Überschreitens« der VGL in der Zeit von 2011 bis September 2018 in Anspruch genommen. Der GH findet, dass diese Ereignisse ausreichend zahlreich und miteinander verbunden sind, sodass nicht bloß von isolierten Vorfällen oder Ausnahmefällen, sondern von einem Muster oder System auszugehen ist. Was das einer Verwaltungspraxis immanente Merkmal der »offiziellen Duldung« angeht, ist zu vermerken, dass die Praxis von Festnahmen und Anhaltungen wegen »illegalen Überschreitens« der VGL direkte Folge der offiziellen Position der Russischen Föderation und der abtrünnigen Gebiete war, wonach es sich bei der VGL um eine internationale Grenze handelt.
(53) Was die Vereinbarkeit dieser Praxis mit Art 5 Abs 1 EMRK angeht, hat der GH bereits festgehalten, dass die de facto-Autoritäten von Abchasien »rechtmäßige Festnahmen oder Anhaltungen« iSv Art 5 Abs 1 lit a und c EMRK nicht anordnen konnten, da nicht klar sei, welche Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts genau als Rechtsbasis für von den de facto-abchasischen Behörden angeordneten Festnahmen oder Anhaltungen gedient hätten. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass in der betreffenden Region ein Rechtssystem vorherrsche, welches eine mit der Konvention vereinbare Rechtstradition im Vergleich zum Rest von Georgien aufweise (siehe Mamasakhlisi ua/GE und RU, Rz 425–427).
(54) Angesichts des Fehlens jeglicher relevanter neuer Informationen, die auf das Gegenteil hindeuten würden, kommt der GH zu der Ansicht, dass die Schlussfolgerungen hinsichtlich [der Situation in] Abchasien nach wie vor gültig sind. Er sieht auch keinen Grund, bezüglich Südossetien zu einer anderen Feststellung zu gelangen.
(55) Mit Blick auf das oben Gesagte liegen dem GH ausreichende Beweise für den über jeden Zweifel erhabenen Schluss vor, dass [im gegenständlichen Fall] eine Art 5 Abs 1 EMRK zuwiderlaufende Verwaltungspraxis bestand. [Es hat somit eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).]
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK
(57) Die bf Regierung bringt vor, der Prozess der »Begrenzung« habe zu ungerechtfertigten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit inner- und außerhalb Abchasiens und Südossetiens geführt.
(59) Im vorliegenden Fall wird der GH seine Prüfung auf die Rüge der bf Regierung betreffend die Auswirkungen des »Begrenzungsprozesses« auf die tägliche Bewegungsfreiheit von ethnischen Georgiern jenseits der VGL beschränken. Er wird sich nicht mit der Frage der Unfähigkeit ethnischer Georgier beschäftigen, zu ihren Heimen nach Abchasien und Südossetien zurückkehren zu können, da diese Angelegenheit bereits von ihm geprüft wurde (siehe Georgien/RU [II], Rz 299).
(61) Das Vorbringen der georgischen Regierung unter diesem Punkt betrifft die behaupteten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in Georgien, was die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien angeht, die zu einer de facto-Umwandlung der VGL in Staatsgrenzen resultiert hätten. Diese – von der russischen Regierung nicht bestrittenen – Einschränkungen müssen folglich unter Art 2 Abs 1 4. ZPEMRK geprüft werden. Sie werden darüber hinaus durch internationale Materialien bestätigt, die von der bf Regierung vorgelegt wurden. (Anm: Siehe zB den Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte über die Kooperation mit Georgien vom 12.7.2022, A/HRC/51/64, demzufolge sowohl in Abchasien und Südossetien und benachbarten Gegenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit insb entlang der VGL existierten. Diese Einschränkungen hätten andauernde negative Auswirkungen auf die Menschenrechte, weil sie die Isolation der beiderseitig an der VGL lebenden Gemeinschaften noch weiter verschlimmert hätten, geschweige denn vom ohnehin limitierten Zugang der lokalen Einwohner*innen zu Bildung, medizinischer Versorgung, Rentengeldern, Märkten und anderen Versorgungseinrichtungen in der von Tiflis kontrollierten Region.).
(62) Der GH findet, dass die Ereignisse, auf die sich die internationalen Materialien beziehen, ausreichend zahlreich und miteinander verbunden sind, sodass nicht von bloß isolierten Vorfällen oder Ausnahmefällen, sondern von einem Muster oder System gesprochen werden muss. Zieht man zudem die regulative Natur der umstrittenen Maßnahmen und ihre allgemeine Anwendung auf alle betroffenen Personen in Betracht, ist für den GH das einer Verwaltungspraxis immanente Element der »offiziellen Duldung« ohne Zweifel erfüllt.
(63) Was nun die Vereinbarkeit dieser Praxis mit Art 2 4. ZPEMRK angeht, hat der GH bereits festgehalten, dass die de facto-Autoritäten von Abchasien und Südossetien nicht dazu befugt waren, »rechtmäßige Festnahmen« iSv Art 5 Abs 1 EMRK anzuordnen (siehe Rz 53–54). Aus denselben Gründen kommt er zu dem Schluss, dass die genannten Autoritäten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ebenfalls nicht rechtmäßig anzuordnen vermochten.
(64) Mit Blick auf das oben Gesagte hat der GH ausreichende Beweise an der Hand, die ihm den über jeden Zweifel erhabenen Schluss erlauben, dass [im vorliegenden Fall] eine Art 2 4. ZPEMRK zuwiderlaufende Verwaltungspraxis bestand. [Es liegt somit eine Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK vor (einstimmig).]
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK und von Art 1 1. ZPEMRK
(65) Die georgische Regierung beklagt sich auch darüber, dass die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit inner- und außerhalb Abchasiens und Südossetiens den Zugang von auf beiden Seiten der VGL lebenden ethnischen Georgiern zu ihrem Heim, Land und anderen Hab und Gut sowie Friedhöfen behindert hätten. Diese Einschränkungen hätten auch Familien voneinander getrennt. Sie rügen in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art 8 EMRK und von Art 1 1. ZPEMRK.
(70) Der GH merkt an, dass die Behauptungen der bf Regierung zu dieser Frage von der russischen Regierung nicht bestritten wurden. Sie werden auch durch internationale Materialien bestätigt, die von der bf Regierung vorgelegt wurden. (Anm: Laut dem Bericht von Amnesty International »Behind barbed wire: Human rights toll of ›borderisation‹ in Georgia« aus 2018, 34–36 und 42–45, hätte die ohnehin schon arme Dorfbevölkerung den Zugang zu ihren Weidegründen, Äckern und Wäldern verloren, da russische Soldaten Stacheldrahtzäune, Zäune und Gräben auf ihrem Grund und Boden anbrachten. Die Grundeigentümer hätten dafür keinerlei Entschädigung erhalten. Es bestünden keine flächendeckenden Statistiken, wieviele Familien wieviel Land verloren hätten. Die »Begrenzung« und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit hätten sich negativ auf das Recht auf Familienleben ausgewirkt, da es für Familienmitglieder, die sich auf verschiedenen Seiten der VGL befanden, schwierig, wenn nicht sogar unmöglich gewesen wäre, sich gegenseitig zu besuchen.).
(71) Die Ereignisse, auf welche die internationalen Materialien verweisen, sind ausreichend zahlreich und miteinander verbunden, sodass nicht von isolierten Vorfällen oder Ausnahmefällen, sondern von einem Muster oder System gesprochen werden muss. Zieht man zudem die regulative Natur der umstrittenen Maßnahmen und ihre allgemeine Anwendung auf alle betroffenen Personen in Betracht, bestehen aus Sicht des GH keinerlei Zweifel hinsichtlich des einer Verwaltungspraxis innewohnenden Elements der »offiziellen Duldung«.
(72) Zur Vereinbarkeit dieser Praxis mit Art 8 EMRK und Art 1 1. ZPEMRK wurde vom GH bereits festgehalten, dass die de facto-Autoritäten von Abchasien und Südossetien nicht befugt waren, »rechtmäßige Festnahmen« iSv Art 5 Abs 1 EMRK anzuordnen (siehe Rz 53–54). Aus denselben Gründen vertritt der GH die Ansicht, dass die von den genannten Autoritäten vollzogenen Eingriffe in die von Art 8 EMRK oder Art 1 1. ZPEMRK geschützten Rechte ebenfalls nicht rechtmäßig waren.
(73) [...] Dem GH liegen ausreichende Beweise vor, die ihm den über jeden Zweifel erhabenen Schluss erlauben, dass [im vorliegenden Fall] eine Verwaltungspraxis bestand, die gegen Art 8 EMRK und Art 1 1. ZPEMRK verstieß. [Es kam somit zu einer Verletzung von Art 8 EMRK und Art 1 1. ZPEMRK (einstimmig).]
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK
(74) Die georgische Regierung beklagt sich darüber, dass in Abchasien und Südossetien lebenden ethnischen georgischen [Schulkindern] das Recht auf Bildung [hier: Recht auf Erziehung und Unterricht] in der georgischen Sprache verwehrt worden sei. Der Prozess der »Begrenzung« habe die Situation wegen der Einschränkung der Bewegungsfreiheit inner- und außerhalb Abchasiens und Südossetiens noch schlimmer gemacht. Laut der bf Regierung bestünden keine Hinweise, dass die angefochtenen Maßnahmen ein legitimes Ziel verfolgt hätten. Einziger Zweck dieser Maßnahmen sei es gewesen, die separatistische Ideologie durchzusetzen, um die »Russifizierung« der Sprache und Kultur der in Abchasien und Südossetien lebenden ethnischen Georgier voranzubringen. Dies stelle eine Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK dar.
(78) Dazu ist seitens des GH anzumerken, dass die Behauptungen der georgischen Regierung zu dieser Frage von der russischen Regierung nicht bestritten wurden. Sie werden auch durch von der bf Regierung vorgelegte internationale Materialien bestätigt. (Anm: Siehe zB den Lagebericht des Generalsekretärs des Europarats zum Konflikt in Georgien vom 27.3.2019, SG/Inf(2019)12, den Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte über die Kooperation mit Georgien vom 12.7.2022, A/HRC/51/64, und den Bericht von Thomas Hammarberg und Magdalena Grono zum Thema »Menschenrechte im heutigen Abchasien« aus 2017 (S 66–67).).
