JudikaturAUSL EGMR

Bsw43868/18 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Februar 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Wa Baile gg die Schweiz, Urteil vom 20.2.2024, Bsw. 43868/18.

Spruch

Art 8, 13, 14 EMRK - Diskriminierende Behandlung aufgrund von Hautfarbe im Zuge von Identitätskontrolle durch Polizei.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK in seinem materiellrechtlichen Aspekt(einstimmig).

Verletzung von Art 13 EMRK hinsichtlich der Rüge des Bf unter Art 14 iVm Art 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: Der Bf hat keinen Antrag auf Zuspruch von materieller oder immaterieller Entschädigung gestellt. € 23.975,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf ist schweizerischer Staatsbürger. Am 5.2.2015 wurde er gegen 7:05 Uhr am Hauptbahnhof Zürich von drei Polizisten angehalten, um ihn einer Identitätskontrolle zu unterziehen. Als der Bf sich weigerte, der Anordnung Folge zu leisten, nahmen ihn die Beamten zur Seite und ersuchten ihn, die Arme zu heben und die Beine zu spreizen. Sie durchsuchten seine Kleidung und seinen Rucksack, in dem sie schließlich einen Personalausweis fanden. Nachdem seine Identität geklärt war, wurde dem Bf das Verlassen des Orts gestattet.

In seinem Bericht gab der für die Personenkontrolle verantwortlich zeichnende Polizeibeamte A. zu Protokoll, dass eine Person männlichen Geschlechts mit brauner Hautfarbe, die später als Herr Baile identifiziert worden sei, seine Aufmerksamkeit erregt habe. Letzterer sei ihm verdächtig erschienen, nachdem er sich, als er A. am Bahnhof wahrgenommen habe, von ihm abgewendet und versucht habe, sich von ihm zu entfernen. Aufgrund des Verdachts einer Zuwiderhandlung gegen das Ausländergesetz habe er sich dazu entschieden, am Bf eine Personenkontrolle vorzunehmen.

Zum Strafverfahren (Bsw 43868/18)

Mit Strafbefehl vom 16.3.2015 wurde über den Bf vom Stadtrichteramt Zürich wegen Nichtbefolgens einer polizeilichen Anordnung iSv Art 4 iVm Art 26 der Allgemeinen Polizeiverordnung der Stadt Zürich eine Geldstrafe iHv CHF 100,– verhängt. Sein dagegen erhobener Einspruch an das Bezirksgericht Zürich blieb erfolglos.

Der Bf erhob daraufhin Berufung beim Obergericht des Kantons Zürich, worin er insb vorbrachte, die Identitätskontrolle sei lediglich wegen seiner Hautfarbe erfolgt. Mit Urteil vom 25.8.2017 wies dieses die Berufung mit der Begründung ab, für das Vorliegen einer diskriminierenden Behandlung bestünden keine Anhaltspunkte, sei doch nach dem – als glaubwürdig eingestuften – Vorbringen des A. die Identitätskontrolle lediglich aufgrund des Verhaltens des Bf und nicht wegen seiner Hautfarbe erfolgt. Abgesehen davon sei der Bf nicht die einzige Person gewesen, die an diesem Tag kontrolliert worden sei. Man dürfe auch nicht die am Züricher Hauptbahnhof vorherrschende spezielle Situation als hochfrequentierter Ort übersehen, wo regelmäßige Polizeikontrollen notwendig seien, um die Einhaltung fremdenrechtlicher Bestimmungen sicherzustellen.

Der Bf wandte sich daraufhin mit einer Beschwerde an das Bundesgericht, welches diese mit Urteil vom 7.3.2018 mit der Begründung abwies, die vom Obergericht des Kantons Zürich durchgeführte Beweiswürdigung sei nicht willkürlich gewesen. Was die von ihm wegen »Racial Profiling« als diskriminierend erachtete Personenkontrolle angehe, basiere seine Kritik auf einem anderen als dem von der ersten Instanz willkürfrei festgestellten und damit für das Bundesgericht verbindlichen Sachverhalt. Insoweit sei auf seine Beschwerde nicht näher einzugehen.

Zum Verwaltungsverfahren (Bsw 25883/21)

Am 22.3.2016 beantragte der Bf bei der Stadtpolizei Zürich, die am 5.2.2015 erfolgte Personenkontrolle unter anderem wegen erlittener Diskriminierung für ungültig zu erklären. Mit Entscheidung vom 20.12.2018 wies diese den Antrag mit dem Hinweis ab, es sei an die Feststellungen der Strafgerichte gebunden und eine Beweislastumkehr zugunsten des Bf könne im vorliegenden Fall nicht Anwendung finden. In der Folge rief der Bf im Instanzenweg das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich an. Dieses hob die Entscheidungen der Vorinstanzen mit Urteil vom 1.10.2020 auf und erklärte die Personenkontrolle für rechtswidrig, da diese den Anforderungen des Polizeigesetzes betreffend die Anhaltung von Personen zwecks Identitätskontrolle nicht entsprochen habe.

Dagegen erhob der Bf Beschwerde an das Bundesgericht, worin er rügte, das Verwaltungsgericht habe es unterlassen, eine Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK zu prüfen. Mit Urteil vom 23.12.2020 erklärte Letzteres die Beschwerde mit der Begründung für unzulässig, der Bf könne kein schutzwürdiges Interesse an einer Aufhebung oder Abänderung der angefochtenen Entscheidung vorweisen, habe er doch vor dem Verwaltungsgericht vollständig obsiegt. Da er lediglich eine Ergänzung der Begründung des Verwaltungsgerichts beantragt habe, wozu er offenkundig nicht berechtigt sei, habe er auch keinen Anspruch darauf, dass die umstrittene Polizeikontrolle noch zusätzlich unter dem Gesichtspunkt der Konvention geprüft werde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete Verletzungen von Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) iVm Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) und von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zur Verbindung der Beschwerden

(57) [...] Angesichts des gleichartigen Inhalts der Beschwerden hält es der GH für angemessen, diese gemeinsam in einem einzigen Urteil zu untersuchen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK

(58) Laut dem Bf hätten die Personenkontrolle und die Untersuchung, denen er unterzogen worden sei, wie auch die über ihn verhängte Geldstrafe [wegen Nichtbefolgung einer polizeilichen Anordnung] eine Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe dargestellt.

Zulässigkeit

Zur Opfereigenschaft

(61) Die Regierung ist der Ansicht, dass der Bf sich nicht mehr als Opfer einer Konventionsverletzung iSv Art 34 EMRK betrachten könne, habe er doch mit seinem Fall im innerstaatlichen Verfahren gänzlich obsiegt. [...]

(62) Dem entgegnet der Bf, dass die schweizerischen Gerichte bis heute nicht das Vorliegen einer rassischen Diskriminierung festgestellt hätten, deren Opfer er geworden sei. [...]

(64) Der GH erinnert daran, dass das Obergericht des Kantons Zürich in seinem Urteil vom 25.8.2017 [...] die Ansicht vertrat, dass die ihm zur Verfügung stehenden Beweise nicht darauf hindeuteten, dass die [von der Polizei durchgeführte] Personenkontrolle aus offensichtlich diskriminierenden Gründen erfolgt sei oder dass ihr Ablauf einen schikanösen oder diskriminierenden Charakter gehabt habe. Das Bundesgericht hat dieses Urteil [...] bestätigt und die strafrechtliche Verurteilung des Bf gutgeheißen. Im Verwaltungsverfahren stellte das Verwaltungsgericht fest, dass die Personenkontrolle unrechtmäßig gewesen sei, gleichzeitig ließ es die Frage der vom Bf behaupteten diskriminierenden Behandlung aufgrund seiner Hautfarbe offen. Dieses Urteil wurde vom Bundesgericht [...] bestätigt, welches anmerkte, der Bf habe mit seinem Anliegen gänzlich obsiegt, was zur Folge habe, dass er kein schützenswertes Interesse mehr an einer Aufhebung oder Abänderung der angefochtenen Entscheidung habe.

