JudikaturAUSL EGMR

Bsw10940/17 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Februar 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache M. H. und S. B. gg Ungarn, Urteil vom 22.2.2024, Bsw. 10940/17.

Spruch

Art 5 Abs 1 EMRK - Inhaftierung von ohne Altersbestimmung als volljährig angesehenen Kindern nach unerlaubter Einreise.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 6.500,– an den ErstBf und € 5.000,– an den ZweitBf für immateriellen Schaden; je € 2.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der aus Afghanistan stammende ErstBf wurde am 29.4.2016 von den ungarischen Behörden nahe der Grenze aufgegriffen. Am folgenden Tag ordnete die Behörde seine Ausweisung an, woraufhin er beim Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft um internationalen Schutz ersuchte. Gemäß der Niederschrift seiner Befragung gab er an, am 1.1.1996 geboren zu sein. Aufgrund des Asylantrags wurde die Ausweisung ausgesetzt. Bei der Ersteinvernahme am 1.5.2016 wurde als Geburtsdatum erneut der 1.1.1996 protokolliert.

Auf Anordnung des Amts für Einwanderung und Staatsbürgerschaft wurde der ErstBf im Anhaltezentrum Kiskunhalas untergebracht. Nachdem die Freiheitsentziehung am 3.5. vom Verwaltungsgericht verlängert worden war, brachte der ErstBf am 4.5. erstmals vor, minderjährig zu sein. Die Behörde teilte ihm daraufhin mit, es bestünden angesichts seiner Angaben keine Zweifel an seiner Volljährigkeit. Er könne sein Alter jedoch durch Vorlage eines Identitätsdokuments im Original oder durch eine auf eigene Kosten durchgeführte Altersbestimmung beweisen. Am 29.6.2016 verlängerte das Verwaltungsgericht erneut die Anhaltung, ohne dabei auf die behauptete Minderjährigkeit einzugehen. Am 5.8.2016 beendete die Asylbehörde die Anhaltung des ErstBf, nachdem sein Rechtsvertreter Kopien von Identitätsdokumenten vorgelegt hatte, aus denen hervorging, dass er im Jahr 2000 geboren wurde.

Der ZweitBf ist Staatsangehöriger Pakistans. Er stellte am 16.6.2016 einen Asylantrag, nachdem er von der Grenzpolizei aufgegriffen worden war. Bei seiner Befragung wurde protokolliert, er sei 1998 geboren. Am 17.6. ordnete das Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft seine Anhaltung an. Nach der gerichtlichen Verlängerung der Haft beantragte der ZweitBf am 23.6.2016 unter Verweis auf seine Minderjährigkeit seine Unterbringung in einer offenen Aufnahmeeinrichtung. Daraufhin wurde ihm mitgeteilt, er könne sein Alter durch die Vorlage entsprechender Dokumente oder eine auf eigene Kosten durchzuführende Altersfeststellung nachweisen. Nachdem die bulgarischen Behörden aufgrund eines Antrags auf Übernahme gemäß der Dublin III-VO mitgeteilt hatten, dass der ZweitBf als Minderjähriger registriert worden sei und daher nicht übernommen werden könne, ordnete das Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft am 10.8.2016 eine Altersbestimmung an. Ein Gutachter stellte am 19.8.2016 die Minderjährigkeit des ZweitBf fest, woraufhin die Behörde am 23.8. seine Freiheitsentziehung beendete.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit).

Verbindung der Beschwerden

(54) Angesichts des ähnlichen Gegenstands der Beschwerden erachtet es der GH als angemessen, sie gemeinsam [...] zu prüfen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 5 EMRK

(59) Die Bf brachten vor, ihre Inhaftierung habe gegen Art 5 Abs 1 EMRK verstoßen [...].

Zulässigkeit

(60) [...] Die Beschwerden sind weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK angeführten Grund unzulässig. Sie sind daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze zu Art 5 Abs 1 EMRK

(66) [...] Art 5 Abs 1 EMRK enthält in lit a bis lit f eine abschließende Liste zulässiger Gründe, aus denen Personen die Freiheit entzogen werden darf. [...]

(67) Jede Freiheitsentziehung muss nicht nur in eine der in lit a bis lit f genannten Ausnahmen fallen, sondern auch »rechtmäßig« sein. Soweit es um die »Rechtmäßigkeit« der Haft geht [...], verweist die Konvention in erster Linie auf das nationale Recht und verpflichtet dazu, dessen materiellen und prozessualen Vorschriften zu entsprechen. [...] Zusätzlich verlangt Art 5 Abs 1 EMRK, dass jede Freiheitsentziehung mit dem Zweck des Schutzes des Einzelnen vor Willkür vereinbar ist.

(68) Nach einem in der Rsp entwickelten allgemeinen Grundsatz ist eine Freiheitsentziehung »willkürlich«, wenn sie zwar dem Buchstaben des nationalen Gesetzes entsprach, aber ein Element der Bösgläubigkeit oder der Täuschung seitens der Behörden vorlag. [...]

(69) [...] Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auf eine Freiheitsentziehung nach Art 5 Abs 1 lit f EMRK nur insofern anwendbar, als die Haft nicht unverhältnismäßig lange dauern darf.

(70) Um nicht gemäß Art 5 Abs 1 lit f EMRK als willkürlich qualifiziert zu werden, muss die Freiheitsentziehung in gutem Glauben erfolgen und in enger Verbindung zum Zweck der Verhinderung der unerlaubten Einreise stehen. Ort und Bedingungen der Anhaltung müssen angemessen sein [...] und die Freiheitsentziehung darf nicht länger dauern als für den verfolgten Zweck notwendig.

Grundsätze und Überlegungen zur Anhaltung minderjähriger Migrant*innen

(71) Verschiedene internationale Gremien, einschließlich des Europarats, fordern die Staaten zunehmend dazu auf, die Inhaftierung von Kindern im Zusammenhang mit der Einreise zügig und vollständig zu beenden oder abzuschaffen. Sie anerkennen klar die vorrangige Bedeutung des Kindeswohls und des Grundsatzes der Vermutung der Minderjährigkeit im Hinblick auf unbegleitete Kinder, die als Migrant*innen nach Europa kommen.

(72) Wie der GH wiederholt betont hat, muss die extreme Vulnerabilität eines Kindes ein entscheidender Faktor sein, dem Vorrang vor Überlegungen hinsichtlich seines Status als irregulärer Einwanderer zukommt. Aus der stRsp des GH zu dieser Angelegenheit ergibt sich, dass die Anhaltung von einwandernden Kindern in einer Hafteinrichtung vermieden werden sollte und dass nur eine kurze Anhaltung unter angemessenen Bedingungen als mit Art 5 Abs 1 EMRK vereinbar angesehen werden könnte, vorausgesetzt allerdings die nationalen Behörden können nachweisen, [...] sich zunächst vergewissert zu haben, dass keine andere Maßnahme gesetzt werden konnte, die eine weniger schwerwiegende Einschränkung der Freiheit mit sich gebracht hätte.

Beurteilung des vorliegenden Falls

(74) Der GH erachtet es nicht als notwendig zu entscheiden, ob die Freiheitsentziehung der Bf unter [...] Art 5 Abs 1 lit f EMRK fiel. Er erinnert daran, dass [...] Art 5 Abs 1 EMRK unabhängig davon, welcher Haftgrund betroffen ist, auch verlangt, dass die Freiheitsentziehung dem nationalen Recht entspricht und keine Willkür vorliegt. Aus den unten dargelegten Gründen ist der GH der Ansicht, dass dieser Anforderung im Hinblick auf keinen der Bf entsprochen wurde [...].

(75) [...] Zur Zeit der fraglichen Ereignisse waren beide Bf minderjährig, was von den innerstaatlichen Behörden letztendlich festgestellt wurde. Nach innerstaatlichem Recht konnten minderjährige Asylwerber unter keinen Umständen inhaftiert werden. Allerdings kann nicht übergangen werden, dass die Bf gegenüber den Behörden zunächst angegeben haben, erwachsen zu sein. Auf der Grundlage dieser Informationen wurden sie inhaftiert. Erst ein paar Tage später behaupteten sie, minderjährig zu sein. In einer solchen Situation können die innerstaatlichen Behörden berechtigte Bedenken über die Verlässlichkeit der Aussagen der Bf über ihr Alter gehabt haben und es könnte daher angemessen gewesen sein, davon Abstand zu nehmen, sie sofort nach diesen Behauptungen in eine Aufnahmeeinrichtung für Kinder zu bringen. Die bloße Tatsache, dass die Bf behaupteten, minderjährig zu sein, nachdem sie sich anfangs als Erwachsene ausgegeben hatten, konnte es aber nicht rechtfertigen, diese Behauptungen ohne angemessene Maßnahmen zur Feststellung des Alters der Bf zurückzuweisen. Der GH erinnert daran, dass der extremen Vulnerabilität eines Kindes Vorrang vor Überlegungen betreffend seinen Status als irregulärer Einwanderer zukommen muss, und er stellt fest, dass ein einwanderndes Kind nachvollziehbare Gründe dafür haben kann, sein wirkliches Alter nicht zu enthüllen, wie etwa Ungewissheit darüber oder die Furcht, von einer Gruppe oder einem erwachsenen Verwandten getrennt zu werden.

(76) Der GH kann den ihm übermittelten Informationen keine innerstaatliche Bestimmung entnehmen, die sich auf die Situation von Asylwerbern bezieht, die auf eine Altersbestimmung oder auf deren Abschluss warten. [...] Die Parlamentarische Versammlung des Europarats rief die Mitgliedstaaten mit ihrer Resolution Nr 2195 (2017) dazu auf, alternative Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder, die auf eine Altersbestimmung warten [...], zur Verfügung zu stellen. Aus Sicht des GH ist die Anhaltung minderjähriger Einwanderer in Haftanstalten zu vermeiden [...].

(77) [...] Der ErstBf brachte am 4.5.2016 vor, minderjährig zu sein. Er wurde schließlich aufgefordert, sein Alter durch Vorlage eines Identitätsdokuments im Original oder durch eine auf seine Kosten durchgeführte Altersbestimmung nachzuweisen. Am 29.6.2016 verlängerte das innerstaatliche Gericht seine Anhaltung, ohne auf die behauptete Minderjährigkeit einzugehen. Nachdem der Rechtsvertreter des ErstBf am 30.6.2016 ein afghanisches Identitätsdokument vorgelegt hatte, dem später weitere ähnliche Dokumente folgten, beendete die Asylbehörde am 5.8.2016 die Inhaftierung unter Verweis auf die Minderjährigkeit. In den innerstaatlichen Entscheidungen findet sich keine Erklärung, warum das am 30.6.2016 vorgelegte Dokument nicht als ausreichend angesehen wurde, um die Behörden wenigstens zur Durchführung einer Altersbestimmung zu veranlassen, wie dies vom Rechtsvertreter des ErstBf beantragt wurde, oder warum es erst einen Monat später übersetzt wurde. [...] Der ErstBf wurde folglich noch drei Monate lang angehalten, nachdem er die Behörde über seine Minderjährigkeit informiert hatte.

(78) Der ZweitBf brachte am 23.6.2016 vor, minderjährig zu sein. Wie dem ErstBf wurde ihm gesagt, er könne sein Alter durch Vorlage eines Identitätsdokuments im Original oder durch eine auf eigene Kosten durchgeführte Altersbestimmung nachweisen. Als er schließlich anbot, dafür zu bezahlen, stellte sich heraus, dass eine Altersbestimmung nicht auf Antrag einer Privatperson durchgeführt werden konnte. Das Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft ordnete erst am 10.8.2016, nachdem sie über die Registrierung des ZweitBf in Bulgarien als Minderjähriger und die Unmöglichkeit einer Überstellung [...] informiert worden war, die Altersbestimmung an. Das [...] Gericht verlängerte die Inhaftierung des ZweitBf ohne auf seine mögliche Minderjährigkeit einzugehen. Nachdem es das medizinische Gutachten erhalten hatte, wonach der ZweitBf zwischen 16 und 17 Jahre alt war, beendete das Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft die Inhaftierung am 23.8.2016, also zwei Monate nach seiner Behauptung, minderjährig zu sein. [...]

(79) Wie daraus folgt, blieben die Bf erhebliche Zeit in Haft, nachdem sie behauptet hatten, minderjährig zu sein. Die ihre Freiheitsentziehung betreffenden Entscheidungen, die nach diesen Behauptungen der Minderjährigkeit ergingen, erklärten nicht, warum weniger schwerwiegende Maßnahmen nicht angemessen gewesen wären. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Verzögerungen bei der Feststellung ihres Alters notwendig waren. Der GH findet es besonders bedenklich, dass die innerstaatlichen Behörden die Bf als Erwachsene ansahen, nur weil sie die Angaben über ihr Alter geändert hatten, anstatt im Zweifel zu ihren Gunsten zu entscheiden und ihr Wohl zu berücksichtigen. Zudem legten sie ihnen die Beweislast für die Widerlegung dieser Vermutung auf und missachteten damit die Tatsache, dass es für inhaftierte Asylwerber – und erst recht für Kinder – eine herausfordernde und potenziell sogar unmöglich zu erfüllende Aufgabe sein kann, die zum Nachweis des Alters erforderlichen Beweise zu erlangen.

(80) [...] Die obigen Umstände zeigen, dass es die innerstaatlichen Behörden verabsäumten, rasch und unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohls zu handeln. Die nach der Behauptung der Bf, minderjährig zu sein, fortgesetzte Freiheitsentziehung erfolgte nicht im guten Glauben und war somit willkürlich. Daher begründete sie eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK (einstimmig).

(81) Was die Zeit vor dem Vorbringen der Minderjährigkeit betrifft, [...] erachtet der GH eine gesonderte Prüfung nicht als notwendig (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 6.500,– an den ErstBf und € 5.000,– an den ZweitBf für immateriellen Schaden; je € 2.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Mubilanzila Mayeka und Kaniki Mitunga/BE, 12.10.2006, 13178/03 = NL 2006, 244

Saadi/GB, 29.1.2008, 13229/03 (GK) = NL 2008, 18

Suso Musa/MT, 23.7.2013, 42337/12

G. B. ua/TR, 17.10.2019, 4633/15

M. H. ua/HR, 18.11.2021, 15670/18, 43115/18 = NLMR 2021, 497

Darboe und Camara/IT, 21.7.2022, 5797/17 = NLMR 2022, 339

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.2.2024, Bsw. 10940/17, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 13) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise