Bsw7189/21 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Carême gg Frankreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 9.4.2024, Bsw. 7189/21.
Spruch
Art 8, 34 EMRK - Opfereigenschaft hinsichtlich möglicher künftiger Auswirkungen des Klimawandels.
Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf war bis Juli 2019 Bürgermeister von Grande-Synthe, einer Nachbargemeinde von Dünkirchen mit rund 23.000 Einwohnern. Nachdem er im Mai 2019 zum Mitglied des Europäischen Parlaments gewählt wurde, übersiedelte er nach Brüssel.
Im November 2018 wandte sich der Bf im eigenen Namen und in seiner Eigenschaft als Bürgermeister von Grande-Synthe sowie im Namen der Kommune an den Staatspräsidenten, den Premierminister und den Umweltminister. Er forderte sie auf, alle notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Treibhausgasemissionen zu ergreifen, dem Klimaschutz Priorität einzuräumen und Sofortmaßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel umzusetzen. Der Bf erhielt keine Antwort.
Daraufhin wandte er sich mit einem Antrag auf gerichtliche Überprüfung an den Conseil d’État. Neben Argumenten zu den generellen Folgen des Klimawandels brachte er insb vor, die Gemeinde Grande-Synthe wäre den damit verbundenen Risiken aufgrund ihrer Lage am Ärmelkanal besonders ausgesetzt.
Der Conseil d’État entschied am 19.11.2020, dass der Antrag, der Regierung die notwendigen gesetzlichen Initiativen zur Bewältigung des Klimawandels aufzutragen, eine Frage der Gewaltenteilung aufwerfe und keiner gerichtlichen Überprüfung zugänglich sei. Anderes gelte jedoch, soweit der Bf die Aufhebung der impliziten Ablehnung seines Antrags auf Ergreifung der gebotenen Maßnahmen begehre. Die Kommune von Grande-Synthe habe daran aufgrund ihrer geographischen Lage ein rechtliches Interesse, nicht jedoch Herr Carême in seiner Eigenschaft als deren Bürger. Nach weiteren Erhebungen entschied der Conseil d’État am 1.7.2021, die implizite Zurückweisung der Anträge der Gemeinde Grande-Synthe aufzuheben, soweit sie sich auf die Maßnahmen zur Eindämmung der Treibhausgasemissionen bezogen. Er stellte insb fest, dass die gesetzlich festgelegten Reduktionsziele nicht erreichbar wären, wenn nicht rasch neue Maßnahmen beschlossen würden. Daher verpflichtete der Conseil d’État die Behörden dazu, bis 31.3.2022 zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen, um die gesetzlich vorgesehenen Emissionsreduktionsziele zu erreichen.
Auf Antrag der Gemeinde Grande-Synthe stellte der Conseil d’État am 10.5.2023 fest, dass die Regierung zwar zusätzliche Maßnahmen ergriffen hatte, das Erreichen der Klimaziele aber nach wie vor unwahrscheinlich sei. Daher trug er der Regierung auf, bis 30.6.2024 weitere Maßnahmen zu ergreifen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf behauptete Verletzungen von Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und von Art 2 EMRK (Recht auf Leben) durch die unzureichenden Schritte Frankreichs zur Eindämmung des Klimawandels.
(67) Der Bf brachte vor, es gebe einen Klimanotstand, der eine ambitionierte Reduktion der Treibhausgasemissionen verlange. Als Bewohner von Grande-Synthe sei er direkt und persönlich den Gefahren von Küstenerosion [...] und Überflutungen ausgesetzt. Insb bestünde kein Zweifel daran, dass die Gemeinde spätestens 2030 überflutet werde. Die Behörden des belangten Staats würden keine ausreichenden Handlungen setzen, um diesen Gefahren zu begegnen. [...]
(68) In der Verhandlung erklärte der Bf auf Nachfrage des GH, als Mitglied des Europäischen Parlaments in Brüssel zu leben und nicht in Grande-Synthe. Er sei weder Eigentümer noch Mieter einer Liegenschaft in Grande-Synthe. [...]
Zur Zulässigkeit
(76) Der GH verweist auf die allgemeinen Grundsätze zur Opfereigenschaft [...] im Kontext von sich auf den Klimawandel beziehenden Beschwerden unter Art 2 und Art 8 EMRK, die in KlimaSeniorinnen Schweiz ua/CH (Rz 478–488) dargelegt wurden.
(77) Im gegenständlichen Fall ist zunächst festzustellen, dass der Bf sein Vorbringen in dem Verfahren, das er im Jänner 2019 [...] vor dem Conseil d’État angestrengt hat, auf die lokalen Verhältnisse in jenem Gebiet stützte, in dem sich die Gemeinde Grande-Synthe befindet. Er verwies insb auf das Risiko von Überflutungen, das sich aus dem Fehlen ausreichender Eindämmungsmaßnahmen der Regierung und auch aus der Unzulänglichkeit der örtlichen Infrastruktur [...] ergebe. Zudem verwies er darauf, dass das von ihm bewohnte Haus weniger als vier Kilometer von der Küstenlinie entfernt liege und nach einigen Prognosen aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels spätestens 2040 überflutet werde. Er brachte daher vor, das Verfahren nicht als gewöhnlicher Bürger angestrengt zu haben, sondern als jemand mit einem konkreten rechtlichen Interesse [...].
(78) Wie der Conseil d’État feststellte, wurde für das betroffene Gebiet [...] aufgrund der unmittelbaren Nähe zur Küste und der topografischen Gegebenheiten mittelfristig ein hohes und steigendes Risiko von Überflutungen und Dürre [...] ausgewiesen. Auch wenn die konkreten Folgen [...] erst 2030 oder 2040 zu erwarten seien, würde die »Unvermeidbarkeit« im Fall des Fehlens rasch umgesetzter, effektiver Maßnahmen [...] die Notwendigkeit unverzüglichen Handelns nach sich ziehen.
(79) Während der Conseil d’État die Parteifähigkeit der Kommune Grande-Synthe anerkannte, verneinte er [...] ein rechtliches Interesse des Bf aufgrund der bloßen Tatsache, dass sich sein damaliger Wohnsitz in einem Gebiet befand, das wahrscheinlich spätestens 2040 überflutet würde. [...]
(80) In Anbetracht der Schlüsselkriterien für die Opfereigenschaft, die in KlimaSeniorinnen Schweiz ua/CH (Rz 487–488) dargelegt wurden, sieht der GH keinen Grund dafür, die vom Conseil d’État festgestellte hypothetische Natur der den Bf betreffenden Gefahr [...] in Frage zu stellen.
(81) Zudem ist wichtig festzustellen, dass der Bf [...] im Mai 2019 nach Brüssel übersiedelt ist. Er ist weder Eigentümer noch Mieter einer Liegenschaft in Grande-Synthe und seine einzige konkrete Verbindung zu dieser Gemeinde ist derzeit sein dort lebender Bruder. [...]
(83) Angesichts der Tatsache, dass der Bf keine relevanten Verbindungen zu Grande-Synthe hat und zudem derzeit nicht in Frankreich lebt, [...] kann er nach Ansicht des GH [...] nicht geltend machen, iSv Art 34 EMRK Opfer einer möglichen Verletzung eines potenziell relevanten Aspekts von Art 8 EMRK [...] aufgrund der behaupteten, aus dem Klimawandel resultierenden Gefahren für die Gemeinde Grande-Synthe zu sein. [...] Dasselbe gilt hinsichtlich seines Vorbringens unter Art 2 EMRK.
(84) Angesichts der Tatsache, dass beinahe jeder einen legitimen Grund dafür haben kann, eine gewisse Angst wegen der Risiken negativer Folgen des Klimawandels zu empfinden, wäre es bei einem anderen Ergebnis schwierig, die vom Konventionssystem nicht zugelassene actio popularis von Situationen abzugrenzen, in denen ein dringendes Bedürfnis besteht, den individuellen Schutz eines Bf vor dem Schaden zu gewährleisten, den die Folgen des Klimawandels für seinen Genuss der Menschenrechte haben können.
(85) Hinsichtlich des Arguments des Bf, sich als früherer Bürgermeister von Grande-Synthe an den GH gewandt zu haben, verweist der GH auf seine stRsp, wonach Lokalbehörden, die öffentliche Aufgaben erfüllen, [...] als »staatliche Organisationen« anzusehen sind, denen keine Beschwerdelegitimation nach Art 34 EMRK zukommt. [...] Daher hatte der Bf kein Recht, im Namen der Gemeinde Grande-Synthe eine Beschwerde an den GH zu erheben [...].
(86) Abgesehen davon [...] wurden die Interessen der Einwohner von Grande-Synthe ohnehin vor dem Conseil d’État entsprechend dem nationalen Recht wahrgenommen.
(88) Aus den obigen Überlegungen folgt, dass die Beschwerde [...] als ratione personae unvereinbar mit der Konvention [...] für unzulässig erklärt werden muss (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Assanidze/GE, 8.4.2004, 71503/01 (GK) = EuGRZ 2004, 268
Fadeyeva/RU, 9.6.2005, 55723/00 = NL 2005, 129
Brincat ua/MA, 24.7.2014, 60908/11 = NLMR 2014, 277
KlimaSeniorinnen Schweiz ua/CH, 9.4.2024, 53600/20 (GK) = NLMR 2024, 106
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 9.4.2024, Bsw. 7189/21, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 163) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.