(79) Die Ereignisse, auf die sich die internationalen Materialien beziehen, sind ausreichend zahlreich und miteinander verbunden, sodass nicht von bloß isolierten Vorfällen oder Ausnahmefällen, sondern von einem Muster oder System die Rede ist. Zieht man zudem die regulative Natur der umstrittenen Maßnahmen und ihre allgemeine Anwendung auf alle betroffenen Personen in Betracht, ist für den GH das einer Verwaltungspraxis immanente Element der »offiziellen Duldung« ohne Zweifel erfüllt.
(80) Was die Vereinbarkeit dieser Praxis mit Art 2 1. ZPEMRK angeht, ist die entscheidende Frage, ob Georgisch in Abchasien und/oder Südossetien als eine der offiziellen Sprachen angesehen werden kann. In diesem Zusammenhang hält der GH fest, dass sich die Parteien darin einig sind, dass laut der »Gesetzgebung« der zwei abtrünnigen Regionen Abchasisch und Russisch die einzigen offiziellen Sprachen in Abchasien und in Ossetien sind, während Russisch offizielle Sprache in Südossetien ist. Es ist nun aber evident, dass die überwältigende Mehrheit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der Mitgliedstaaten des Europarats Abchasien und Südossetien als integralen Teil von Georgien anerkannt hat und seine territoriale Integrität im Einklang mit völkerrechtlichen Prinzipien unterstützt. (Anm: Siehe beispielsweise die Entscheidung des Ministerkomitees des Europarats zum Konflikt in Georgien vom 2.5.2018, (CM/Del/Dec(2018)1315/2.1), die »Resolution des Europäischen Parlaments vom 14.6.2018 zu den in Georgien besetzten Gebieten zehn Jahre nach der russischen Invasion« (P8_TA(2018)0266), und die in Berlin während der 27. jährlichen Sitzung vom 7. bis 11.7.2018 angenommene »Resolution zu zehn Jahren nach dem im August 2008 stattfindenden Krieg in Georgien«.). Georgisch als offizielle Sprache Georgiens kann daher als eine der offiziellen Sprachen iSv Art 2 1. ZPEMRK sowohl in Abchasien als auch Südossetien angesehen werden. [...]
(81) Der GH stimmt mit der bf Regierung überein, dass ihm keine Beweise vorliegen, wonach die umstrittenen Maßnahmen ein gesetzliches Ziel verfolgt hätten. Auch unter der Annahme, dass die Bereitstellung von Erziehung und Unterricht in auf von Georgien kontrolliertem Territorium situierten Schulen genügen könnte, um die in Art 2 1. ZPEMRK festgelegte Verpflichtung zu erfüllen, ist diese Option unrealistisch und würde zu langen und gefahrvollen Reisen der betroffenen Kinder führen. [...] Der GH hat bereits in einem ähnlichen Kontext festgehalten, dass es mit Blick auf die fundamentale Bedeutung der Grund- und höheren Schulbildung für die persönliche Entwicklung und den zukünftigen Erfolg jedes einzelnen Kindes unzulässig ist, Kinder und ihre Eltern zu zwingen, derart schwierige Entscheidungen aus dem einzigen Grund der Durchsetzung der separatistischen Ideologie durchzusetzen (siehe Catan ua/MD und RU, Rz 144).
(82) Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass das fragliche Konventionsrecht in solch einem Ausmaß beschnitten wurde, dass es seines Wesensgehalts und seiner Wirksamkeit beraubt wurde.
(83) Angesichts des Vorgesagten liegen dem GH ausreichende Beweise vor, die ihm den über jeden Zweifel erhabenen Schluss erlauben, dass [im vorliegenden Fall] eine Verwaltungspraxis bestand, die gegen Art 2 1. ZPEMRK verstieß. [Es fand somit eine Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK statt (einstimmig).]
Zu den weiteren behaupteten Verletzungen der Konvention
(84) Die bf Regierung bezog sich auch auf die Art 13, 14, 18 und 38 EMRK. [...] Der GH ist der Ansicht, dass unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls die Rügen der georgischen Regierung unter diesem Beschwerdepunkt in Wirklichkeit auf dieselben Beschwerdepunkte – wenngleich aus einem unterschiedlichen Blickwinkel gesehen – wie jene hinauslaufen, die vom GH bereits unter den Art 2, 3, 5 Abs 1, Art 8 EMRK sowie unter den Art 1 und 2 des 1. ZPEMRK und Art 2 des 4. ZPEMRK geprüft wurden. Er kam jeweils zur Feststellung einer Verletzung der Konvention. Eine Prüfung der behaupteten Verletzung der Art 13, 14, 18 und 38 EMRK ist daher nicht notwendig (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
Die Frage einer gerechten Entschädigung ist noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).