JudikaturAUSL EGMR

Bsw17131/19 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
04. April 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Tamazount ua gg Frankreich, Urteil vom 4.4.2024, Bsw. 17131/19.

Spruch

Art 3, 6 Abs 1, Art 8 EMRK, Art 1 1. ZPEMRK - Verantwortung des französischen Staats für den »Harkis« und ihren Familien zugefügtes Leid.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Keine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art 1 1.ZPEMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: Jeweils € 4.000,– an die Bf Abdelkader, Aïssa und Brahim Tamazount sowie ihre Schwester Zohra Tamazount für jedes im Lager von Bias verbrachte Jahr, wobei jedes angefangene Jahr als ganzes Jahr zählt, für materiellen und immateriellen Schaden.

Insoweit der GH für die Jahre 1974 und 1975 zuständig ist, [...] hat Frankreich den vier Bf der Familie Tamazount folgende Beträge abzüglich der ihnen bereits im innerstaatlichen Verfahren auf Ratenbasis überwiesenen Summen zukommen zu lassen, nämlich € 5.694,– an Herrn Abdelkader Tamazount, € 4.250,– an Herrn Aïssa Tamazount, € 5.858,– an Frau Zohra Tamazount und € 3.716,– an Herrn Brahim Tamazount jeweils für materiellen und immateriellen Schaden.

Der Antrag von Abdelkader, Aïssa, Brahim und Zohra Tamazount auf Ersatz der für das Verfahren vor dem GH aufgewendeten Kosten und Auslagen iHv € 20.000,– wird wegen fehlender Substantiierung zurückgewiesen (jeweils einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf handelt es sich um fünf französische Staatsangehörige, die alle Nachkommen von »Harkis« sind (»Harki«, zu deutsch Bewegung, bezeichnet einen aus Algerien stammenden muslimischen Hilfssoldaten. Die »Harkis« kämpften auf der Seite der französischen Armee im algerischen Unabhängigkeitskrieg [1954–1962]). Vier Bf sind Kinder der Familie Tamazount (Bsw 17131/19, 55810/20, 28794/21, 28830/21), die nach der 1962 erfolgten Unabhängigkeitserklärung Algeriens in Frankreich Aufnahme fand. (Anm: Nachdem sich Algerien für unabhängig erklärt hatte, wurden die »Harkis« Opfer zahlreicher Repressalien seitens ihrer ehemaligen Kriegsgegner. 1962 willigte Frankreich in eine Repatriierung von in ihrem Leben und ihrer Gesundheit bedrohten »Harkis«, die nach Frankreich ausreisen wollten, ein.). Nach ihrer Ankunft wurden die Bf in Repatriierungslager gebracht bzw kamen dort zur Welt. Der FünftBf, Herr Mechalikh (Bsw 19242/19), reiste 1980 nach Frankreich ein und hält sich seither im Land auf.

Beginnend mit 2001 wurde der unwürdige Umgang mit den »Harkis« in den Repatriierungslagern von den französischen Präsidenten feierlich anerkannt. 2022 wurde eine unabhängige Kommission zwecks Anerkennung der von den »Harkis« erlittenen Nachteile und Leistung einer Entschädigung dafür eingerichtet.

Zu den Bsw 17131/19, 55810/20, 28794/21 und 28830/21

Der ErstBf kam 1963 in einem Repatriierungslager zur Welt und wuchs dann in einem weiteren auf. Am 20.7.2011 wandte er sich an den französischen Premierminister mit einem Entschädigungsgesuch wegen schlechter Lebensbedingungen (Anm: Der Bf beklagte sich insb über den Mangel an Nahrung, die Verhängung einer Ausgangssperre, den Betrieb von Schulen innerhalb des Lagers und nicht über das normale Unterrichtssystem, die Kontrolle des Briefverkehrs und die Verwendung von Sozialhilfe zur Finanzierung der Ausgaben des Lagers.) in den Repatriierungslagern, das erfolglos blieb. Der Bf stellte sodann beim zuständigen Verwaltungsgericht einen Antrag auf Verurteilung des französischen Staats zur Leistung von Schadenersatz iHv einer Million Euro. Mit Urteil vom 10.7.2014 wies Letzteres den Antrag unter anderem mit der Begründung ab, die von den Behörden zugunsten der »Harkis« getroffenen finanziellen Maßnahmen und der Beitrag zu ihrer Integration in die Gesellschaft würden eine ausreichende Entschädigung für materielle und immaterielle Nachteile darstellen. Das Urteil wurde vom Verwaltungsgericht zweiter Instanz bestätigt.

Mit Urteil vom 3.10.2018 hob der vom Bf angerufene Conseil d’État das angefochtene Urteil teilweise auf. Begründend führte er aus, Frankreich könne weder für fehlende Interventionen beim algerischen Staat zum Schutz der »Harkis« und ihrer Familien vor Massakern noch für die nicht unternommene systematische Repatriierung verantwortlich gemacht werden. Die von den französischen Behörden getroffenen Entscheidungen hätten Handlungen der Regierung (acte de gouvernement) dargestellt, die lediglich die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien beträfen. Frankreich könne daher nicht wegen Versäumnissen gegenüber den »Harkis« belangt werden. Das Verwaltungsgericht zweiter Instanz habe allerdings nicht den Wert der vom Bf verlangten Wiedergutmachung für erlittene Nachteile ermittelt. Der Conseil d’État entschied in der Sache selbst und setzte die Entschädigung mit € 15.000,– fest.

Die Zweit- und DrittBf bzw die ViertBf, zwei Brüder und eine Schwester des ErstBf, wurden 1960 in Algerien bzw 1968 und 1969 im Lager Bias geboren. Sie lebten dort bis zu seiner Schließung 1975. Wie ihr Bruder stellten auch sie einen Antrag auf Entschädigung für erlittene Nachteile. Jedem von ihnen wurde schließlich € 15.000,– Entschädigung für materiellen und immateriellen Schaden zugesprochen.

Zur Bsw 19242/19

Der Bf ist der Sohn eines 1957 von der Algerischen Nationalen Befreiungsfront exekutierten »Harki«. Er gibt an, wegen der fehlenden Repatriierung in Frankreich wären er, seine Mutter und seine Geschwister Gegenstand von Schikanen, Beleidigungen und Gewaltakten in Algerien gewesen. Ein Antrag des Bf auf Entschädigung beim französischen Verteidigungsminister verlief ohne Erfolg, worauf er sich an die Gerichte wandte, die seine Klage mit der Begründung abwiesen, der Bf sei ohnehin in den Genuss staatlicher Wohltaten und Zuspruch einer Entschädigung iHv € 20.000,– an ihn und seine sechs Geschwister gekommen.

Am 3.10.2018 hob der Conseil d’État das Urteil auf und entschied in der Sache selbst. Er wies die Beschwerde mit der Begründung zurück, der Bf habe sie vor einer Gerichtsbarkeit erhoben, die für die Angelegenheit nicht zuständig sei. Die behaupteten erlittenen Nachteile würden den Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien unterfallen, für die der französische Staat wegen Versäumnissen nicht belangt werden könne.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupteten Verletzungen von Art 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art 6 Abs 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht), Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens bzw des Briefverkehrs) und von Art 1 (Recht auf Achtung des Eigentums) und Art 2 1. ZPEMRK (Recht auf Bildung).

Zur Verbindung der Beschwerden

(93) Angesichts der Tatsache, dass die Beschwerden auf den selben Tatsachen gründen und die darin vorgebrachten Rügen zumindest teilweise gleichartig sind, hält es der GH für angemessen, diese gemeinsam in einem einzigen Urteil zu untersuchen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK

(94) Laut den Bf wäre ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht wegen der Entscheidung des Conseil d’État verletzt worden, zur Behandlung ihrer Schadenersatzklage wegen behaupteter erlittener Nachteile, für die der französische Staat die Verantwortung trage, nicht zuständig zu sein. Frankreich habe es verabsäumt, einerseits die »Harkis« und ihre Familien vor Massakern auf algerischem Gebiet zu beschützen und andererseits eine systematische Repatriierung in Frankreich durchzuführen.

(95) Laut den Bf habe der Conseil d’État das dem französischen Staat vorgeworfene Verhalten fälschlicherweise als staatliche Handlungen qualifiziert. [...] Die fehlende Ergreifung von Maßnahmen durch den Staat zum Schutz und zur Repatriierung der »Harkis« und ihrer Familien müsse losgelöst von der Umsetzung der Vereinbarung von Évian (Anm: Darin vereinbarte Frankreich mit Algerien am 18.3.1962 einen sofortigen Waffenstillstand. Es enthält Regierungserklärungen hinsichtlich des Umgangs mit Algerien, jedoch keinen spezifischen Punkt betreffend den Umgang mit den auf Seiten der französischen Armee kämpfenden Hilfssoldaten.) und den Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien gesehen werden. Das von ihnen angeprangerte Versagen [der französischen Regierung] hätte sich vor der algerischen Unabhängigkeitserklärung ereignet. Zu dieser Zeit wären die »Harkis« noch französische Staatsangehörige gewesen, sodass der französische Staat verpflichtet gewesen wäre, sie zu beschützen.

Zur Zulässigkeit

(107) [...] Die Bf machten vor den Verwaltungsgerichten eine Wiedergutmachung für Nachteile geltend, die ihnen aufgrund der Verantwortung des französischen Staats für eigenes Verschulden entstanden wären. Gemäß gefestigter Rsp des Conseil d’État kann Staatenverantwortlichkeit auf eben dieser Grundlage eingefordert werden und wird ein Recht auf Ersatz der erlittenen Nachteile anerkannt, wenn die Voraussetzungen für den Eintritt einer solchen Verantwortung gegeben sind.

(108) Dazu möchte der GH anmerken, dass die Doktrin vom »Handeln der Regierung« (Anm: Damit wird ein Akt der Regierung charakterisiert, der der Kontrolle der Rechtmäßigkeit oder Fehlerhaftigkeit entzogen ist. Der Anwendungsbereich dieser Doktrin erstreckt sich neben Beziehungen zwischen den Staatsgewalten auch auf auswärtige (diplomatische) Beziehungen mit einem anderen Staat.), anhand der die Gerichte ihre eigene Zuständigkeit einschränken, bereits seit langer Zeit von den französischen Verwaltungsgerichten angewendet wird. Allerdings geht aus der nationalen Rsp hervor, dass es keine präzise Definition des »Handelns der Regierung« gibt und dass sich diese Doktrin mit der Zeit fortentwickeln kann. [...]

(109) Ferner ist festzuhalten, dass der Conseil d’État zum Zeitpunkt der Einbringung der Beschwerden der Bf [vor den Verwaltungsgerichten] in Entscheidungen vom 29.11.1968 und 27.6.2016 bereits seine Zuständigkeit für Entscheidungen über behauptete Versäumnisse des französischen Staats nach Abgabe der algerischen Unabhängigkeitserklärung verneint hatte. In beiden Angelegenheiten beklagten sich die Antragsteller*innen darüber, keine Entschädigung für die Beschlagnahme ihres Eigentums in Algerien erhalten zu haben. Im gegenständlichen Fall geht es jedoch um [...] unterschiedliche und neue Fragen, nämlich ob ein Recht existiert, eine Haftung des französischen Staats wegen seines Versäumnisses zu begründen, den »Harkis« und ihren Familien in Algerien Schutz angedeihen zu lassen und für ihre systematische Repatriierung in Frankreich zu sorgen. Insb aufgrund der vom ErstBf [...] und dem ZweitBf [...] eingereichten Beschwerden musste sich der Conseil d’État zum ersten Mal mit der Existenz eines solchen

Rechts auseinandersetzen.

(110) Der GH kommt daher zu der Ansicht, dass von Beginn der von den Bf angestrengten Verfahren an und in Ermangelung ausreichend ähnlicher gerichtlicher Präzedenzfälle ein wahrhafter und ernster Streit über die Existenz eines Rechts bestand, welches die Bf aus dem Regime der Staatenverantwortung für Versäumnisse abzuleiten trachteten. Für den GH steht somit der zivilrechtliche Charakter des strittigen Rechts außer Streit.

(111) Art 6 Abs 1 EMRK ist folglich auf die strittigen Verfahren anwendbar. Da dieser Beschwerdepunkt weder offensichtlich unbegründet noch aus einem sonstigen Grund nach Art 35 EMRK für unzulässig zu erklären ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(112) Im vorliegenden Fall hat sich der Conseil d’État zur Behandlung der Schlussfolgerungen der Bf für unzuständig erklärt, mit denen sie auf der Grundlage der Verantwortung des Staats für eigenes Verschulden Entschädigung für Nachteile begehrten, die ihnen aufgrund des fehlenden Schutzes von »Harkis« und ihren Familien in Algerien zum Zeitpunkt der Erlangung der Unabhängigkeit und des Versäumnisses der Organisation ihrer Repatriierung in Frankreich entstanden seien. Diese Unzuständigkeitserklärung, die sich auf die Doktrin vom »Handeln der Regierung« gründete, hinderte die Bf daran, eine meritorische Entscheidung über das Recht auf Wiedergutmachung zu erlangen, welches sie auf der Grundlage des Regimes der staatlichen Haftung für Verschulden geltend machen wollten, was eine Einschränkung ihres Rechts auf Zugang zu einem Gericht zur Folge hatte.

(113) Der GH wird nun prüfen, ob diese Einschränkung gerechtfertigt war, also insb ein legitimes Ziel verfolgte und gegenüber diesem verhältnismäßig war.

(114) Wie auch die Regierung ist der GH der Ansicht, dass die strittige Einschränkung ein legitimes Ziel verfolgte – in diesem Fall die Aufrechterhaltung der Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Judikative, was zur Folge hatte, dass die Gerichte diplomatische und militärische Entscheidungen im Zusammenhang mit Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien nach Abschluss der Vereinbarung von Évian nicht in Frage stellen konnten.

(115) In dieser Hinsicht möchte der GH in Erinnerung rufen, dass er bereits wiederholt die Bedeutung der Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Judikative hervorgehoben hat (vgl Baka/HU, Rz 165).

(116) Zur Frage, ob die Einschränkung zum verfolgten Ziel verhältnismäßig war, möchte der GH zuerst anmerken, dass trotz Fehlens von Kriterien, die es gestatten würden, auf allgemeine Art und Weise Handlungen der Regierung zu definieren, die Doktrin vom »Handeln der Regierung« Gegenstand einer engen Interpretation seitens der Verwaltungsgerichte ist, die den Begriff von Handlungen entwickelt haben, die losgelöst von der Führung diplomatischer oder auswärtiger Beziehungen des Staats anzusehen sind. Aus der innerstaatlichen Rsp ergibt sich, dass der Rückgriff auf einen solchen Begriff es gestattet hat, die Liste von Regierungshandlungen auf internationaler Ebene zu reduzieren, mag auch die Unzuständigkeit des Gerichts auf diesem Gebiet nicht genereller Natur sein.

(117) Was die Anwendung dieser Doktrin in den vorliegenden Angelegenheiten angeht, vertrat der Conseil d’État die Ansicht, dass eine Entscheidung über die Wohlbegründetheit der Entschädigungsanträge der Bf, die auf der Grundlage der Haftung des Staates für Verschulden gestellt worden waren, unweigerlich zur Verpflichtung geführt hätte, die Rechtmäßigkeit von Handlungen und Entscheidungen der französischen Regierung zu kontrollieren, welche die Ausübung von souveränen Befugnissen auf dem Gebiet der Außenpolitik und die Führung von Beziehungen mit Algerien im Kontext der Erlangung seiner Unabhängigkeit betrafen. Im vorliegenden Fall [...] nahm der Conseil d’État eine Überprüfung dahingehend vor, ob die strittigen Handlungen und Unterlassungen der französischen Behörden mit Blick auf im Vordergrund stehende innenpolitische Erwägungen (Anm: So führte etwa die öffentliche Berichterstatterin des Conseil d’État an, dass sich Frankreich für eine systematische Repatriierung von »Harkis« und ihren Familien

deswegen nicht geöffnet hatte, weil es nicht über ausreichende Mittel zu deren Unterbringung verfügte und Befürchtungen hegte, dass Mitglieder terroristischer Organisationen das Land infiltrieren könnten.) losgelöst vom diplomatischen Kontext und den internationalen Beziehungen Frankreichs betrachtet werden konnten. Er nahm nichtsdestotrotz den Standpunkt ein, dass es angebracht sei, Algerien ab dem Zeitpunkt der Eröffnung von Verhandlungen betreffend die Vereinbarung von Évian als zukünftigen Staat anzusehen, mit dem Frankreich diplomatische Beziehungen unterhalten werde. Der Conseil d’État leitete daraus ab, dass die von den Bf angeprangerten Handlungen und Unterlassungen der innerstaatlichen Behörden nicht getrennt von den Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien gesehen werden könnten und gemäß der Doktrin von »staatlichen Handlungen« keine Haftung des Staats für Versäumnisse zu begründen vermochten.

(119) Der GH möchte auch in Erinnerung rufen, dass er – was die Reaktion der Regierung auf Repatriierungsgesuche von in Syrien angehaltenen französischen Staatsangehörigen betrifft – die Ansicht vertreten hat, dass es ihm weder zukommt, sich in das institutionelle Gleichgewicht zwischen der Exekutive und den Gerichten des belangten Staats einzumischen, noch Hypothesen allgemeiner Natur anzustellen, unter welchen Umständen sie ihre Zuständigkeit abzulehnen haben (siehe H. F. ua/FR, Rz 281).

(120) Was [erstens] Entscheidungen politischer Natur hinsichtlich der Führung diplomatischer oder internationaler Beziehungen betrifft, insb solche, welche den Einsatz des Militärs zum Gegenstand haben, sieht der GH keinen Grund, seine eigene Einschätzung über die des Conseil d’État zu stellen, was die Auslegung innerstaatlichen Rechts angeht oder die Ansicht zu vertreten, dass dessen Position willkürlich oder offensichtlich unangemessen war.

(121) Zweitens war die Unzuständigkeitserklärung des Verwaltungsgerichts im vorliegenden Fall nicht von absolutem Charakter, da es ihm möglich war, über Behauptungen der Bf im Bereich der verschuldensunabhängigen Haftung des Staats zu erkennen. In seinen Entscheidungen vom 3.10.2018 bezüglich der vom ErstBf [...] und vom ZweitBf eingebrachten Beschwerden vertrat der Conseil d’État die Ansicht, dass die in der Sache erkennenden Richter*innen die Anforderungen von Art 6 EMRK nicht missachtet hatten, indem sie ihre Zuständigkeit ablehnten. Zur Stärkung dieser Position führte die öffentliche Berichterstatterin eine Entscheidung des Conseil d’État vom 27.6.2016 an. Daraus geht hervor, dass sich die Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte auf Klagen beschränkt, mit denen eine Wiedergutmachung für von der Regierung verursachte Nachteile begehrt wird, sofern diese Klagen auf die Haftung des Staats für Verschulden gestützt werden und ein anderer Rechtsweg existiert, um Wiedergutmachung für Nachteile zu beantragen,

die aus den im betroffenen Kontext ergriffenen Maßnahmen herrühren – und zwar einschließlich solcher, die in die Kategorie von Handlungen der Regierung fallen. Der Conseil d’État hat folglich die Möglichkeit anerkannt, eine verschuldensunabhängige Haftung des Staats auf der Grundlage der Gleichstellung der Bürger*innen vor der öffentlichen Hand zu begründen, um Gewähr für die Wiedergutmachung von Nachteilen zu bieten, die aus internationalen Übereinkommen entstanden sind – und zwar unter der Voraussetzung, dass diese Nachteile einen schwerwiegenden und speziellen Charakter aufwiesen und nicht als übliche den Betroffenen auferlegte Last angesehen werden konnten. In seiner Entscheidung vom 27.6.2016 hat der Conseil d’État insb eingeräumt, dass die Vereinbarung von Évian den Charakter eines internationalen Übereinkommens aufweise, aus der eine verschuldensunabhängige Haftung des Staats begründet werden könne.

(122) Im vorliegenden Fall brachten die Bf nicht vor, vor den Verwaltungsgerichten auf eine verschuldensunabhängige Haftung des Staats gedrungen zu haben, sondern behaupteten, dass die Verwaltungsgerichte gemäß gefestigter innerstaatlicher Rsp in jedem Fall von sich aus diese Haftungsgrundlage prüfen hätten müssen, wäre doch aus dem Akteninhalt [...] hervorgegangen, dass die Voraussetzungen für die Begründung einer solchen Haftung erfüllt waren.

(123) Im vorliegenden Fall vermag der GH nicht darüber zu spekulieren, ob [...] die Bedingungen für eine verschuldensunabhängige Haftung des Staats erfüllt waren, sodass diese Haftungsgrundlage von Amts wegen geprüft hätte werden müssen. Dies gilt auch für die Erfolgschancen einer auf einer verschuldensunabhängigen Haftung des Staats gestützten Klage, wäre sie von den Bf eingebracht worden (siehe, mutatis mutandis, NML Capital LTD/FR).

(124) Hingegen würde die mögliche Begründung einer verschuldensunabhängigen Haftung des Staats den Handlungen der Regierung eine relative »Uneinklagbarkeit« verleihen. In der Tat betraf die Unzuständigkeitserklärung des Conseil d’État nur einen Aspekt der Staatenverantwortung, der auf die Einschätzung eines eventuellen Verschuldens beschränkt war. Eine generelle und absolute Immunität, welche die Gerichte daran hindern konnte, über alle nachteiligen Konsequenzen von Handlungen der Regierung abzusprechen, wurde damit nicht begründet (vgl, mutatis mutandis, Markovic ua/IT, Rz 113–114).

(125) Schließlich ist der GH nicht überzeugt vom Vorbringen der Bf, wonach die Entscheidung der innerstaatlichen Instanzen, ihre Zuständigkeit zu verneinen (was den Zuspruch einer Entschädigung für erlittene Nachteile unmöglich gemacht hätte), in Widerspruch zu der Tatsache gestanden wäre, dass die politischen Autoritäten Versäumnisse des französischen Staats bei der Organisation der Rückkehr der »Harkis« zum Zeitpunkt der Erklärung der Unabhängigkeit seitens Algeriens anerkannt hätten. Vielmehr ist der GH der Auffassung, dass die Entscheidung der französischen Gerichte, sich für unzuständig zu erklären – was mit der Gewaltentrennung und der Weigerung der Gerichte, die Rechtmäßigkeit von Handlungen und Entscheidungen der Regierung in der Ausübung von souveränen Befugnissen auf dem Gebiet der Außenpolitik zu prüfen, gerechtfertigt wurde –, nicht unvereinbar war mit der politischen Anerkennung [staatlicher Versäumnisse] seitens der Exekutiv- oder Legislativbehörden, die [in dieser Frage] nicht dieselbe Zurückhaltung übten.

(126) Mit Blick auf die Gesamtheit der Umstände des Falls kommt der GH zu dem Schluss, dass die auf Basis der Doktrin von »Handlungen der Regierung« erfolgte Unzuständigkeitserklärung des Conseil d’État, die sich auf den Antrag der Bf bezog, den französischen Staat wegen des Versäumnisses haftbar zu machen, den »Harkis« und ihren Familien in Algerien Schutz zu gewähren und ihre systematische Repatriierung in Frankreich durchzuführen, nicht den Ermessensspielraum überschritt, den Staaten bei der Einschränkung des Rechts von Individuen auf Zugang zu einem Gericht genießen.

(127) Somit liegt keine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung der Art 3 und 8 EMRK und der Art 1 und 2 1. ZPEMRK (Bsw 17131/19, 55810/20, 28794/21 und 28830/21)

(128) Die Brüder Abdelkader, Aïssa und Brahim Tamazount sowie ihre Schwester Zohra Tamazount beklagen sich über die Lebensbedingungen im Lager von Bias, was eine Verletzung der Art 3 und 8 EMRK sowie der Art 1 und 2 1. ZPEMRK mit sich gebracht hätte. Sie beschweren sich insb über den unmenschlichen bzw erniedrigenden Charakter [...] ihrer Festhaltung im Lager, ferner über die Öffnung ihrer Post und von Paketen durch die Lagerverwaltung, die Verwendung von Sozialgeld für ihre Familie zur Bestreitung von Ausgaben für das Lager und die Abhaltung des Schulunterrichts in einer internen Schule des Lagers außerhalb des normalen öffentlichen Schulsystems.

(129) Der GH [...] wird den von den Bf angeprangerten unwürdigen Umgang der innerstaatlichen Behörden, was ihre erzieherischen Bedürfnisse angeht, [...] lediglich aus dem Blickwinkel der unter Art 3 und 8 EMRK sowie Art 1 1. ZPEMRK erhobenen Beschwerdepunkte prüfen.

Zulässigkeit

Zur Kompetenz ratione temporis des GH

(130) Laut der Regierung würde die Konvention und ihr 1. ZPEMRK nur auf Ereignisse ab dem 3.5.1974 Anwendung finden – dem Tag, an dem diese rechtlichen Instrumente in Bezug auf Frankreich in Kraft traten. Die [Frage betreffend die] Lebensbedingungen der Bf im Lager von Bias seien daher bis zum 2.5.1974 nicht von der Zuständigkeit des GH ratione temporis erfasst.

(131) Im Übrigen bringt die Regierung vor, dass die von den Bf geltend gemachten Tatsachen keine Situation einer andauernden Verletzung der EMRK darstellen würden, insb was die Öffnung von Briefen und die Nichtauszahlung von Sozialleistungen [...] angehe. Zu den Lebensbedingungen der Bf im Lager von Bias sei zu sagen, dass sich diese im Lauf der Jahre verbessert hätten und daher von einer gleichmäßigen und anhaltenden Periode nicht die Rede sein könne.

(137) Dazu ist seitens des GH festzuhalten, dass Frankreich die Konvention und ihr 1. ZP am 3.5.1974 ratifiziert hat. In dieser Erklärung hat Frankreich keine spezifischen zeitlichen Beschränkungen betreffend die Zuständigkeit der Konventionsorgane angegeben. Der GH ist daher der Ansicht, dass er für die Behandlung der behaupteten Konventionsverletzungen, soweit sie sich auf Ereignisse ab dem 3.5.1974 beziehen, zuständig ist.

(138) Was nun das Ersuchen der Bf betrifft, der GH möge seine temporäre Zuständigkeit auf Ereignisse vor dem 3.5.1974 erstrecken, sieht der GH im vorliegenden Fall keinen Grund, von seiner st Rsp abzugehen. Die von den Bf im Lager von Bias verbrachte Zeit vor dem Inkrafttreten der Konvention und ihres 1. ZP im Hinblick auf Frankreich fällt somit aus seiner Zuständigkeit ratione temporis. Nichtsdestoweniger kann der GH relevante frühere Tatsachen, die sich vor dem genannten Datum ereignet haben, in Betracht ziehen, um den Kontext und die Situation in ihrer Gesamtheit einzuschätzen.

(139) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass er zur Behandlung der von den Bf unter Art 3 und 8 EMRK sowie Art 1 1. ZPEMRK erhobenen Beschwerdepunkte bezüglich ihrer Lebensbedingungen im Lager von Bias ab dem 3.5.1974 zuständig ist [...].

Zur Opfereigenschaft der Bf

(140) Laut der Regierung komme den Bf keine Opfereigenschaft mehr iSv Art 34 EMRK zu. Erstens wäre jedem von ihnen von den Verwaltungsgerichten Entschädigung iHv € 15.000,– für erlittene Nachteile infolge der Lebensbedingungen im Lager von Bias zwischen 1963 [...] und 1975 und für Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte zugesprochen worden. [...] Zweitens hätten die innerstaatlichen Gerichte explizit oder der Sache nach die Gesamtheit der vor dem GH behaupteten Konventionsverletzungen [...] anerkannt. [...]

(142) Der GH vertritt die Ansicht, dass die Frage, ob die Bf nach wie vor behaupten können, Opfer einer Verletzung von Art 3 und 8 EMRK sowie des 1. ZPEMRK zu sein, eng mit der Bewertung ihrer Beschwerden in der Sache verknüpft ist [...]. Er wird daher die Prüfung der Einrede der Regierung im Zuge seiner meritorischen Entscheidung über die Beschwerden vornehmen.

(143) [...] Da die vorliegenden Beschwerdepunkte nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig sind, müssen sie vom GH für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Zum zu berücksichtigenden Zeitraum

(150) [...] Unter den Parteien herrscht Uneinigkeit darüber, wann das Lager von Bias geschlossen wurde. Mit Blick auf die im Akt enthaltenen Informationen wird der GH das in den internen Berichten [...] und in den Verwaltungsgerichtsurteilen [...] erwähnte Jahr heranziehen, nämlich das Jahr 1975.

Zum Charakter der von den nationalen Gerichten festgestellten Konventionsverletzungen

(151) Der GH möchte vorab unterstreichen [...], dass eine Prüfung der Aufnahme- und Lebensbedingungen der Bf im Lager von Bias zwischen dem 3.5.1974 und dem 31.12.1975 nur im Lichte des Wegs vorgenommen werden kann, wie er von von den innerstaatlichen Gerichten beschritten wurde, nämlich in Form eines allumfassenden Ansatzes betreffend die unterschiedlichen Rügen der Bf, um zur Feststellung der Unwürdigkeit dieser Situation zu gelangen. In dieser Hinsicht möchte der GH auf die Schwierigkeit der Datierung gewisser, von den Bf angeführter Ereignisse hinweisen, wie etwa die Öffnung ihrer Post und die Verwendung von ihnen zukommenden Sozialleistungen zur Bestreitung der Instandhaltungskosten des Lagers. [...]

(152) Dazu ist erstens zu sagen, dass das von den Bf im Lager von Bias erlittene Leid von den nationalen Gerichten voll anerkannt wurde. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Lebensbedingungen, denen die »Harkis« und ihre Familien in diesem Lager unterworfen wurden, auf eine Verletzung der Menschenwürde hinausliefen, für die der Staat verantwortlich zeichne. Die Gerichte erstreckten diese Feststellung dann auf die Einschränkung der Freiheitsrechte der Bf insb aufgrund der Kontrolle an sie gerichteter Briefe und Pakete, der Verwendung von Sozialhilfe zur Finanzierung der Ausgaben des Lagers und der Nichtabhaltung des Schulunterrichts für ihre Kinder an öffentlichen Schulen.

(153) Die innerstaatlichen Gerichte kamen zu diesem Ergebnis, nachdem sie Schlussfolgerungen der nationalen Behörden zu von diesen eingeholten Berichten zwecks Ermittlung der Lebensbedingungen in Repatriierungslagern, darunter das Lager von Bias, in Betracht gezogen hatten. Diese Berichte warfen ein Licht auf die prekären Lebensbedingungen der Bf vor allem wegen der schwachen Gebäudestruktur und schlechten Isolation der Unterkünfte, der Beengtheit darin, des eingeschränkten Zugangs zu Duschen, der Limitierung des Kontakts mit der Außenwelt und der Einführung einer Sperrstunde. Es war auch die Rede von einer Kontrolle von Briefen und Paketen seitens der Lagerverwaltung, der Übertragung von »Harkis« zustehenden Sozialleistungen auf ein spezielles Konto des nordafrikanischen Sozialdienstes, der zur Finanzierung der Lager diente, und der Abhaltung des Unterrichts für deren Kinder im Lager selbst außerhalb des staatlichen Schulsystems.

(154) Zweitens wurde zeitlich nach den im vorliegenden Fall ergangenen Gerichtsentscheidungen mit dem Gesetz Nr 229/2022 vom 23.2.2022 die »Verantwortung der Nation« für die unwürdigen Aufnahmebedingungen der »Harkis« und ihrer Familien wie auch für die Verletzung ihrer Grundfreiheiten anerkannt.

(155) Im Lichte dessen [...] kann der GH nur feststellen, dass die täglichen Lebensbedingungen der Einwohner*innen des Lagers von Bias, zu denen auch die Bf gehörten, mit der Achtung der Menschenwürde nicht vereinbar waren und außerdem von Verstößen gegen ihre persönlichen Freiheiten begleitet waren. Die innerstaatlichen Gerichte haben diese Verstöße zwar nicht ausdrücklich im Lichte der Bestimmungen der EMRK bewertet, jedoch geht aus deren internen Entscheidungen hervor, dass sie dem Wesen nach zur Feststellung einer Verletzung von Art 3 und 8 EMRK sowie Art 1 1. ZPEMRK gekommen sind.

(156) Es bleibt daher zu prüfen, ob die von den nationalen Gerichten zuerkannten Entschädigungen angemessen und ausreichend waren.

Zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzungen durch die nationalen Gerichte

(157) Mit Entscheidung vom 3.6.2018 sah der Conseil d’État die vom Staat ergriffenen finanziellen Maßnahmen zugunsten der ehemaligen Hilfstruppen der französischen Armee und ihrer Familien, verbunden mit der feierlichen Anerkennung der Nachteile, die sie alle erlitten hatten, nicht als ausreichend an, um die materiellen und immateriellen Nachteile auszugleichen. Laut dem Conseil d’État hätten diese Maßnahmen es nicht in adäquater und ausreichender Weise gestattet, für diese Nachteile Wiedergutmachung zu leisten [...].

(158) Jedem der Bf wurde von den nationalen Gerichten eine Gesamtsumme von € 15.000,– [Entschädigung] für zwischen sieben und 14 Jahren verbrachter Zeit in den Lagern zugesprochen, mit der alle Rügen und Nachteile abgegolten wurden. Ferner wurde auf die vierjährige Verjährigungsfrist verzichtet.

(159) Aus den Schlussfolgerungen der Berichterstatterin [...] zur von Herrn Abdelkader Tamazount eingereichten Kassationsbeschwerde geht hervor, dass diese Summe ermittelt wurde, indem der gewährte Pauschalbetrag auf die von den nationalen Instanzen verwendete Bemessungsgrundlage für unwürdige Anhaltebedingungen gestützt (das sind € 1.000,– pro Jahr der Anhaltung) und unter Berücksichtigung der Probleme mit der Schulausbildung [von Kindern der »Harkis«] entsprechend angehoben wurde.

(160) Der GH ist sich bewusst, dass sich die von den Bf erlittenen Nachteile [...] einschließlich einer Bewertung der unwürdigen Anhaltebedingungen angesichts des spezifischen historischen Kontexts nur schwer beziffern lassen. Er erinnert daran, dass die nationalen Behörden [...] besser in der Lage sind, die Höhe des Entschädigungsbetrags für aus unwürdigen Bedingungen resultierendem immateriellem Schaden festzulegen (siehe unter anderem Barbotin/FR, Rz 57).

(161) Allerdings [...] spricht die [behördliche] Feststellung einer Nichtbeachtung des Art 3 EMRK aufgrund erlittener Anhaltebedingungen stark für die Annahme, dass der bzw dem Betroffenen ein immaterieller Schaden zugefügt wurde. In diesem Zusammenhang möchte der GH bekräftigen, dass die Tatsache, ob eine bzw ein Bf Wiedergutmachung für erlittene Schäden – vergleichbar mit der von Art 41 EMRK vorgesehenen gerechten Entschädigung – erhalten hat, von Bedeutung ist. [...]

(162) Von diesen Prinzipien ausgehend ist der GH der Ansicht, dass die von den innerstaatlichen Gerichten zugesprochenen Entschädigungssummen im vorliegenden Fall keine angemessene und ausreichende Wiedergutmachung für die festgestellten Verletzungen darstellten. Was erstens die Verletzung von Art 3 EMRK angeht, waren die den Bf zugewiesenen Beträge bescheiden im Vergleich zu jenen, die der GH im Allgemeinen in Fällen betreffend unwürdige Anhaltebedingungen zuspricht. [...] Zweitens geht daraus hervor, dass die fraglichen Summen nicht die aus anderen Verletzungen der Konvention einschließlich des 1. ZPEMRK erlittenen Nachteile erfassten.

(163) Unter diesen Umständen und ungeachtet der [von den französischen Behörden unternommenen] wichtigen Aufarbeitungs- und Erinnerungsarbeit sowie der feierlichen Anerkennung [des Leids der »Harkis« und ihrer Familien] auf höchster Vollziehungsebene habe diese im Zuge der Fixierung des Entschädigungsbetrags für die Bf den besonderen Umständen ihrer Lebensbedingungen im Lager von Bias nicht ausreichend Rechnung getragen, um den festgestellten Konventionsverletzungen Abhilfe zu schaffen. Die Auszahlung der Entschädigungssummen vermochte sie daher nicht ihres Opferstatus in dieser Hinsicht zu berauben.

(164) Die Einrede der Regierung hinsichtlich der fehlenden Opfereigenschaft der Bf [...] ist folglich zu verwerfen. [...] Der Aufenthalt der Bf im Lager von Bias zwischen dem 3.5.1974 und dem 31.12.1975 führte somit zu einer Verletzung von Art 3 und 8 EMRK sowie von Art 1 1. ZPEMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 5 EMRK (Bsw 17131/19, 55810/20, 28794/21 und 28830/21)

(165) Die Brüder Abdelkader, Aïssa und Brahim Tamazount sowie ihre Schwester Zohra Tamazount beklagten sich zum ersten Mal in ihrem dem GH am 3.6.2022 vorgelegten Schriftsatz, dass ihr Aufenthalt im Lager von Bias eine unrechtmäßige Anhaltung entgegen Art 5 EMRK dargestellt habe.

(166) [...] Die vorliegende Beschwerde wurde verspätet eingebracht, nämlich mehr als sechs Monate nach den rechtskräftig ergangenen innerstaatlichen Entscheidungen vom 3.10.2018, 19.6.2020 und 3.12.2020.

(167) Dieser Beschwerdepunkt muss daher gemäß Art 35 Abs 1 und 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

(177) [...] Jeweils € 4.000,– an die Bf Abdelkader, Aïssa und Brahim Tamazount sowie ihre Schwester Zohra Tamazount für jedes im Lager von Bias verbrachte Jahr, wobei jedes angefangene Jahr als ganzes Jahr zählt, für materiellen und immateriellen Schaden.

(178) Insoweit der GH für die Jahre 1974 und 1975 zuständig ist, [...] hat Frankreich den vier Bf der Familie Tamazount folgende Beträge abzüglich der ihnen bereits im innerstaatlichen Verfahren auf Ratenbasis überwiesenen Summen zukommen zu lassen, nämlich € 5.694,– an Herrn Abdelkader Tamazount, € 4.250,– an Herrn Aïssa Tamazount, € 5.858,– an Frau Zohra Tamazount und € 3.716,– an Herrn Brahim Tamazount jeweils für materiellen und immateriellen Schaden.

(179) Der Antrag von Abdelkader, Aïssa, Brahim und Zohra Tamazount auf Ersatz der für das Verfahren vor dem GH aufgewendeten Kosten und Auslagen iHv € 20.000,– wird wegen fehlender Substantiierung zurückgewiesen (jeweils einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Markovic ua/IT, 14.12.2006, 1398/03 (GK) = NL 2007, 5

NML Capital LTD/FR, 13.1.2015, 23242/12 (ZE)

Baka/HU, 23.6.2016, 20261/12 (GK) = NLMR 2016, 267

Barbotin/FR, 19.11.2020, 25338/16

H. F. ua/FR, 14.9.2022, 24384/19 ua (GK) = NLMR 2022, 452

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.4.2024, Bsw. 17131/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 127) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise