Bsw4976/20 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Jann-Zwicker und Jann gg die Schweiz, Urteil vom 13.2.2024, Bsw. 4976/20.
Spruch
Art 6 Abs 1 EMRK - Zum Verhältnis der absoluten Verjährungsfrist und des Rechts auf Zugang zu einem Gericht.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich Zugang zu einem Gericht (einstimmig).
Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich der Verfahrensdauer (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 20.800,– für immateriellen Schaden; € 14.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf handelt es sich um die Witwe und den Sohn von Marcel Jann (Opfer), der 1953 geboren wurde. Dieser wohnte von 1961 bis 1972 mit seinen Eltern in unmittelbar Nähe des Fabrikgeländes der Firma Eternit AG, wo Asbestfasern zu Asbestzementplatten verarbeitet wurden. Nach eigenen Angaben war er damals in mehrfacher Hinsicht häufig Asbest aus der Eternit-Fabrik ausgesetzt. Einerseits drangen die Staubemissionen der Fabrik regelmäßig durch seine offenen Schlafzimmerfenster ein, andererseits spielte er als Kind oft auf und in der Nähe von Platten und Rohren, die von der Eternitfabrik verwendet wurden. Außerdem beobachtete er regelmäßig das Abladen der Asbestsäcke am Bahnhof. Nachdem Marcel Jann im Alter von 19 Jahren weggezogen war, kam er nie mehr mit Asbest in Berührung. Im Herbst 2004 wurde bei ihm ein bösartiges Pleuramesotheliom (Brustfellkrebs) diagnostiziert, das vermutlich durch Asbestexposition ausgelöst wurde. Er starb am 30.10.2006 im Alter von 53 Jahren an dieser Krankheit.
In der Schweiz wurde im Jahr 1989 ein allgemeines Asbestverbot eingeführt. Marcel Jann erstattete am 18.9.2006 beim zuständigen Verhöramt eine Strafanzeige wegen schwerer Körperverletzung, eine Untersuchung wurde in weiterer Folge jedoch nicht eingeleitet. Auch die beiden angerufenen Rechtsschutzeinrichtungen (Kantonsgericht und Bundesgericht) bestätigten jeweils die Entscheidung.
Am 23.3.2009 strengten die Bf beim Vermittleramt ein Mediationsverfahren an, jedoch konnte keine Einigung erzielt werden. Die von den Bf im Rahmen des Zivilverfahrens geltend gemachten vertraglichen und außervertraglichen Schadenersatzansprüche wurden am 29.3.2012 wegen Verjährung abgewiesen. Im Wesentlichen stellte das Kantonsgericht fest, dass die Verjährungsfrist mit der Fälligkeit einer Forderung zu laufen beginne. Der Anspruch sei spätestens 1972, als das Opfer aus seinem Elternhaus auszog, fällig geworden und zehn Jahre später verjährt. Das Obergericht bestätigte die Entscheidung des Kantonsgerichts. Dagegen wurde Beschwerde an das Bundesgericht erhoben, welches das Verfahren am 8.4.2014 – nach der Urteilsverkündung des GH in der Rechtssache Howald Moor ua/CH – aussetzte, um die Novellierung der Rechtsvorschriften abzuwarten. Der Antrag der Bf auf Überprüfung der Verfahrensaussetzung wurde vom Bundesgericht abgelehnt. Der Gesetzgeber beschloss am 15.6.2018 eine Überarbeitung des Verjährungsrechts und verlängerte die absolute Verjährungsfrist auf 20 Jahre, ohne dass diese rückwirkend galt. Die Bf beantragten am 31.8.2018 erneut die Aufhebung der Verfahrensaussetzung. Erst am 6.11.2018 kam es zur Wiederaufnahme des Verfahrens, am 6.11.2019 erfolgte die Abweisung der Klage. Auch in Anbetracht der Gründung der Stiftung Entschädigungsfonds für Asbestopfer (im Folgenden: EFA-Stiftung) (Anm: Personen, bei denen Symptome eines Mesothelioms nach dem 1.1.2006 aufgetreten waren, konnten Leistungen der EFA-Stiftung beantragen. Eine (undefinierte) »Härtefall-Klausel« sah die Möglichkeit vor, eine analoge Lösung zu erhalten. Die betroffenen Personen mussten für den Erhalt der Leistungen der EFA-Stiftung formell auf die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen vor den nationalen Gerichten verzichten. Am 31.3.2022 kam es zu einer Änderung, wonach Personen, bei denen die Symptome des Mesothelioms nach 1996 (und nicht erst nach 2006) aufgetreten waren, die Möglichkeit hatten, bei der EFA-Stiftung rückwirkend Leistungen zu beantragen.) stellte das Bundesgericht fest, dass die neuen nationalen Bestimmungen betreffend die Verjährung gegenständlich nicht anwendbar und alle Ansprüche bereits verjährt seien. Zudem wurde festgestellt, dass die absoluten Verjährungsfristen mit dem von Art 6 Abs 1 EMRK garantierten Recht auf Zugang zu einem Gericht im Einklang stünden.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht und auf angemessene Verfahrensdauer).
Zur behaupteten Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (Zugang zu einem Gericht)
Zulässigkeit
(47) Die Regierung brachte vor, dass Art 6 EMRK gegenständlich nicht anwendbar sei, da Verjährungsfristen nach dem Recht der Schweiz als materielles Recht gelten würden.
(49) [...] In Howald Moor ua/CH erklärte der GH ganz ähnliche Beschwerden für zulässig. Er sieht keinen Grund dafür, im vorliegenden Fall anders vorzugehen. Er erinnert daran, dass Art 6 EMRK auf [...] Streitigkeiten über ein Recht anwendbar ist, dessen Anerkennung durch das innerstaatliche Recht zumindest in vertretbarer Weise behauptet werden kann, sowie auf den Umfang oder die Art seiner Ausübung. [...]
(50) Der GH kommt zum Ergebnis, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK angeführten Grund unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
Allgemeine Grundsätze
(64) [...] Das Recht auf Zugang zu einem Gericht ist ein inhärenter Aspekt der in Art 6 EMRK verankerten Garantien [...]. [...]
(68) Im Hinblick auf die Entschädigung von Opfern von Körperverletzungen hat der GH festgestellt, dass der praktische und effektive Charakter des Rechts auf Zugang zu einem Gericht durch Verjährungsfristen für die Einreichung einer Klage beeinträchtigt werden kann [...]. Hier sollten betroffene Personen grundsätzlich berechtigt sein, rechtliche Schritte einzuleiten, wenn sie tatsächlich in der Lage waren, die erlittene Schädigung einzuschätzen. Gibt es eine Verjährungsfrist, die vor dem Zeitpunkt einer möglichen Schadenseinschätzung abläuft, könnte das Recht auf Zugang zu einem Gericht verletzt sein [...].
Anwendung der Grundsätze auf den vorliegenden Fall
Gegenständlicher Sachverhalt im Vergleich zur Rechtssache Howald Moor ua/CH
(71) Der GH stellt fest, dass es im vorliegenden Fall um die Frage geht, ob das Recht der Bf auf Zugang zu einem Gericht dadurch verletzt wurde, dass die nationalen Gerichte ihre Entschädigungsansprüche für verjährt erklärt haben. Die Bf machten geltend, dass es keine Unterschiede zwischen diesem Fall und dem Fall Howald Moor ua/CH gebe [...]. [...]
(72) Die Regierung wies insb darauf hin, dass das Opfer im vorliegenden Fall – anders als in der Rechtssache Howald Moor ua/CH – dem Asbest nicht beruflich ausgesetzt war; vielmehr behaupteten die Bf, dass das Opfer aufgrund der Tatsache exponiert war, dass es in der Nähe der Fabrik und des Bahnhofs wohnte, wo asbesthaltiges Material verarbeitet worden war [...]. Der GH kann gegenständlich [...] keine Rückschlüsse dahingehend ziehen, ob die Ursache für das Mesotheliom des Opfers in seinem Arbeitsplatz lag oder nicht. Das Opfer in der Rechtssache Howald Moor ua/CH erhielt Zahlungen aus der Unfallversicherung, während das Opfer im vorliegenden Fall keinen Anspruch auf solche Zahlungen hatte. In beiden Fällen stand jedoch das Recht der Opfer auf Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit auf dem Spiel.
(73) Während das Opfer in der Rechtssache Howald Moor ua/CH [...] die Beschwerde 27 Jahre nach dem Ende jenes Zeitraums, in dem es Asbest ausgesetzt war und 17 Monate nach der Diagnose des Mesothelioms eingereicht hatte, haben die Erben des Opfers in der vorliegenden Rechtssache ihre Beschwerde 37 Jahre nach dem Ende des Zeitraums, in dem das Opfer angeblich Asbest ausgesetzt war, und fünf Jahre nach der Diagnose des Mesothelioms eingereicht (wobei zwischen dem Tod des Opfers und der Einreichung der Beschwerde fast drei Jahre verstrichen sind) [...].