(65) [...] Der GH vermag daher die Einschätzung der Regierung nicht zu teilen [...]. Weder das Urteil des Verwaltungsgerichts noch irgendeine andere innerstaatliche Entscheidung hat auf eine Verletzung des Verbots der Diskriminierung iSv Art 14 iVm Art 8 EMRK erkannt. Zu einer Wiedergutmachung der behaupteten Verletzung ist es daher nicht gekommen.

(66) Angesichts des Vorgesagten kann sich der Bf als Opfer einer Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK erachten.

Zur Vereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae

(67) Die Regierung zieht zwar die Anwendbarkeit von Art 14 iVm Art 8 EMRK auf den gegenständlichen Fall nicht in Zweifel, jedoch möchte der GH aus Eigenem folgende Anmerkungen tätigen.

(71) Er hat in den Fällen Muhammad/ES (Rz 50–51) und Basu/DE (Rz 27) festgehalten, dass eine Rüge wegen einer als diskriminierend erachteten Identitätskontrolle aus rassistischen Motiven in den Anwendungsbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens iSv Art 8 EMRK fallen könne, sodass folglich Art 14 iVm Art 8 EMRK auf einen solchen Fall Anwendung finde. Bei der Prüfung, ob in einem konkreten Fall der Schweregrad [für die Anwendung des Rechts auf Achtung des Privatlebens] erreicht worden sei, müsse die betroffene Person glaubhaft machen können, dass sie aufgrund spezifischer körperlicher oder ethnischer Merkmale gezielt kontrolliert worden sei. Eine vertretbare Behauptung könne insb dann gegeben sein, wenn die betroffene Person geltend mache, dass nur sie oder andere Personen mit den gleichen Merkmalen einer Identitätskontrolle unterzogen worden sei(en) und wenn die Kontrolle aus keinem anderen ersichtlichen Rechtfertigungsgrund erfolgt sei oder wenn schließlich die Erklärungen der die Personenkontrolle vornehmenden Polizeibeamt*innen äußerliche oder ethnische Motive für die Kontrolle erkennen lassen konnten. In den beiden vorzitierten Fällen wies der GH ferner darauf hin, dass die Tatsache, dass sich die Identitätskontrolle im öffentlichen Raum abgespielt habe, negative Auswirkungen auf den Ruf und die Selbstachtung der kontrollierten Person haben könne (vgl Basu/DE, Rz 25).

(72) Im vorliegenden Fall ist die Frage, ob die Rüge des Bf in den Anwendungsbereich von Art 8 EMRK fällt und folglich Art 14 iVm Art 8 EMRK zur Anwendung kommen könnte, eng mit dem Gegenstand der Beschwerde verbunden. Der GH wird daher die Frage der Vereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae, was die allfällige Verpflichtung der Gerichte angeht, eine Prüfung dahingehend vorzunehmen, ob diskriminierende Motive für die beim Bf durchgeführte Identitätskontrolle eine Rolle gespielt haben, im Zuge der meritorischen Behandlung der Beschwerde untersuchen.

Schlussfolgerungen zur Zulässigkeit der Beschwerde

(73) Da dieser Beschwerdepunkt weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Verfahrensrechtlicher Aspekt: zur behaupteten Verletzung der Verpflichtung zu Nachforschungen, ob diskriminierende Motive eine Rolle spielten

(90) [...] [Der GH erinnert daran], dass Rassendiskriminierung eine besonders schwerwiegende Form der Diskriminierung darstellt, die angesichts ihrer gefährlichen Folgen [für die davon betroffenen Personen] eine besondere Wachsamkeit und eine entschlossene Reaktion seitens der Behörden erfordert [...].

(94) [...] Mit Blick auf die Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts, wonach die Personenkontrolle, welcher der Bf unterzogen worden war, durch kein wie immer geartetes objektives Motiv gerechtfertigt war, vertritt der GH die Auffassung, dass die zuständigen Behörden unter einer Verpflichtung gestanden wären, nachzuprüfen, ob die Identitätskontrolle und Durchsuchung, welchen der Bf unterworfen wurde, von einem rassistischen Motiv getragen waren oder nicht.

(95) [...] Der Bf hat nun mehrere Rügen vorgebracht, die sich auf die von den zuständigen Behörden des Kantons Zürich getroffene Sachverhaltsfeststellung und die Beweiserhebung beziehen. Der GH hält es nicht für notwendig, darauf eine endgültige Antwort zu geben. Er wird seine Untersuchung vielmehr auf die Prüfung der Frage beschränken, ob die nationalen Gerichte im Zuge der vom Bf gegen seine strafrechtliche Verurteilung eingelegten Rechtsmittel und im Zuge der Rechtswidrigkeitserklärung der bei ihm durchgeführten Personenkontrolle den Vorwurf dahinter stehender rassistischer Motive ordnungsgemäß geprüft und ihre diesbezüglichen Entscheidungen ausreichend begründet haben.

Zum Strafverfahren (Bsw 43868/18)

(96) Was zuerst das Strafverfahren betrifft, hat sich das Bezirksgericht Zürich in seinem Urteil vom 7.11.2016 mit der Feststellung begnügt, es sei durch nichts belegt, dass bei der von den Polizeibeamten durchgeführten Personenkontrolle die Hautfarbe einen entscheidenden Faktor dargestellt habe. Das vom Bf angerufene Obergericht des Kantons Zürich kam zu dem Schluss, dass die verfügbaren Beweise, nämlich insb die Vorbringen des Polizeibeamten A. und des Bf, keinen Hinweis erkennen ließen, dass die Personenkontrolle aus offenkundig diskriminierenden Motiven erfolgt wäre. Auch der Ablauf der Kontrolle scheine keine Anhaltspunkte dafür zu bieten, man könnte glauben, sie hätte einen schikanösen oder diskriminierenden Charakter aufgewiesen. In seinem Urteil vom 7.3.2018 begnügte sich das Bundesgericht schließlich damit, die strafrechtliche Verurteilung des Bf zu bestätigen und mit der Feststellung, dass die von der Unterinstanz vorgenommene Beweiswürdigung nicht willkürlich gewesen sei.

Nach Ansicht des GH war somit der vom Bf getätigte Vorwurf, Opfer einer rassistischen Behandlung geworden zu sein, in Summe nicht Gegenstand einer gründlichen Kontrolle seitens der innerstaatlichen Strafgerichte. Zu guter Letzt lud das Züricher Bezirksgericht – welches weit davon entfernt war, eine separate Untersuchung hinsichtlich des glaubhaften Vorbringens des Bf durchzuführen, einer rassistischen Diskriminierung unterworfen worden zu sein – diesem zur Gänze die Beweislast für seine Behauptungen auf.

(97) Der GH möchte auch anmerken, dass der einschlägigen innerstaatlichen Gerichtspraxis zufolge der einzige Fall, bei dem keine Verpflichtung besteht, einer polizeilichen Anordnung Folge zu leisten, dann gegeben ist, wenn die fragliche Anordnung mit Nichtigkeit behaftet ist. Gemäß der »Evidenztheorie« ist eine Anordnung null und nichtig, wenn sie mit einem tiefgreifenden und wesentlichen Mangel behaftet ist oder wenn dieser schwerwiegende Mangel offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist. Aus der Rsp des Bundesgerichts geht hervor, dass eine Anordnung nach Lage des Falls nichtig ist, wenn es sich um Verfahrensfehler oder besonders schwerwiegende Mängel handelt. Mängel, die den Inhalt einer Anordnung betreffen, führen nur ausnahmsweise zu deren Nichtigkeit. Nach Ansicht des GH kann unter derartigen Umständen die Unvereinbarkeit einer Anordnung mit der Konvention im Allgemeinen nicht als Nichtigkeitsgrund angesehen werden – und zwar auch dann nicht, wenn wie im vorliegenden Fall die Frage, ob die strittige Kontrolle auf diskriminierenden oder insb rassistischen Motiven beruhte, nicht von den Gerichten geprüft werden konnte.

(98) Was schließlich die Argumentation des Bundesgerichts angeht, wonach sich die [vom Bf vorgebrachte] Rüge hinsichtlich des rassistischen und diskriminierenden Hintergrunds der strittigen Kontrolle auf einem anderen als dem von der ersten Instanz willkürfrei festgestellten Sachverhalt gegründet habe, findet der GH diese zu formalistisch. Er möchte im Übrigen unterstreichen, dass die Unterinstanz ihrerseits den Vorwurf einer rassistischen Diskriminierung nur sehr kurz erörterte.

Zum Verwaltungsverfahren (Bsw 25883/21)

(99) Zum Verwaltungsverfahren ist zu sagen, dass alle drei der vom Bf angerufenen Verwaltungsbehörden des Kantons Zürich seinen Antrag auf Nichtigerklärung der Polizeikontrolle mit der Begründung ablehnten, sie wären an die Tatsachenfeststellungen der Strafbehörden gebunden.

(100) Im Übrigen erklärte das Verwaltungsgericht, welches die Entscheidungen der Unterinstanzen, wie vom Bf begehrt, aufhob, die Polizeikontrolle vom 5.2.2015 für rechtswidrig, da es die Ansicht vertrat, dass diese selbst unter der Annahme nicht gerechtfertigt werden konnte, sie habe ihren Ursprung im sich Abwenden des Bf [von den Polizeibeamten] gehabt. Das Verwaltungsgericht vertrat zudem die Auffassung, dass angesichts der Tatsache der Nichtigerklärung der Polizeikontrolle [...] die Frage, ob die Hautfarbe des Bf eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung von A., den Bf einer polizeilichen Kontrolle zu unterziehen, offen bleiben konnte.

(101) Das vom Bf angerufene Bundesgericht kam schließlich zu der Ansicht, dass dieser kein schützenswertes Interesse an einer Aufhebung oder Abänderung der angefochtenen Entscheidung vorweisen und er daher keine Rüge in dieser Hinsicht vorbringen könne. Für den GH steht somit fest, dass das Bundesgericht es ebenfalls unterlassen hat, den vom Bf erhobenen Vorwurf der rassistischen Diskriminierung zu untersuchen.

Schlussfolgerung

(102) Angesichts des Vorgesagten und insb mit Blick auf die konkreten Umstände und den Ort (Hauptbahnhof Zürich) der am Bf vorgenommenen Identitätskontrolle kommt der GH zu dem Ergebnis, dass der erforderliche Schweregrad erreicht wurde, um das Recht [des Bf] auf Achtung seines Privatlebens iSv Art 8 EMRK ins Spiel zu bringen. Dieser vermag daher vertretbar zu behaupten, Opfer einer Diskriminierung aufgrund seiner Hautfarbe zu sein. Art 14 iVm Art 8 EMRK findet daher auf den gegenständlichen Fall Anwendung. In der Sache ist zu sagen, dass dieser Beschwerdepunkt Gegenstand einer effektiven Untersuchung weder durch die Verwaltungs- noch durch die Strafgerichte wurde [...].

(103) Folglich ist es zu einer verfahrensrechtlichen Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK gekommen, was die Verpflichtung anbelangt, Nachforschungen anzustellen, ob diskrimierende Motive eine Rolle bei der Personenkontrolle des Bf gespielt hatten (einstimmig).

Materiellrechtlicher Aspekt: zum angeblich diskriminierenden Charakter der Identitätskontrolle

(127) Zu rassistischen Diskriminierungen hat der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung in seiner Allgemeinen Empfehlung Nr 36 vom 17.12.2020 klargestellt, dass Vertragsstaaten die Pflicht trifft, aktive Maßnahmen zu setzen, um von ihren Gesetzen, ihren Politiken und ihren Institutionen herrührenden Diskriminierungen ein Ende zu setzen. Sie müssten auch darüber wachen, dass in ihrem internen Rechtssystem geeignete und wirksame Mechanismen zur Verfügung stehen, die es gestatten würden, Fälle von rassistischer Diskriminierung anzuprangern und dieser Praxis ein Ende zu setzen. Darüber hinaus sei es vorrangig, dass die Rechtsanwender*innen korrekt über ihre Verpflichtungen informiert und in die Lage versetzt würden, Entscheidungen darüber zu treffen, wie Praktiken rassistischer Diskriminierung vermieden werden könnten.

(128) Was nun gerade den belangten Staat angeht, hat besagter UN-Ausschuss in seinen Schlussanmerkungen vom 27.12.2021 betreffend die Schweiz die Ansicht vertreten, dass die Ausbildung von schweizerischen Polizeibeamt*innen unzureichend sei, um auf effektive Art und Weise jeglichen Rassismus und jegliche rassistische Diskriminierung von ihrer Seite zu verhindern.

(129) Im Übrigen hat die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (EKRI) in ihrem [...] am 19.3.2020 veröffentlichten Bericht zur Schweiz empfohlen, die Polizei in der Frage der rassistischen Diskriminierung und beim Gebrauch des »Standards angemessener Verdachtsgründe« besser auszubilden. Sie riet auch dringend zur Schaffung einer von der Polizei und den Strafverfolgungsbehörden unabhängigen Einrichtung, die mit der Untersuchung von Fällen behaupteter rassistischer Diskriminierung und missbräuchlichen Verhaltens der Polizei aus rassistisch motivierten Gründen betraut ist.

(130) Angesichts des Vorgesagten kommt der GH zu dem Schluss, dass das Fehlen eines ausreichenden rechtlichen und administrativen Regelwerks [auf diesem Gebiet] zu diskriminierenden Identitätskontrollen führte.

(132) Was nun speziell die Beweislast in solchen Angelegenheiten angeht, hat der GH bereits festgehalten, dass wenn ein(e) Bf die Existenz einer unterschiedlichen Behandlung nachgewiesen hat, es an der Regierung liegt nachzuweisen, dass diese gerechtfertigt war. [...]

(134) Der GH möchte auch nicht außer Acht lassen, dass die zuständige Kammer im Fall Basu/DE – nachdem sie eine Verletzung der Verpflichtung [der Behörden] festgestellt hatte, Nachforschungen anzustellen, ob eine diskriminierende Einstellung für die Vornahme der Identitätskontrolle am Bf eine Rolle gespielt haben könnte – sich für die Prüfung der Frage unzuständig erklärte, ob der Bf aufgrund seiner ethnischen Herkunft einer Identitätskontrolle unterzogen worden war (siehe Rz 38 des zitierten Urteils). Er ist dennoch der Ansicht, dass sich die gegenständliche Angelegenheit vom Fall Basu/DE zumindest in einem entscheidenden Punkt unterscheidet, der die Fortsetzung der Prüfung dieser Frage im vorliegenden Fall zu rechtfertigen vermag. Dieser Punkt ist der folgende: Im vorliegenden Fall kam das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich in seinem Urteil vom 1.10.2020 zu dem Schluss, dass die beim Bf durchgeführte Personenkontrolle, insoweit sie auf den vom Polizeibeamten [A.] [in seinem Bericht vom 26.2.2015] angeführten Gründen basiert habe, rechtswidrig gewesen sei und nicht aus objektiven Gründen gerechtfertigt habe werden können. Der GH leitet daraus ab, dass im vorliegenden Fall aufgrund Nichtvorliegens eines für besagte Kontrolle gültigen Motivs eine erhebliche Vermutung für die These spricht, wonach die Identitätskontrolle einschließlich der Personendurchsuchung auf diskriminierenden Motiven beruhte. Die Regierung hat vor dem GH keinerlei Elemente angeführt, welche diese Vermutung im konkreten Fall widerlegen könnten. Zwar brachte sie vor, dass der Bf nicht die einzige Person gewesen sei, die am fraglichen Tag kontrolliert wurde, jedoch präzisierte sie nicht, wieviele Personen einer solchen Kontrolle unterzogen worden seien, geschweige denn, dass sie andere relevante Details in dieser Hinsicht nannte. [...] Von der Regierung wurde jedenfalls keinerlei Erklärung abgegeben, die im gegenständlichen Fall eine Nichtvorlage derartiger Beweise rechtfertigen könnte. Ihr Vorbringen erweist sich daher als zu vage, um dem GH die Schlussfolgerung zu erlauben, dass von der Vermutung einer diskriminierenden Behandlung keine Rede sein kann.

(135) Der GH möchte auch in Erinnerung rufen, dass gewisse internationale Menschenrechtsinstanzen über Fälle von diskriminierender und rassistischer Behandlung durch die Polizei in der Schweiz berichtet haben. (Anm: Vgl den Schlussbericht des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung vom 27.12.2021 betreffend die Schweiz, CERD/C/CHE/CO/10-12, und den in Rz 129 des vorliegenden Urteils erwähnten Bericht von EKRI.). Dies wird im Übrigen vom Vorbringen mancher Drittbeteiligter wie insb Amnesty International bestätigt. In ihrer Gesamtheit gesehen können derartige Berichte bzw Äußerungen der widerlegbaren Vermutung Unterstützung verleihen, wonach der Bf Opfer einer diskriminierenden Behandlung wurde. [...]

(136) [...] Zwar sind dem GH die Schwierigkeiten durchaus bewusst, mit denen Polizeibeamt*innen konfrontiert sind, wenn sie sehr schnell – und ohne in den Genuss von notwendigerweise klaren internen Verhaltensregeln zu kommen – auf eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit reagieren müssen. Im konkreten Fall ist jedoch von einer Vermutung auszugehen, dass der Bf Opfer einer diskriminierenden Behandlung wurde, welche die Regierung nicht zu widerlegen vermochte. Folglich ist eine Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK festzustellen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 13 EMRK (Bsw 25883/21)

(137) [...] Der Bf beklagt sich auch darüber, nicht über einen effektiven Rechtsbehelf verfügt zu haben, der es ihm ermöglicht hätte, die von ihm unter Art 14 iVm Art 8 EMRK vorgebrachte Rüge [von den innerstaatlichen Gerichten] untersuchen zu lassen. [...]

(142) Dieser Beschwerdepunkt [...] ist für zulässig zu erklären (einstimmig).

(147) Der GH erinnert an seine Schlussfolgerungen zum verfahrensrechtlichen Aspekt von Art 14 iVm Art 8 EMRK, nämlich dass die vertretbare Rüge des Bf, er habe eine diskriminierende Behandlung aufgrund seiner Hautfarbe erlitten, nicht Gegenstand einer effektiven Untersuchung seitens der schweizerischen Gerichte war. Im Wesentlichen aus denselben Gründen kommt der GH zu dem Schluss, dass der Bf vor den nationalen Instanzen nicht in den Genuss eines wirksamen Rechtsbehelfs kam, womit er seine Rüge geltend machen hätte können, er wäre im Zuge der an ihm vorgenommenen Identitätskontrolle und Durchsuchung einer diskriminierenden Behandlung unterzogen worden.

(148) [...] Somit hat eine Verletzung von Art 13 EMRK hinsichtlich der Rüge des Bf unter Art 14 iVm Art 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

Der Bf hat keinen Antrag auf Zuspruch von materieller oder immaterieller Entschädigung gestellt. € 23.975,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Makaratzis/GR, 20.12.2004, 50385/99 (GK) = NLMR 2005, 6

Natchova ua/BG, 6.7.2005, 43577/98 ua (GK) = NL 2005, 187

Basu/DE, 18.10.2022, 215/19 = NLMR 2022, 444

Muhammad/ES, 18.10.2022, 34085/17 = NLMR 2022, 448

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.2.2024, Bsw. 43868/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 52) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise