Bsw16760/22 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Executief van de Moslims van België ua gg Belgien, Urteil vom 13.2.2024, Bsw. 16760/22.
Spruch
Art 9, 14 EMRK; Art 10 GRC, Art 13 AEUV - Verbot der rituellen Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung.
Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 9 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 14 iVm Art 9 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf handelt es sich um sieben NGOs (Bsw 16760/22), welche die muslimische Gemeinschaft in Belgien vertreten, und um nationale und regionale religiöse Autoritäten der türkischen und marokkanischen muslimischen Gemeinschaft. Ferner wurden von 13 belgischen Staatsangehörigen muslimischen und jüdischen Glaubens Beschwerden eingebracht (Bsw 16849/22 ua).
Das Wohlergehen von Tieren fiel ursprünglich in die Kompetenz des belgischen Staates. Art 15 Abs 1 des Gesetzes über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere vom 14.8.1986 (im Folgenden: Gesetz vom 14.8.1986) sah, von gewissen Ausnahmen abgesehen, die Verpflichtung vor, ein Tier erst nach erfolgter Betäubung zu schlachten. Laut Art 16 Abs 1 Unterabs 2 leg cit fand dieses Erfordernis jedoch auf Schlachtungen, die durch einen religiösen Ritus vorgeschrieben waren, keine Anwendung.
Nach einer 2014 erfolgten Gesetzesreform fielen die Angelegenheiten des Tierwohls fortan in die Zuständigkeit der drei belgischen Regionen (Flandern, Wallonien, Brüssel-Hauptstadt). In der Folge erließen die Regionen Flandern und Wallonien Gesetzesdekrete vom 7.7.2017 bzw vom 4.10.2018, mit denen die Schlachtung von Tieren ohne vorherige tödliche Betäubung zwar untersagt wurde, jedoch bei rituellen Schlachtungen ausnahmsweise eine Betäubung vorgenommen werden durfte, die nicht zum Tod des Tieres führte. In der Region Brüssel-Hauptstadt blieb die Rechtslage unverändert.
In der Folge wandten sich mehrere Bf an den belgischen Verfassungsgerichtshof und begehrten die Aufhebung des flämischen Dekrets. Letzterer setzte daraufhin das Verfahren aus und wandte sich an den EuGH unter anderem mit der Frage, ob das Verbot der Vornahme der Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung mit dem EU-Recht vereinbar sei. Mit Urteil vom 17.12.2020 kam der EuGH zu dem Schluss, dass Art 26 Abs 2 Unterabs 1 lit c der VO (EG) Nr 1099/2009 (Anm: Verordnung (EG) Nr 1099/2009 des Rates vom 24.9.2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung, ABl L 2009/303. Art 26 Abs 2 Unterabs 1 lit c der VO bestimmt, dass Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Schlachtung von Tieren nationale Vorschriften erlassen können, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung als in der VO vorgesehen sichergestellt wird.), gelesen im Licht von Art 13 AEUV und Art 10 Abs 1 GRC, dahin auszulegen sei, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats, die im Rahmen der rituellen Schlachtung eine Betäubungsprozedur vorschreibe, die umkehrbar und nicht geeignet sei, den Tod des Tieres herbeizuführen, nicht entgegenstehe. (Anm: EuGH 17.12.2020, C-336/19 (Centraal Israëlitisch Consistorie van België ua gg Vlaamse Regering [GK]) = NLMR 2020, 514.) Art 26 Abs 2 Unterabs 1 lit c der VO (EG) Nr 1099/2009 verstoße auch nicht gegen die Art 20, 21 oder 22 GRC (Anm: Diese Bestimmungen garantieren die Gleichheit vor dem Gesetz, die Nichtdiskriminierung und die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.), nur weil Art 4 der Verordnung die Mitgliedstaaten ermächtige, Maßnahmen wie die verpflichtende Betäubung im Rahmen der rituellen Schlachtung zu treffen, aber keine vergleichbare Bestimmung für die Tötung von Tieren bei der Jagd oder der Fischerei enthalte.
Mit Urteilen vom 30.9.2021 wies der Verfassungsgerichtshof die Anträge der Bf als unbegründet ab: Das flämische Dekret stelle zwar eine Einschränkung der Religionsfreiheit dar, jedoch diene es einem im öffentlichen Interesse stehenden legitimen Ziel, dem auch durch das dem EG Vertrag beigefügte Protokoll Nr 33 über den Tierschutz und das Wohlergehen von Tieren Rechnung getragen worden sei. Der Schutz des Tierwohls bei Schlachtungen stelle einerseits einen moralischen Wert dar, der von vielen Personen in Flandern geteilt würde, andererseits gehe aus den erläuternden Anmerkungen zum fraglichen Dekret hervor, dass man damit auf eine wachsende Sensibilisierung der Bevölkerung hinsichtlich des Wohlergehens von Tieren reagieren wollte.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten Verletzungen von Art 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) alleine und iVm Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Zur Verbindung der Beschwerden
(41) Angesichts des gleichartigen Inhalts der Beschwerden hält es der GH für angemessen, diese gemeinsam in einem einzigen Urteil zu untersuchen (einstimmig).
Zur Opfereigenschaft der Bf
(48) Die Regierung erhebt zwei Unzulässigkeitseinreden betreffend die Opfereigenschaft der bf Organisationen (Bsw 16760/22) und jener des Bf Benizri (Bsw 17314/22).
Zur Opfereigenschaft der bf Organisationen
(49) Laut der Regierung hätten die sieben Organisationen, welche Muslime in Belgien vertreten, nicht überzeugend darlegen können, dass sie Opfer einer Konventionsverletzung iSv Art 34 EMRK seien, wären sie doch nicht daran gehindert, [...] rituellen Schlachtungen nachzugehen. Letztere würden daher durch die strittigen Gesetzesdekrete nicht in Frage gestellt.
(52) Der GH hat im Kontext von Art 9 EMRK bereits festgehalten, dass ein kirchliches oder religiöses Organ die von dieser Konventionsbestimmung garantierten Rechte im Namen ihrer Anhänger*innen ausüben kann (vgl Cha’are Shalom Ve Tsedek/FR, Rz 72).
(53) Im vorliegenden Fall handelt es sich bei den bf Vereinigungen um Organisationen, welche die muslimische Gemeinschaft in Belgien vertreten, und um nationale und regionale religiöse Autoritäten der türkischen und marokkanischen muslimischen Gemeinschaft. Sie haben [...] die Unterweisung im muslimischen Ritus zum Ziel. Zu diesem Zweck wird von ihnen [...] auch die Bescheinigung von dem Ritus entsprechenden Schlachtungen organisiert.
(54) Unter diesen Umständen können sich die Organisationen [...], welche die Bsw 16760/22 eingebracht haben, als Opfer der behaupteten Verletzungen iSv Art 34 EMRK ansehen. Die erste Einrede der Regierung muss daher verworfen werden (einstimmig).
Zur Opfereigenschaft der individuellen Bf
(55) [...] Die Regierung bringt zum ersten Mal vor, dass der Bf Benizri sich nicht als Opfer iSv Art 34 EMRK ansehen kann, wohne dieser doch in der Region Brüssel-Hauptstadt, wo die strittigen Gesetzesdekrete nicht zur Anwendung kämen. Er wäre daher von diesen nicht »direkt betroffen«.
(56) Der GH hält es nicht für notwendig, darüber zu entscheiden, ob die Einrede der Regierung mit Blick auf Art 55 VerfO (Anm: Danach müssen Einreden der Unzulässigkeit, soweit ihre Natur und die Umstände es zulassen, von der beschwerdegegnerischen Vertragspartei in ihren nach Art 51 oder 54 abgegebenen Stellungnahmen zur Zulässigkeit der Beschwerde vorgebracht werden.) verwirkt ist, da die Frage der Opfereigenschaft [...] von ihm aus eigenem Antrieb geprüft werden kann.
(58) Herr Benizri und der Bf Guigui (Bsw 16871/22) wohnen in der Region Brüssel-Hauptstadt [...]. [...]
(60) Sie vermögen daher nicht überzeugend darzulegen, einer Kategorie von Personen anzugehören, die unmittelbar unter den Auswirkungen der strittigen Gesetzesdekrete zu leiden droht, da diese nicht auf die Region Brüssel-Hauptstadt Anwendung finden. [...] Sie können sich daher nicht als Opfer einer Verletzung ihrer von Art 9 und 14 EMRK garantierten Rechte erachten.
(61) Die Bsw 16871/22 und 17314/22 sind daher mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ratione personae und müssen gemäß Art 35 Abs 3 lit a und Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).
(62) Was die Beschwerden der anderen individuellen Bf [...] betrifft, die in der flämischen bzw der wallonischen Region ansässig sind, sind diese mit den Bestimmungen der Konvention vereinbar ratione personae [und müssen daher für zulässig erklärt werden] (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 9 EMRK
(63) Laut den Bf stelle das Verbot der rituellen Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung einen ungerechtfertigten Eingriff in ihre von Art 9 EMRK geschützte Religionsfreiheit dar.
Zulässigkeit
Zur Anwendbarkeit von Art 9 EMRK
(64) Die Rügen der Bf betreffen zum einen das von den strittigen Gesetzesdekreten vorgesehene Verbot der Tierschlachtung gemäß ihren religiösen Vorstellungen, zum anderen die Schwierigkeit, wenn nicht sogar Unmöglichkeit, sich mit Fleisch von geschlachteten Tieren zu versorgen, welches ihren religiösen Vorstellungen entspricht.
(65) Der GH hat bereits bekräftigt, dass die rituelle Schlachtung von Tieren in das Recht auf Bekundung der Religion im Wege der Befolgung religiöser Bräuche fällt (vgl Cha’are Shalom Ve Tsedek/FR, Rz 74). Er hat ebenso festgehalten, dass Einschränkungen oder Vorschriften bezüglich von Nahrungsmitteln auf das Vorliegen einer religiösen Praxis hindeuten können (vgl Vartic/RO (Nr 2), Rz 35 und Erlich und Kastro/RO, Rz 22).
Ergebnis
Da der vorliegende Beschwerdepunkt unter Art 9 EMRK weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK angeführten Grund unzulässig ist, muss ihn der GH für zulässig erklären (einstimmig).
Bewertung durch den GH
Liegt ein Eingriff vor?
(82) [...] In der Beschwerdesache Cha’are Shalom Ve Tsedek/FR kam der GH zu dem Schluss, dass das von Art 9 EMRK garantierte Recht auf Religionsfreiheit kein Recht auf persönliche Vornahme der rituellen Schlachtung und auf deren Bescheinigung umfasse, da die Bf [eine jüdisch-orthodoxe Vereinigung] und ihre Mitglieder nicht konkret der Möglichkeit beraubt worden waren, sich mit gemäß ihren religiösen Überzeugungen zubereitetem Fleisch zu versorgen und es zu verzehren. Er leitete daraus ab, dass die Weigerung [der Behörden, der Bf eine Genehmigung zur rituellen Schlachtung gemäß ihren religiösen Anschauungen zu erteilen], keinen Eingriff in ihre Religionsfreiheit dargestellt habe.
(83) Wie auch die Bf ist der GH der Meinung, dass sich der vorliegende Fall von der Beschwerdesache Cha’are Shalom Ve Tsedek/FR unterscheidet. Nun stand bei letzterem aber eine Vorschrift im Mittelpunkt, welche die Vornahme einer rituellen Schlachtung durch dazu befugte »Schächter« [einer anerkannten Religionsgemeinschaft] einschränken wollte, während die strittige Maßnahme im vorliegenden Fall die rituelle Schlachtung untersagt, wenn diese nicht ohne vorherige Betäubung durchgeführt wird.
(84) Die Regierung vertritt die Ansicht, dass angesichts dessen, dass die strittigen Gesetzesdekrete die rituelle Schlachtung nur unter einem Aspekt ritueller Handlungen – nämlich des Fehlens einer vorherigen Betäubung – verbieten, die religiösen Überzeugungen der Bf in dieser Hinsicht nicht das notwendige Maß an Gewicht und Bedeutung aufweisen würden, um von einem Eingriff sprechen zu können.
(85) [...] Der GH sieht sich kaum in der Lage, sich einer Debatte über den Charakter und die Bedeutung individueller Überzeugungen zu stellen. [...]
(86) Es kommt ihm daher nicht die Erörterung der Frage zu, ob die vorherige Betäubung bei der Schlachtung mit den Vorstellungen von gläubigen Muslimen und Juden übereinstimmt. Die Tatsache, dass laut dem Vorbringen der Regierung bei muslimischen und jüdischen Gemeinschaften in dieser Frage eine interne Diskussion oder divergierende Ansichten bestehen, vermag die Bf des Genusses ihrer von Art 9 EMRK garantierten Rechte jedenfalls nicht zu berauben.
(87) Es genügt an dieser Stelle der Hinweis, dass aus den parlamentarischen Debatten, die der Erlassung der zwei strittigen Gesetzesdekrete vorangingen, hervorgeht, dass das Fehlen einer vorherigen Betäubung bei der Schlachtung einen religiösen Brauch darstellt, dem ein ausreichendes Maß an Aussagekraft, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutung für zumindest gewisse Mitglieder der muslimischen und jüdischen Gemeinschaft, der die Bf angehören, innewohnt.
(88) Unter diesen Umständen geht der GH von einem Eingriff in die Religionsfreiheit aus [...].
Zur Rechtfertigung des Eingriffs
War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?
(89) Der gegenständliche Eingriff war vom Gesetz ausdrücklich vorgesehen, nämlich von Art 15 des Gesetzesdekrets [vom 14.8.1986 idF vom 7.7.2017] für die Region Flandern und von Art D 57 Abs 1 des Gesetzesdekrets [vom 14.8.1986 idF vom 4.10.2018] für die Region Wallonien. Die Bf stellen nicht in Abrede, dass diese Bestimmungen die [...] Kriterien der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit erfüllen.
Verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel?
(90) Laut der Regierung diene das Ziel der Verhinderung von vermeidbarem Leid für zum Verzehr vorgesehenen Tieren während der Schlachtung dem Schutz der Moral und dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer iSv Art 9 Abs 2 EMRK, denen es gemäß ihrer Lebensauffassung um das Wohlergehen der Tiere gehe. Der belgische Verfassungsgerichtshof hat diese beiden legitimen Ziele bei seiner Prüfung ebenso herangezogen [...]. [...]
(92) Im vorliegenden Fall muss sich der GH zum ersten Mal zur Frage äußern, ob der Schutz des Tierwohls einem der von Art 9 Abs 2 EMRK verfolgten Ziele zugeordnet werden kann. [...]
(93) Eingangs ist festzuhalten, dass – im Gegensatz zum EU-Recht, bei dem das Wohlergehen von Tieren eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung [...] darstellt – die Konvention keinen derartigen Schutzgegenstand kennt. Art 9 Abs 2 EMRK enthält in der Liste erschöpfender legitimer Ziele, die einen Eingriff in die Freiheit jedes Einzelnen, seine Religion zu bekennen, rechtfertigen können, keinen ausdrücklichen Hinweis auf den Schutz des Tierwohls.
(94) Andererseits hat der GH bereits aus mehreren Anlässen anerkannt, dass der Schutz von Tieren eine von Art 10 EMRK geschützte Frage des allgemeinen Interesses darstellt (siehe PETA Deutschland/DE, Rz 47 und Tierbefreier e.V./DE, Rz 59). Zudem hat er im Fall Friend ua/GB, Rz 50, der das Verbot der Treibjagd von Füchsen betraf, [...] eingeräumt, dass die Verhinderung von Tierleid einen Eingriff in die von Art 11 EMRK garantierten Rechte zwecks Schutzes der Moral rechtfertigen könne.
(95) Mit Blick darauf, dass der gegenständliche Fall Art 9 EMRK zum Gegenstand hat [...], möchte der GH folgende Anmerkungen tätigen. Im Gegensatz zum Vorbringen der Bf kann der Schutz der öffentlichen Moral, auf den Art 9 Abs 2 EMRK Bezug nimmt, nicht dahingehend verstanden werden, dass er sich einzig und allein auf den Schutz der Menschenwürde im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen erstreckt. In dieser Hinsicht ist anzumerken, dass die Konvention kein Interesse an der Umwelt hat, in der Personen leben, die sie beschützen will. Die Konvention kann aber auch nicht derart interpretiert werden, dass sie die absolute Befriedigung von [...] Rechten und Freiheiten ohne Berücksichtigung des Leids von Tieren mit der Begründung fördert, Art 1 EMRK würde lediglich Personen zum Vorteil gereichen.
(96) Der GH möchte auch unterstreichen, dass der Begriff der »Moral« seinem Wesen nach evolutiv ist. Was in einer vorgegebenen Epoche einmal als moralisch akzeptabel angesehen wurde, kann sich nach einer gewissen Zeit ändern.
(97) Er erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass es sich bei der Konvention um ein lebendiges Instrument handelt, welches im Lichte der aktuellen Lebensbedingungen und -vorstellungen ausgelegt werden muss, wie sie heutzutage in demokratischen Staaten vorherrschen. [...]
(98) In dieser Hinsicht nimmt der GH Kenntnis von der Aussage des belgischen Verfassungsgerichtshofs, wonach die Förderung des Schutzes und des Wohlergehens von Tieren als fühlende Wesen einen moralischen Wert darstelle, der von zahlreichen Personen in den Regionen Flandern und Wallonien geteilt werde. Dies lässt sich auch dadurch belegen, dass eine sehr große Mehrheit von Abgeordneten des flämischen und des wallonischen Parlaments der Annahme der strittigen Gesetzesdekrete zugestimmt hat. Der GH sieht keinen Grund, diese Überlegungen in Frage zu stellen, die in den Vorbereitungsarbeiten zu den beiden Gesetzesdekreten klar und begründet zum Ausdruck kommen.
(99) Im Übrigen geht aus [einer vom GH durchgeführten] rechtsvergleichenden Analyse hervor, dass andere Konventionsstaaten ebenfalls Gesetze verabschiedet haben, die in dieselbe Richtung wie die beiden Gesetzesdekrete gehen. Damit wird die wachsende Bedeutung der Berücksichtigung des Tierwohls in mehreren Vertragsstaaten des Europarats bestätigt. Der GH sieht auch keinen Grund, dem EuGH [...] und dem belgischen Verfassungsgerichtshof [...] zu widersprechen, die beide die Auffassung vertraten, dass das Wohlergehen von Tieren einen ethischen Wert darstelle, dem zeitgenössische demokratische Gesellschaften zunehmend Bedeutung einräumen würden und der bei der Bewertung von Einschränkungen von nach außen kundgetanenen religiösen Überzeugungen Berücksichtigung finden solle.
(100) Aus dem Vorgesagten ergibt sich, dass der GH die wachsende Bedeutung, die dem Schutz des Tierwohls beigemessen wird, Rechnung tragen darf, noch dazu, wo es im vorliegenden Fall um die Prüfung der Berechtigung des mit einer Einschränkung des Rechts auf Freiheit der Ausübung der Religionsfreiheit verfolgten Ziels geht.
(101) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass der Schutz des Tierwohls dem Begriff »öffentliche Moral« zugeordnet werden kann, der ein legitimes Ziel iSv Art 9 Abs 2 EMRK darstellt.
War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?
(105) [...] Dem in den beiden strittigen Gesetzesdekreten vorgesehenen Verbot ging eine bewusst getroffene Entscheidung der Landesgesetzgeber im Zuge eines ausgereiften und wohlüberlegten parlamentarischen Prozesses voraus. Der GH möchte darauf hinweisen, dass er selbst bereits in ähnlichen Situationen [...] mit der »Wahl einer Gesellschaft« und der Pflicht konfrontiert war, »bei der [...] Prüfung der Vereinbarkeit von [innerstaatlichen] Gesetzen mit der Konvention Zurückhaltung zu üben, da er dabei eine Entscheidung zu beurteilen hat, die im Wege eines demokratischen Entscheidungsprozesses in der betroffenen Gesellschaft zustande gekommen ist« (siehe beispielsweise S. A. S./FR, Rz 153–154).
(106) Unter Umständen wie jenen des vorliegenden Falls, bei dem es einerseits um die Beziehungen eines Staats zu seinen Religionen geht und die andererseits [hinsichtlich der strittigen Angelegenheit] einen nicht vorhandenen Konsens unter den Konventionsstaaten widerspiegeln, nichtsdestoweniger aber ein schrittweiser Trend hin zu einem stärkeren Schutz des Tierwohls auszumachen ist [...], darf den nationalen Behörden [in der fraglichen Angelegenheit] sicherlich kein enger Ermessensspielraum zugestanden werden. [...]
(107) Die Konvention kennt im Gegensatz zum EU-Recht, welches das Wohlergehen von Tieren als im öffentlichen Interesse stehend verankert hat, kein vergleichbares Schutzgut. Folglich kann es auch nicht zu einer Abwägung von zwei Rechten gleichen Wertes, die von der Konvention geschützt werden, kommen. [...]
(108) Der GH wird sich daher auf die Qualität der parlamentarischen und gerichtlichen Prüfung der strittigen Gesetzesdekrete konzentrieren [...]. [...]
(109) Was erstens die Qualität der parlamentarischen Prüfung angeht, der vom GH besondere Bedeutung eingeräumt wird, geht es doch im gegenständlichen Fall um eine generelle Norm, ist festzuhalten, dass die strittigen Gesetzesdekrete nach einer umfassenden Konsultation von Repräsentant*innen unterschiedlicher religiöser Gruppen einschließlich Tiermediziner*innen und Tierschutzvereinigungen verabschiedet wurden [...]. Von den Gesetzgebern auf Bundes- und auf Landesebene (Flandern, Wallonien) wurden über einen langen Zeitraum hinweg beträchtliche Anstrengungen unternommen, um die Ziele der Förderung des Tierwohls und die Achtung der Religionsfreiheit bestmöglich miteinander in Einklang zu bringen. Die Landesgesetzgeber unternahmen auch den Versuch, den auf dem Spiel stehenden Rechten und Interessen im Rahmen eines wohldurchdachten Gesetzgebungsprozesses in Form einer Abwägung Rechnung zu tragen.
(110) Aus den vorbereitenden Arbeiten zu den strittigen Gesetzesdekreten geht überdies hervor, dass die vom flämischen bzw wallonischen Gesetzgeber getroffenen Entscheidungen im Lichte der Anforderungen der Religionsfreiheit ausdrücklich begründet wurden. Auch die Auswirkungen der strittigen Maßnahmen auf die genannte Freiheit wurden geprüft und es wurde insb eine Verhältnismäßigkeitsanalyse durchgeführt.
(112) [Was die gerichtliche Kontrolle des strittigen Eingriffs angeht,] ist anzumerken, dass der Prüfung des vorliegenden Falls durch den GH eine zweifache Kontrolle [durch gerichtliche Organe] vorausging. So wurde der belgische Verfassungsgerichtshof mit einer neuen Frage betreffend die Auslegung von EU-Recht konfrontiert, worauf er die Angelegenheit bezüglich des flämischen Dekrets dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegte. In dieser Frage hatte der GH bereits [...] Gelegenheit zu unterstreichen, wie wichtig der gerichtliche Dialog zwischen innerstaatlichen Gerichten und dem EuGH für den Schutz der Grundrechte im Rahmen der EU ist.
(113) Im vorliegenden Fall prüfte der EuGH die strittige Frage unter Art 10 Abs 1 GRC, gelesen im Licht von Art 9 EMRK. Er kam zu dem Schluss, dass die Durchführung einer Prozedur, die eine Betäubung von Tieren zum Gegenstand habe, die umkehrbar und nicht geeignet sei, den Tod des Tieres herbeizuführen, mit der genannten Chartabestimmung vereinbar sei.
(114) Infolge des Urteils des EuGH bestätigte der Verfassungsgerichtshof die Verfassungsmäßigkeit der beiden strittigen Gesetzesdekrete, wobei er sich einer Begründung bediente, die nach Einschätzung des GH hinsichtlich der Anforderungen des Art 9 EMRK eindeutig nicht als oberflächlich angesehen werden kann.
(115) In dieser Hinsicht kann der GH nur festhalten, dass sowohl der EuGH als auch der Verfassungsgerichtshof im Rahmen ihrer Kontrollbefugnis den Vorgaben des Art 9 EMRK in der Auslegung durch den GH in ausführlicher Art und Weise Rechnung getragen haben.Diese doppelte Kontrolle erfolgte im Geist der Subsidiarität [...]. Der GH darf daher im Rahmen seiner eigenen Kontrollbefugnis [...] gemäß Art 19 EMRK vorherige Prüfungen [durch andere Gerichtshöfe] nicht unberücksichtigt lassen. Zwar trifft es zu, dass sich der EuGH in seinem Urteil vom 17.12.2020 auf Art 13 AEUV gestützt hat, der das Wohlergehen von Tieren zu einer von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung erhoben hat, obwohl das Tierwohl als solches nicht von der Konvention garantiert wird (vgl oben Rz 107). Wie der GH jedoch bereits unter Rz 93–101 festgestellt hat, kann das Wohlergehen von Tieren der öffentlichen Moral iSv Art 9 Abs 2 EMRK zugeordnet werden und vermag unter solchen Umständen eine Einschränkung des Rechts auf Bekundung der Religion zu rechtfertigen.
(116) Nun gründen sich die beiden strittigen Gesetzesdekrete aber auf einen gefestigten wissenschaftlichen Konsens, wonach eine vorherige Betäubung des Tieres das optimale Mittel darstellt, um das Leiden vor seiner Schlachtung zu reduzieren [...]. Der GH vermag keinen ernsthaften Grund zu erkennen, in dieser Sache zu einer anderen Sichtweise zu gelangen.
(118) Im vorliegenden Fall ist in den strittigen Gesetzesdekreten die Rede davon, dass für den Fall, dass Tiere zwecks Befolgung religiöser Riten nach speziellen Methoden geschlachtet werden sollen, der zur Anwendung kommende Betäubungsprozess umkehrbar sein und nicht zum Tod des Tieres führen sollte. Auf Basis von wissenschaftlichen Studien und unter Einbeziehung einer umfassenden Konsultation betroffener Personen kamen die flämischen und wallonischen Parlamente zu dem Schluss, dass keine weniger radikale Maßnahme dem Ziel der Reduzierung von Beeinträchtigungen des Wohlergehens von Tieren im Zuge der Schlachtung ausreichend Rechnung tragen könne. Der GH, der diese Schlussfolgerungen keinesfalls in Abrede stellen will, hält fest, dass der flämische und der wallonische Gesetzgeber insoweit eine verhältnismäßige Alternative gegenüber der Verpflichtung zur vorherigen Betäubung [von Tieren] fanden, indem sie das von Personen mit muslimischem und jüdischem Bekenntnis in Anspruch genommene Recht auf Bekundung ihrer Religion angesichts der zunehmenden Bedeutung, die der Verhinderung von Tierleid in der flämischen und wallonischen Region zukommt, in Erwägung zogen. Sie haben somit Rückgriff auf eine Maßnahme genommen, die das zur Realisierung des verfolgten Ziels als notwendig erachtete nicht überschritt.
(119) Es steht dem GH nicht zu, darüber abzusprechen, ob diese Alternative den religiösen Vorstellungen der Bf entspricht. [...] Jedenfalls haben die Behörden versucht, die auf dem Spiel stehenden Rechte und Interessen miteinander abzuwägen und zu einem gerechten Ausgleich zwischen beiden zu gelangen. [...]
(120) Zwar trifft es zu, dass die Region Brüssel-Hauptstadt zum Zeitpunkt der Erlassung des vorliegenden Urteils die [vom Gesetz über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere vom 14.8.1986] vorgesehene Ausnahme weder abgeschafft noch eingeschränkt hat und sich insofern von der Situation in der Region Flandern bzw Wallonien unterscheidet. Diese Tatsache könnte die Bedeutung des dem in Belgien zugestandenen Tierwohls in Frage stellen [...]. Diese Feststellung vermag für sich jedoch nicht auszureichen, um auf die Unvereinbarkeit der beiden strittigen Gesetzesdekrete mit Art 9 EMRK zu schließen. Der GH möchte in dieser Hinsicht in Erinnerung rufen, dass es sich bei Belgien um einen Bundesstaat handelt und er schon immer die Eigenheiten des Föderalismus respektiert hat, insoweit sie mit der Konvention vereinbar waren (vgl etwa Assemblée chrétienne des Témoins de Jéhovah d’Anderlecht ua/BE, Rz 47). Die Bf vermögen daher nicht aus der simplen Tatsache »Kapital zu schlagen«, dass sich die einschlägige Rechtslage in Brüssel anders darstellt als jene in Flandern und in Wallonien.
(122) Was schließlich den zweiten Punkt der Rüge der Bf anbelangt, nämlich die Schwierigkeit, wenn nicht sogar Unmöglichkeit, sich mit Fleisch entsprechend ihren religiösen Vorstellungen zu versorgen, ist zu vermerken, dass die flämischen und wallonischen Regionen nicht den Verzehr von aus anderen Regionen oder Ländern stammendem Fleisch untersagten, wo die vorherige Betäubung von Tieren vor der Schlachtung kein gesetzliches Erfordernis darstellt. Die Bf vermochten den GH im Übrigen nicht davon zu überzeugen, dass der Zugang zu Fleisch, welches in Übereinstimmung mit ihren religiösen Vorstellungen gewonnen wurde, nach dem Inkrafttreten der strittigen Gesetzesdekrete schwieriger geworden wäre.
(123) Mit Blick auf die Gesamtheit der vorstehenden Erwägungen kommt der GH zu dem Schluss, dass die nationalen Behörden im Zuge der Verabschiedung der strittigen Gesetzesdekrete, welche die Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung in den Regionen Flandern und Wallonien untersagten, gleichzeitig aber für eine umkehrbare Betäubung zum Zweck ritueller Schlachtungen Sorge trugen, den ihnen im gegenständlichen Fall zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten. Sie griffen daher auf eine Maßnahme zurück, die prinzipiell gerechtfertigt war und die als verhältnismäßig zum verfolgten Ziel angesehen werden kann, nämlich den Schutz des Tierwohls als Bestandteil der »öffentlichen Moral« sicherzustellen.
(124) Somit hat keine Verletzung von Art 9 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Koskelo, gefolgt von Richter Kūris; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Yüksel).
Zur behaupteten Verletzung von Art 14 iVm Art 9 EMRK
(125) Die Bf bringen vor, aufgrund der strittigen Gesetzesdekrete bei der Ausübung ihrer Religionsfreiheit einer diskriminierenden Behandlung ausgesetzt gewesen zu sein.
Zulässigkeit
Zur Anwendbarkeit von Art 14 EMRK
(126) Laut der Regierung sei Art 14 EMRK auf den gegenständlichen Fall nicht anwendbar, da die strittigen Gesetzesdekrete keinen Eingriff in die bzw zumindest keine Verletzung der Religionsfreiheit darstellten. Zudem hätten die strittigen Maßnahmen die Betäubung und nicht die rituelle Schlachtung [von Tieren] zum Gegenstand gehabt.
(128) [...] Der GH hat bereits [...] anerkannt, dass Art 9 EMRK auf den vorliegenden Fall Anwendung findet. Er hat auch akzeptiert, dass die angeprangerten Maßnahmen einen Eingriff in die von dieser Konventionsbestimmung geschützten Rechte darstellen. Die Einrede der Regierung [...] ist daher zurückzuweisen.
Zur gerügten Diskriminierung wegen der unterschiedlichen Behandlung der rituellen Schlachtung im Vergleich zur Bekämpfung von Krankheitserregern
(130) [...] Die Bf der Bsw 16760/22 beklagen sich zum ersten Mal, Opfer einer Diskriminierung aufgrund der ungerechtfertigten unterschiedlichen Behandlung zwischen der rituellen Schlachtung und der Bekämpfung von Krankheitserregern zu sein, bestünde doch in letzterem Fall keine Verpflichtung zur vorherigen Betäubung. (Anm: Gemäß Art 1 des flämischen Gesetzesdekrets kann ein Tier ohne vorherige Betäubung dann geschlachtet werden, wenn (1) es sich um höhere Gewalt handelt, (2) es um die Jagd oder den Fischfang geht (3) oder eine solche Vorgangsweise der Bekämpfung von Krankheitserregern dient.) In ihrem Beschwerdeformular wird diese Rüge jedoch nicht angeführt. Es handelt sich somit um einen neuen Beschwerdepunkt, in dem auf unterschiedliche Tatsachen Bezug genommen wird als in der ursprünglichen Beschwerde. Da sich die Bf auf diesen Beschwerdepunkt zum ersten Mal am 20.1.2023 berufen haben, während jedoch die Urteile des belgischen Verfassungsgerichtshofs bereits am 30.9.2021 ergingen, muss dieser Beschwerdepunkt wegen verspäteter Einbringung gemäß Art 35 Abs 1 und 4 EMRK für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
Schlussfolgerungen zur Zulässigkeit
(131) [...] Die restlichen Beschwerdepunkte [...] sind für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
Zur Situation der Bf als praktizierende Juden und Muslime im Vergleich zu jener von Jägern und Fischern
(145) Die Bf beklagen sich darüber, ohne objektive Rechtfertigung gegenüber Jägern und Fischern unterschiedlich behandelt zu werden, da diese vom Anwendungsbereich der strittigen Gesetzesdekrete ausgenommen seien und nicht unter einer Verpflichtung zur vorherigen Betäubung von Tieren stehen würden, obwohl ihre Aktivitäten auch das Wohlergehen von Tieren zum Gegenstand hätten.
(146) Im vorliegenden Fall steht es dem GH nicht zu, über die Vereinbarkeit der Jagd und des Fischfangs mit dem Tierwohl abzusprechen, da diese Frage den Rahmen der gegenständlichen Angelegenheit sprengen würde. Auch gesetzt den Fall, dass die angeprangerte unterschiedliche Behandlung auf einem von Art 14 EMRK verbotenen Diskriminierungsgrund beruhen würde, vermochten die Bf nicht darzulegen, gegenüber Jägern und Fischern in einer gleichen oder vergleichbaren Situation zu sein. In der Tat unterscheidet sich die Situation von praktizierenden Juden und Muslimen, die im Wege ritueller Schlachtung gewonnenes Fleisch verzehren wollen, von jener von Jägern und Fischern, die zur Tötung von Tieren schreiten. Außerdem besteht ein spürbarer Unterschied, was die Bedingungen der Tötung angeht. [...] Insoweit sich die Bf daher nicht in einer gleichen oder vergleichbaren Situation gegenüber Jägern und Fischern befinden, besteht kein Grund zur Beantwortung der Frage, ob die strittige unterschiedliche Behandlung auf einer objektiven und angemessenen Rechtfertigung beruhte.
Zur Situation der Bf als praktizierende Juden und Muslime im Vergleich zum Rest der Bevölkerung
(147) Alle Bf beklagen sich darüber, auf dieselbe Art und Weise wie der Rest der Bevölkerung behandelt zu werden, die keinen religiösen Ernährungsvorschriften unterworfen sei.
(148) Im Gegensatz zum Vorbringen der Bf ist der GH [...] der Ansicht, dass praktizierende Juden und Muslime keineswegs auf dieselbe Art und Weise behandelt werden wie Personen, die keine religiösen Ernährungsvorschriften befolgen müssen, sehen doch die strittigen Gesetzesdekrete klar und deutlich eine alternative Betäubungsmethode für den Fall [...] spezieller – von religiösen Riten vorgeschriebener – Schlachtungspraktiken vor, nämlich dass der Betäubungsprozess umkehrbar ist und nicht den Tod des Tieres zur Folge haben darf. [...]
Zur Situation der Bf als praktizierende Juden im Vergleich zu praktizierenden Muslimen
(150) Was schließlich die Situation von praktizierenden Juden im Vergleich zu praktizierenden Muslimen angeht [...], ist es nicht Sache des GH in seiner Eigenschaft als internationaler Gerichtshof, sich zum Inhalt von Ernährungsvorschriften auf religiösem Gebiet zu äußern [...]. Er schließt sich jedenfalls der Ansicht des belgischen Verfassungsgerichtshofs an [...], wonach der alleinige Umstand, dass Ernährungsvorschriften der jüdischen und der muslimischen Religionsgemeinschaft unterschiedlicher Natur sind, für sich nicht ausreicht, um zu der Feststellung zu gelangen, dass sich jüdische und muslimische Gläubige mit Blick auf die strittige Maßnahme unter dem Aspekt der Religionsfreiheit in einer deutlich anderen Situation befinden. Da daher nicht gesagt werden kann, dass sich die angeprangerten Situationen spürbar voneinander unterscheiden, besteht auch kein Grund zur Prüfung der Frage, ob das Fehlen einer Unterscheidung auf einer objektiven und angemessenen Rechtfertigung beruhte.
Schlussfolgerung betreffend die behauptete Verletzung von Art 14 EMRK
(151) Angesichts des Vorgesagten kam es nicht zu einer Verletzung von Art 14 iVm Art 9 EMRK (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Cha’are Shalom Ve Tsedek/FR, 27.6.2000, 27417/95 (GK) = NL 2000, 136
Friend ua/GB, 24.11.2009, 16072/06 ua (ZE)
PETA Deutschland/DE, 8.11.2012, 43481/09 = NLMR 2012, 369
Vartic/RO (Nr 2), 17.12.2013, 14150/08
Tierbefreier e.V./DE, 16.1.2014, 45192/09 = NLMR 2014, 51
S. A. S./FR, 1.7.2014, 43835/11 (GK) = NLMR 2014, 309
Erlich und Kastro/RO (Nr 2), 9.6.2020, 23735/16 ua
Assemblée chrétienne des Témoins de Jéhovah d’Anderlecht ua/BE, 5.4.2022, 20165/20
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.2.2024, Bsw. 16760/22, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 45) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.