Der GH übersieht hier jedoch nicht, dass das Opfer im vorliegenden Fall zunächst versucht hat, auf anderem Wege als durch eine Zivilklage Wiedergutmachung zu erlangen, nämlich durch Einreichung einer Strafanzeige bei der Ermittlungsbehörde [...]. Das Opfer hat also 34 Jahre nach dem Ende des Zeitraums, in dem es angeblich Asbest ausgesetzt war, und etwa zwei Jahre nach der Mesotheliom-Diagnose den Rechtsweg beschritten (indem Strafanzeige erstattet wurde). Die Erben des Opfers reichten ihre Beschwerden ein Jahr nach der endgültigen nationalen Entscheidung über die Abweisung der Strafanzeige ein [...]. [...] Selbst das Bundesgericht erachtete die Unterschiede nicht für hinreichend relevant, um seine Argumentation auf sie zu stützen [...].
(74) Der GH stellt fest, dass die neue absolute Verjährungsfrist von 20 Jahren auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist; im Übrigen wurde nicht geltend gemacht, dass die neue Verjährungsfrist anwendbar sei. Es ist daher fraglich, ob die Unterschiede zwischen der vorliegenden Rechtssache und der Rechtssache Howald Moor ua/CH tatsächlich so erheblich sind, dass sie eine differenzierte Behandlung der Frage des Zugangs zu einem Gericht rechtfertigen. [...]
Neue Entwicklungen in Form der EFA-Stiftung und die Entscheidung der Bf, sich nicht an diese zu wenden
(76) Der GH nimmt die Gründung der EFA-Stiftung, welche in Durchführung des Urteils in der Rechtssache Howald Moor ua/CH erfolgte, zur Kenntnis [...]. Er stellt ferner fest, dass der Kreis der potenziellen Begünstigten vor kurzem um die Personen erweitert wurde, deren Mesotheliom nach 1996 statt nach 2006 auftrat [...]. Dennoch werden in der Schweiz jedes Jahr zwischen 120 und 200 neue Mesotheliomfälle registriert [...], während die EFA-Stiftung seit ihrer Gründung im Jahr 2017 durchschnittlich etwa 60 Leistungsanträge pro Jahr erhalten hat. Es ist unklar, ob die Betroffenen, die keinen Antrag bei der EFA-Stiftung stellen, dies nicht tun, weil sie keinen Anspruch auf Leistungen im Rahmen des Entschädigungsreglements der Stiftung haben [...], oder ob sie auf eine andere Weise entschädigungsberechtigt sind.
(77) [...] Hinsichtlich der Bf im vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass diese zum Zeitpunkt der Einreichung ihrer Beschwerde beim GH im Jänner 2020 nicht zum Kreis der potenziellen Begünstigten gehörten, da die Symptome des Mesothelioms des Opfers vor 2006 aufgetreten waren [...]. Da es in der Entschädigungsverordnung der EFA-Stiftung keine Definition des Begriffs »Härtefall« gibt, ist unklar, ob die Situation der Bf unter die Härtefallklausel hätte fallen können. Jedenfalls hätten die Bf auch ihre Zivilklage – die bereits vor den nationalen Gerichten anhängig war – zurückziehen und damit auch die finanzielle Belastung des bisherigen Verfahrens tragen müssen. Darüber hinaus scheint kein Anspruch auf Leistungen zu bestehen, da es sich bei einem Antrag an die EFA-Stiftung um einen Antrag an eine privatrechtliche Stiftung handelt, deren Entscheidungen nicht gerichtlich angefochten werden können (etwa bei der Ablehnung eines Antrags). Außerdem können Leistungen der EFA-Stiftung nur unter der ausdrücklichen Bedingung zugesprochen werden, dass auf die Möglichkeit verzichtet wird, Ansprüche in einem Gerichtsverfahren geltend zu machen [...]. In Anbetracht all dessen ist der GH der Auffassung, dass den Bf nicht vorgeworfen werden kann, dass sie sich nicht für einen Antrag auf Leistungen der EFA-Stiftung entschieden haben. Auch wenn der GH die Gründung der EFA-Stiftung und die im März 2022 vorgenommenen Änderungen ihrer Entschädigungsregelung [...] grundsätzlich positiv sieht, ändert dies nichts an seiner Schlussfolgerung im vorliegenden Fall in Anbetracht der oben genannten rechtlichen Bedingungen, die den Bf durch die Entschädigungsregelung auferlegt werden.
Zur Frage der Verhältnismäßigkeit
(78) Nach der Bekräftigung [...], dass das durch die Verjährungsfristen verfolgte Ziel der Rechtssicherheit ein legitimes Ziel iSd EMRK ist [...], wendet sich der GH nun der Frage zu, ob zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel ein angemessenes Verhältnis besteht [...]. [...] Der GH stellt zunächst fest, dass es keine wissenschaftlich anerkannte maximale Latenzzeit zwischen der Asbestexposition und der Manifestation des durch Asbest verursachten Mesothelioms zu geben scheint. Nach Angaben der EFA-Stiftung kann es nach der Asbestexposition 45 oder mehr Jahre dauern, bis sich das Mesotheliom manifestiert [...]; das Bundesgericht stellte fest, dass die Latenzzeit zwischen 15 und 45 Jahre betragen kann [...]. Daraus folgt, dass es wissenschaftlich klar und erwiesen ist, dass die Latenzzeit für asbestbedingte Mesotheliome verhältnismäßig kurz oder sehr lang sein kann.
(79) Ist wissenschaftlich erwiesen, dass eine Person keine Kenntnis von ihrem Leiden an einer bestimmten Krankheit haben kann, so ist ein solcher Umstand bei der Berechnung der Verjährungsfrist zu berücksichtigen [...]. In Anbetracht der langen Latenzzeiten [...] kann daher davon ausgegangen werden, dass asbestbedingte Ansprüche bei einer zehnjährigen Verjährungsfrist immer verjähren und nach den neuen nationalen Bestimmungen wahrscheinlich auch sehr häufig bei einer zwanzigjährigen Verjährungsfrist [...], wenn gleichzeitig der Beginn der Verjährungsfrist (dies a quo) mit dem (Ende der) betreffenden schädigenden Handlung verknüpft ist. Dh die Betroffenen sind nicht berechtigt, zu dem Zeitpunkt Beschwerde zu erheben, zu dem sie tatsächlich in der Lage waren, die erlittene Schädigung einzuschätzen, weil die Verjährungsfrist vor dem Zeitpunkt abgelaufen ist, zu dem das Schadensausmaß hätte beurteilt werden können [...].
(80) [...] Der GH ist der Ansicht, dass die Bf aufgrund der Feststellung des dies a quo im vorliegenden Fall in Übereinstimmung mit der Rsp des Bundesgerichts keine materielle Prüfung ihrer Entschädigungsansprüche vorgenommen haben. Dies wäre auch unter dem neuen Verjährungsrecht der Fall, wenn die gleiche Art und Weise der Bestimmung des dies a quo beibehalten wird. Die Frage ist nicht, ob eine mehrjährige [...] absolute Verjährungsfrist theoretisch mit der EMRK vereinbar sein kann, vielmehr ist entscheidend, ob ihre Anwendung – [...] dies a quo, etwaige Unterbrechung des Fristenlaufs – Folgen hat, die mit der EMRK vereinbar sind. Von Bedeutung ist, dass sich der Gesetzgeber bewusst war, dass eine Gesetzesänderung allein das in Fällen wie dem vorliegenden auftretende Problem nicht lösen konnte und dass die nationalen Gerichte – in erster Linie das Bundesgericht – dazu beitragen mussten, eine Lösung in der Praxis zu finden [...]. Der GH erkennt jedoch, dass das Bundesgericht ausdrücklich an seiner Rsp zur Auslegung der Verjährungsfrist und zur Art und Weise der Bestimmung des »dies a quo« festhält.
(81) Der GH kritisiert jedenfalls nicht die erforderliche Abwägung zwischen dem Recht des Opfers auf Zugang zu den Gerichten und dem Recht des Beklagten auf Rechtssicherheit (im Rahmen der Verjährung von Schadenersatzklagen), wonach die nationale Rechtsordnung dem Recht der Opfer von Körperverletzungen auf Zugang zu einem Gericht größeres Gewicht beimisst als dem Recht der für diese Verletzungen Verantwortlichen auf Rechtssicherheit [...]. Im vorliegenden Fall lag eine gegenteilige Situation vor – obwohl das Opfer lange Zeit nicht wissen konnte, dass es einen Schaden erlitten hatte. Der GH kann sich daher nicht der Auffassung anschließen, dass das Recht der Bf auf Zugang zu einem Gericht in Anbetracht der Art und Weise, wie der Lauf der absoluten Verjährungsfrist bestimmt wurde, praktisch und wirksam war. Es scheint kein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel zu bestehen. Die nationalen Gerichte haben das Recht der Bf auf Zugang zu einem Gericht in einer Weise eingeschränkt, die ihr Recht im Kern beeinträchtigt hat. Daraus folgt, dass der Staat seinen Ermessensspielraum überschritten hat [...]. Es gibt daher keinen Grund, von der Argumentation des GH in seinem Urteil in der Rechtssache Howald Moor ua/CH abzuweichen.
Schlussfolgerung
(82) Der GH kommt zum Ergebnis, dass unter den außergewöhnlichen Umständen betreffend die Opfer von Asbestexposition [...] die Anwendung der absoluten Verjährungsfristen durch die nationalen Gerichte – insb die Art und Weise, wie der »dies a quo« in Bezug auf den Ablauf der absoluten Verjährungsfrist bestimmt wird – dazu geführt hat, dass das Recht der Bf auf Zugang zu einem Gericht in einem Maße eingeschränkt wurde, dass sein Wesensgehalt beeinträchtigt wurde.
(83) Es liegt daher eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK vor (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (Verfahrensdauer)
Zulässigkeit
(87) Der GH ist der Ansicht, dass die Einrede der Regierung [Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs] Fragen aufwirft, die eng mit der Begründetheit des Vorbringens der Bf verbunden sind, da normalerweise das gesamte betreffende Verfahren zu berücksichtigen ist [...]. Er beschließt daher, die Einrede mit der Prüfung in der Sache zu verbinden. Ferner stellt er fest, dass das Vorbringen weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK angeführten Grund unzulässig ist. Es ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
(97) Der GH stellt fest, dass die Bf im Wesentlichen die angeblich überlange Verfahrensdauer vor dem Bundesgericht beanstandet haben – insb die langwierige Unterbrechung des Verfahrens – und nicht die Dauer des Verfahrens vor den Kantonsgerichten (die sie jedoch bei der Beurteilung der Gesamtdauer des Verfahrens für beachtenswert hielten). Die Regierung hingegen erachtete die Aussetzung des Verfahrens vor dem Bundesgericht als gerechtfertigt und die Dauer des Verfahrens vor dem Bundesgericht als angemessen, obwohl auch sie einräumte, dass es eine Phase der Untätigkeit des Bundesgerichts gegeben hat. [...]
(98) Hinsichtlich des zu berücksichtigenden Zeitraums stellt der GH fest, dass dieser am 16.7.2009 begann (als die Bf vor dem Kantonsgericht Glarus Klage erhoben) und am 6.11.2019 endete (als das Bundesgericht die Entscheidung über die Ansprüche der Bf erließ). Die Dauer betrug also zehn Jahre und fast vier Monate und das Verfahren erstreckte sich über drei Instanzen. Der GH stellt in diesem Zusammenhang auch fest, dass das Verfahren vor dem höchsten nationalen Gericht am 6.11.2013 begann (als die Bf beim Bundesgericht Beschwerde einlegten) und am 6.11.2019 endete (mit der Verkündung des Urteils des Bundesgerichts). Das Verfahren vor dem Bundesgericht dauerte somit genau sechs Jahre.
(99) Der GH stimmt der Regierung betreffend die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu, denn der Fall war in gewisser Weise komplex. Abgesehen von der Aussetzung des Verfahrens vor dem Bundesgericht vom 8.4.2014 bis 6.11.2018 ist keine andere Phase gerichtlicher Untätigkeit ersichtlich und wurde auch keine solche Untätigkeit von den Bf vorgebracht. Es stellt sich daher die Frage, ob die Aussetzung für einen Zeitraum von vier Jahren und fast sieben Monaten dem Erfordernis einer Erledigung innerhalb einer »angemessenen Frist« iSd Art 6 Abs 1 EMRK entsprach. Aus den nachstehenden Gründen ist der GH der Auffassung, dass das Verfahren vor dem Bundesgericht für sich genommen nicht den in Art 6 Abs 1 EMRK festgelegten Standards entsprach. Daraus folgt, dass die Verfahrensdauer vor dem Bundesgericht auch dann übermäßig lang gewesen wäre, wenn die Bf für das Verfahren vor den Kantonsgerichten von dem oben erwähnten Rechtsbehelf (gemäß § 100 Abs 7 Bundesgesetz über das Bundesgericht) (Anm: Unrechtmäßiges Verweigern oder Verzögern eines Entscheids.) Gebrauch gemacht hätten. In Anbetracht dieser Schlussfolgerung erübrigt sich eine Prüfung der von der Regierung erhobenen Einrede der Nichterschöpfung in Bezug auf das Verfahren vor den Kantonsgerichten.
(100) [...] Die Durchführung des Verfahrens innerhalb einer angemessenen Frist ist eine staatliche Verpflichtung [...]. Auch in Rechtsordnungen, in denen der Grundsatz gilt, dass die Verfahrensinitiative bei den Parteien liegt, entbindet dies die Gerichte nicht von der Pflicht, für eine zügige Durchführung des Verfahrens – wie von Art 6 Abs 1 EMRK verlangt wird – zu sorgen [...]. Es oblag folglich dem Bundesgericht, die Einhaltung dieser Verpflichtung zu gewährleisten. Das Bundesgericht hat jedoch sehr deutlich gemacht, dass es das Ergebnis der [...] Gesetzesreform abwarten würde, bevor es über den vorliegenden Fall entscheidet [...]. Den Bf kann daher nicht vorgeworfen werden, dass sie keine weiteren Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt haben, während die Gesetzesreform noch im Parlament erörtert wurde, da sie vernünftigerweise davon ausgehen konnten, dass ein weiterer solcher Antrag aussichtslos wäre [...].
(101) [...] Nach der Ansicht des GH war es nicht notwendig, das Ergebnis der oben erwähnten parlamentarischen Beratungen abzuwarten, bevor das Verfahren wieder aufgenommen wurde; wenn der GH darauf hinweisen würde, dass dies tatsächlich notwendig war, würde dies bedeuten, dass ein solches Abwarten immer dann erforderlich ist, wenn eine Klage eingereicht wird, die einen Rechtsbereich betrifft, für den das Parlament Vorschläge zu Gesetzesänderungen prüft. Das von der Regierung zusätzlich vorgebrachte Argument, dass die EFA-Stiftung zur gleichen Zeit in Gründung gewesen sei [...], ist ebenfalls nicht überzeugend, da diese Entwicklung erst nach Februar 2015 stattfand [...], während die Bf bereits im Juni 2014 beantragt hatten, die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens zu überprüfen [...] – ein Antrag, den das Bundesgericht im Juli 2014 abgelehnt hatte [...]. Selbst wenn man den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrats zur Schaffung eines besonderen Entschädigungsfonds für Asbestopfer, deren Ansprüche verjährt sind, berücksichtigt, wurde dieser Vorschlag erst im August 2014 gemacht – also nachdem das Bundesgericht den Antrag der Bf auf Fortsetzung des Verfahrens abgelehnt hatte. Die EFA-Stiftung wurde vom Bundesgericht in seiner Entscheidung zur Aussetzung vom April 2014 nicht erwähnt; ebenso wenig erwähnte das Bundesgericht die EFA-Stiftung in seiner Entscheidung vom Juli 2014, mit dem es den Antrag der Bf auf Überprüfung der Aussetzungsentscheidung ablehnte. Tatsächlich konnte sie in diesen Entscheidungen nicht erwähnt werden, da die EFA-Stiftung erst 2017 gegründet wurde.
(102) Der GH kommt zu dem Ergebnis [...], dass der Staat trotz der Tatsache, dass der Fall durch eine gewisse Komplexität gekennzeichnet ist, seiner Pflicht nicht nachgekommen ist, für die Durchführung des Verfahrens vor dem Bundesgericht innerhalb einer angemessenen Frist zu sorgen [...]. Es ist daher keine Prüfung dahingehend erforderlich, ob die Interessen der Bf ein besonderes Maß an Eile verlangten.
(103) Damit liegt eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK wegen der Verfahrensdauer vor (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 20.800,– für immateriellen Schaden; € 14.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Comingersoll S.A./PT, 6.4.2000, 35382/97 (GK)
Frydlender/FR, 27.6.2000, 30979/96 (GK)
Sürmeli/DE, 8.6.2006, 75529/01 (GK) = NL 2006, 135
Howald Moor ua/CH, 11.3.2014, 52067/10, 41072/11 = NLMR 2014, 122
Zubac/HR, 5.4.2018, 40160/12 (GK) = NLMR 2018, 138
Sanofi Pasteur/FR, 13.2.2020, 25137/16
Grzeda/PL, 15.3.2022, 43572/18 (GK) = NLMR 2022, 109
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.2.2024, Bsw. 4976/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 16) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.