Bsw1162/22 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Auray ua gg Frankreich, Urteil vom 8.2.2024, Bsw. 1162/22.
Art 5 Abs 1, Art 10, 11 EMRK, Art 2 4. ZPEMRK - Rückgriff auf Einkesselungstechnik ohne präzise und vorhersehbare Rechtsgrundlage.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 2 4. ZPEMRK (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 10, 11 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 5 Abs 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 11, EMRK gelesen im Lichte von Art 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: Die Bf [...] verzichteten auf jegliche Form materiellen Schadenersatzes [...]. Der GH nimmt dies zur Kenntnis. € 1.714,28 für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).
Spruch
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf handelt sich um zwölf französische Staatsangehörige, die 2010 im Zuge einer Demonstration für mehrere Stunden von der Polizei eingekesselt wurden.
Am 21.10.2010 fand in Lyon eine Demonstration gegen eine geplante Reform des Pensionsrechts statt. Gemäß der Versammlungsanzeige sollte der Protestzug um 14:00 Uhr vom Place Bellecour losgehen. Bis zum Mittag hatten sich dort zwischen 500 und 600 Personen eingefunden. Um 12:17 Uhr wies der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit die Polizeikräfte an, mit der Schließung des Place Bellecour zu beginnen, da sich dort bereits mehrere Gruppen von Randalierern eingefunden hätten. Gegen 13:23 Uhr erging der Befehl zur totalen Absperrung des Place Bellecour. Es wurden keine weiteren Demonstrant*innen mehr zugelassen, ferner wurden die Zugänge von den Sicherheitskräften auf Unruhestifter kontrolliert. In der Folge wurde die Situation immer angespannter. Gegen 14:45 Uhr warfen Randalierer Geschosse auf die Einsatzkräfte, die ihrerseits mit dem Einsatz von Tränengas antworteten.
Die Demonstration endete um 16:45 Uhr. Um 17:00 Uhr entschieden die Behörden, die Einschließung der Demonstrant*innen am Place Bellecour zu beenden. Es wurden zwei Ausgangskorridore eingerichtet, an denen Identitätskontrollen stattfanden. Als die Situation zu eskalieren drohte und Warnungen der Polizei gegenüber der Menge, sich ruhig zu verhalten, erfolglos blieben, setzte sie Wasserwerfer und Tränengas ein, um Randalierer auseinanderzutreiben. Die Bf verließen den Platz zwischen 16:15 und 19:00 Uhr.
Am 29.7.2011 erstatteten Teilnehmer*innen der Demonstration Anzeige unter anderem wegen willkürlichen Eingriffs in ihre persönliche Freiheit durch staatliche Organe. Am 9.11.2011 wurde eine Untersuchung eingeleitet. Das Strafverfahren, dem sich die Bf und weitere Personen als Privatbeteiligte angeschlossen hatten, wurde in der Folge vom Strafgericht Lyon eingestellt.
Dagegen erhoben die beteiligten Parteien ein Rechtsmittel bei der Untersuchungskammer des Lyonner Strafgerichts zweiter Instanz. Mit Urteil vom 5.3.2020 bestätigte Letztere den Einstellungsbeschluss des Strafgerichts Lyon. Begründend führte sie aus, die Einschließung der Demonstrant*innen am Place Bellecour sei angesichts von Gewaltakten von Randalierern notwendig gewesen, um das Risiko für friedliche Teilnehmer*innen zu minimieren und Sachbeschädigungen zu vermeiden. Der Eingriff in die Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit sei nicht unverhältnismäßig gewesen. Da die Maßnahme unter außergewöhnlichen Umständen gesetzt worden sei, könne auch von einer willkürlichen Freiheitsentziehung iSv Art 5 EMRK und einem unrechtmäßigen Eingriff in die Bewegungsfreiheit gemäß Art 2 4. ZP EMRK keine Rede sein.
In der Folge reichten die Bf Beschwerde beim Cour de cassation ein und ersuchten um Vorabentscheidung bezüglich der Frage, ob der Gesetzgeber von Art 1 des Gesetzes 95-73 vom 21.1.1995 idF des Gesetzes 2003/239 vom 18.3.2003 (Anm: Danach hat der Staat für die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung Sorge zu tragen.) seine eigene Kompetenzen überschritten habe, indem er mit dieser Bestimmung Rechte und Freiheiten wie gegenständlich die persönliche Freiheit, die Bewegungsfreiheit und die Meinungsäußerungsfreiheit beeinträchtigt habe. Im vorliegenden Fall sei es nämlich verabsäumt worden, ausreichende und adäquate rechtliche Garantien für von Ordnungskräften durchgeführte Abriegelungsmaßnahmen vorzusehen. Mit Beschluss vom 15.12.2020 leitete der Cour de cassation die Frage an den Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) weiter.
Mit Entscheidung Nr 2020-889 vom 12.3.2021 erklärte der Conseil constitutionnel Art 1 des Gesetzes 95-73 vom 21.1.1995 für mit der Verfassung vereinbar. Eine dagegen erhobene Beschwerde an den Cour de cassation verlief erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf rügten Verletzungen von Art 5 Abs 1 (Recht auf persönliche Freiheit), Art 10 (Recht auf freie Meinungsäußerung), Art 11 EMRK (hier: Versammlungsfreiheit) sowie von Art 2 4. ZP EMRK (Freizügigkeit).
Zur behaupteten Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK
(46) Laut den Bf seien sie Opfer einer Freiheitsentziehung gewesen, die weder rechtmäßig noch nach Lage des Falles gerechtfertigt gewesen sei.
Bewertung durch den GH
(56) Im vorliegenden Fall stellt sich zuerst die Frage, ob die Bf Gegenstand einer Freiheitsentziehung iSv Art 5 Abs 1 EMRK wurden und ob diese Konventionsbestimmung somit auf den gegenständlichen Fall anwendbar ist.
Allgemeine Prinzipien
(58) Im Urteil Austin ua/GB (Rz 52–60) hat der GH die auf derartige Angelegenheiten anwendbaren allgemeinen Prinzipien in Erinnerung gerufen:
Erstens muss der Polizei bei operativen Entscheidungen ein gewisses Ermessen eingeräumt werden. Art 5 EMRK kann nicht so ausgelegt werden, dass es [der Polizei] praktisch unmöglich gemacht wird, ihre Pflichten zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zum Schutz der Öffentlichkeit zu erfüllen. Sie hat jedoch in jedem Fall das dem Art 5 EMRK zugrunde liegende Prinzip des Schutzes des Einzelnen vor Willkür zu befolgen.
Zweitens bezieht sich Art 5 Abs 1 EMRK nicht auf bloße Einschränkungen der Bewegungsfreiheit iSv Art 2 4. ZPEMRK. Zwecks Entscheidung darüber, ob jemandem iSv Art 5 EMRK »die Freiheit entzogen« wurde, muss ihre/seine konkrete Situation berücksichtigt werden. Dabei ist eine Reihe von Kriterien wie Art und Weise, Dauer, Auswirkungen und Modalitäten der Durchführung der strittigen Maßnahme zu berücksichtigen. Der Unterschied zwischen Entziehung und Beschränkung der Freiheit ist einer des Grades oder der Intensität und nicht einer der Art oder Natur.
Drittens ist das Ziel der fraglichen Maßnahme kein zu berücksichtigender Faktor bei der Beantwortung der Frage, ob es zu einer Freiheitsentziehung gekommen ist, mag auch der Grund für die ergriffene Maßnahme letztlich für die Frage relevant sein, ob die Freiheitsentziehung unter dem einen oder anderen Absatz von Art 5 Abs 1 EMRK gerechtfertigt war oder nicht.
Viertens ist der Kontext, in dem die Maßnahme erfolgte, ein bedeutender Faktor. Die Öffentlichkeit ist oft dazu aufgerufen, zeitweilige Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in bestimmten Konstellationen – beispielsweise bei öffentlichen Transporten, bei Umleitungen auf der Autobahn oder anlässlich eines Fußballspiels – zu erdulden. Vorbehaltlich der Tatsache, dass es sich hierbei um unvermeidliche Umstände handelt, die sich der behördlichen Kontrolle entziehen, weil sie notwendig zur Verhütung einer realen Gefahr ernster Verletzungen von Personen oder Schäden an Hab und Gut sind und sich diese Maßnahmen auf das für diesen Zweck notwendige Minimum beschränken, können solche häufig vorkommenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nach Ansicht des GH mit gutem Recht nicht als eine Entziehung der persönlichen Freiheit iSv Art 5 Abs 1 EMRK angesehen werden.
(59) Dem Fall Austin ua/GB [...] lag eine am 1.5.2001 abgehaltene Demonstration in London zugrunde, [bei der es zu einer Abriegelung des Oxford Circus durch die Polizei kam und Versuche scheiterten, die eingekesselten Demonstrationsteilnehmer*innen hinauszuschleußen, da es sowohl innerhalb als auch außerhalb der von der Polizei kontrollierten Korridore zu Gewalttaten seitens von Demonstrant*innen gekommen war]. [...]
(61) Auf der Grundlage [dieser Feststellungen] sprachen nach Ansicht des GH folgende Faktoren für das Vorliegen einer Freiheitsentziehung: der zwangsweise Charakter der Festhaltung innerhalb der Korridore, ferner ihre Dauer und ihre Auswirkungen auf die Bf sowie insb das körperliche Unbehagen, das durch die Unfähigkeit verursacht wurde, den Oxford Circus zu verlassen.
(62) Laut dem GH waren allerdings auch die Art und Weise und die Modalitäten der fraglichen Maßnahme zu berücksichtigen. Ferner sei der Kontext von Bedeutung, in dem die Maßnahme gesetzt worden war.
(63) Der GH hob in dem genannten Fall hervor, dass die strittige Maßnahme gesetzt worden sei, um eine große Menschenmenge unter instabilen und gefährlichen Umständen zu isolieren und festzuhalten. Die Polizei entschied sich dazu, die Menge im Wege der Festhaltung an Ort und Stelle zu kontrollieren, was angebrachter erschien als auf radikalere Methoden zurückzugreifen, die ein höheres Risiko für [körperliche] Beeinträchtigungen von Personen mit sich gebracht hätten. [...] Der GH kam zu der Ansicht, dass den Personen innerhalb der Absperrung iSv Art 5 Abs 1 EMRK nicht die Freiheit entzogen worden war.
(64) Der GH unterstrich aber, dass diese Schlussfolgerung auf den speziellen und außergewöhnlichen Tatsachen des gegenständlichen Falls fußte. Er stellte außerdem klar, dass sich die nationalen Behörden angesichts der fundamentalen Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit und der Bewegungsfreiheit in jeder demokratischen Gesellschaft davor hüten müssten, Rückgriff auf Kontrollmaßnahmen bezüglich von Menschenansammlungen zu nehmen, die direkt oder indirekt Protestaktionen im Keim ersticken oder entmutigen könnten. Wäre allerdings die Einrichtung und Aufrechterhaltung eines Korridors durch die Polizei zur Verhinderung von schweren Beeinträchtigungen von Personen oder von Hab und Gut nicht notwendig gewesen, dann wäre die strittige Maßnahme laut dem GH anders beschaffen gewesen und hätte aufgrund ihres zwangsweisen und restriktiven Charakters in den Anwendungsbereich von Art 5 EMRK fallen können.
Anwendung auf den gegenständlichen Fall
(65) Aus den Akten [...] geht hervor, dass die Einkesselung des Place Bellecour am 21.10.2010 etwa fünfeinhalb Stunden dauerte und zwischen 13:23 Uhr und 19:00 Uhr stattfand, als die letzten Identitätskontrollen vorgenommen wurden. Die Personen, die sich auf dem Platz aufhielten, waren somit eingesperrt und es war ihnen unmöglich, ihn ohne polizeiliche Genehmigung zu verlassen. Es hat auch nicht den Anschein, dass sie die Möglichkeit gehabt hätten, etwas zu trinken oder die Toiletten aufzusuchen. Die Sicherheitskräfte hatten um 13:50, 14:45 und 15:00 Uhr Tränengasgranaten eingesetzt. Zwischen 17:08 und 17:23 Uhr folgte ein weiterer Einsatz von Tränengas sowie von Wasserwerfern. Was die Dauer der Einsperrung der Bf angeht, variiert diese zwischen etwas weniger als drei Stunden im Fall der Bf Caroline Benkheffa und ungefähr fünfeinhalb Stunden bei den Bf Nora Bonal und Leila Millet. Bei den restlichen Bf ist die Dauer ihres Aufenthalts nicht bekannt. Die Regierung behauptete jedenfalls nicht, dass diese nicht auf dem Place Bellecour festgehalten worden wären oder diesen vor Beginn der Identitätskontrollen gegen 17:10 Uhr verlassen hätten. Der GH hält es daher für wahrscheinlich, dass die restlichen Bf für mindestens drei Stunden und 45 Minuten eingeschlossen waren.
(66) Wie er bereits im Fall Austin ua/GB hervorgehoben hat, spricht im vorliegenden Fall eine gewisse Anzahl von Faktoren für das Vorliegen einer Freiheitsentziehung: der zwangsweise Charakter der strittigen Einsperrungsmaßnahme, ihre Dauer und ihre Auswirkungen auf die Bf, ganz zu schweigen insb vom dadurch verursachten körperlichen Unbehagen, dies auch, weil sich die Bf nicht in der Lage sahen, den Place Bellecour zu verlassen.
(67) Ähnlich wie der GH im Fall Austin ua/GB vorgegangen ist, wird er auch im gegenständlichen Fall die Art und Weise sowie die Modalitäten rund um die Ausführung der strittigen Maßnahme in Betracht ziehen.
(68) In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass sich die strittige Einkesselungsmaßnahme im Kontext urbaner Gewalt ereignete, die in Lyon zwischen dem 14. und 21. Oktober im Zuge von Protesten gegen die geplante Reform des Pensionsrechts stattfand.
(69) [...] Die Untersuchungskammer des Lyonner Strafgerichts zweiter Instanz hatte am 21.10. festgestellt, dass die Behörden objektive und angemessene Gründe gehabt hatten, zu befürchten, dass die Ereignisse und Ausuferungen der vorherigen Woche, die sich von Tag zu Tag verschlechtert hatten und die durch schwerwiegende Zusammenstöße und Gewalthandlungen gekennzeichnet waren, sich wiederholen könnten. Dies auch deshalb, weil der allgemeine Kontext und die Zusammensetzung der am Vormittag beobachteten Neugruppierung von [randalierenden] Demonstrant*innen – es handelte sich hierbei vorwiegend um junge Erwachsene und Jugendliche – genau dieselben wie die Tage zuvor waren. Auch war in Betracht zu ziehen, dass es bereits am Vormittag zu Sachbeschädigungen durch Gruppen von Jugendlichen gekommen war, die sich auf den Place Bellecour zubewegten. Die Untersuchungskammer stellte fest, dass das Ziel der Abriegelung des Platzes nicht darauf gerichtet war, die [...] Demonstration zu verhindern oder Personen an der friedlichen Teilnahme daran zu hindern. Es ging um die Abwendung eines »realen Risikos« [für die Teilnehmer*innen], folglich wurde Anweisung gegeben, die Maßnahmen zur Gänze zu beenden, sobald dieses Risiko nach Beendigung der Demonstration nicht mehr existierte.
(70) Der GH sieht keinen Grund, diese Einschätzung nicht zu teilen. Tatsächlich lassen die Akten keinerlei Zweifel dahingehend aufkommen, dass Ziel der Absperrung des Place Bellecour die Isolation und Festhaltung potenziell gewalttätiger Unruhestifter*innen war, um jegliches Risiko für die Sicherheit von Personen sowie von Hab und Gut zu verhindern und den ordnungsgemäßen Ablauf des Demonstrationszugs zu garantieren, der vom Place Bellecour seinen Ausgang nahm.
(71) Der GH möchte ebenso wie die Untersuchungskammer [...] darauf hinweisen, dass der Place Bellecour nicht vollständig abgeriegelt wurde. Aus den Akten geht außerdem hervor, dass die Behörden die Situation im Blick hatten. Von Beginn der Abriegelung an hatten die Polizeibeamt*innen Instruktionen erhalten, auf dem Place Bellecour »zwischen Randalierern und Protestierenden zu unterscheiden«. Um 14:40 Uhr wurden 350 Personen dazu aufgefordert, den Platz zu verlassen. Hundert Personen, die nicht als Randalierer eingestuft wurden, wurde gegen 15:30 Uhr das Verlassen des Platzes gestattet. Zudem scheint es so, dass andere Teilnehmer*innen den Place Bellecour im Lauf des Nachmittags, darunter die Bf Benkheffa (in diesem Fall um 16:15 Uhr), verlassen konnten. Wie übrigens auch im Fall Austin ua/GB wurde das Verlassen des Platzes solcher Personen wie der nunmehrigen Bf, die der Demonstration auf friedliche Art und Weise beiwohnen wollten, durch das Verhalten gewisser Individuen erschwert, die im Lauf
des Nachmittags selbst noch zu dem Zeitpunkt, als entschieden wurde, die Einkesselung zu beenden, Scharmützel mit den Sicherheitskräften provozierten, indem sie Wurfgeschosse auf diese warfen.
(72) Es trifft auch zu, dass zwischen der Entscheidung, die Absperrungsmaßnahme zu beenden, und dem Verlassen des Platzes durch die letzten Demonstrationsteilnehmer*innen ungefähr zwei Stunden vergingen. Die Festhaltung der Bf Vincensini endete erst ungefähr eine Stunde nach dieser Entscheidung, jene des Bf Cottet-Emard circa eineinhalb Stunden danach, und jene der Bf Bonal und Millet etwa zwei Stunden später. Diese Verzögerungen haben jedoch ihre Ursache in der Tatsache, dass die Evakuierungen wegen der Scharmützel, die nach 17:00 Uhr am Place Bellecour stattfanden, und aufgrund der von den Sicherheitskräften an den Ausgängen vorgenommenen Identitätskontrollen verlangsamt wurden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die vorliegende Angelegenheit nicht weiter vom Fall Austin ua/GB, wo drei der vier Bf am Oxford Circus bis etwa 21:30 Uhr eingesperrt waren, bis die Umstände, welche die Polizei gezwungen hatten, die Menge zurückzuhalten, um ungefähr 20:00 Uhr nicht mehr weiterbestanden hatten.
(73) Mit Blick auf das Vorgesagte kommt der GH zu dem Schluss, dass die Freiheitsbeschränkung jener Personen, die sich – so wie auch die Bf – am Nachmittag des 21.10.2010 auf dem Place Bellecour in Lyon befunden hatten, das Resultat von Umständen war, die der Kontrolle der Behörden entglitten waren. Sie war daher notwendig, um ein reales Risiko von ernsten Übergriffen auf Personen oder auf Hab und Gut zu vermeiden. Zudem war sie auf das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Minimum begrenzt. Ungeachtet ihrer Dauer und ihrer Auswirkungen auf die Bf stellte sie angesichts der Art und Weise und der Modalitäten ihrer Durchführung folglich keine »Freiheitsentziehung« iSv Art 5 Abs 1 EMRK dar.
(74) Dieser Teil der Beschwerde ist daher mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ratione materiae iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK und muss daher gemäß Art 35 Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK
(75) Die Bf bringen vor, die Einsperrungsmaßnahme, der sie unterworfen worden seien, habe ihr [Recht auf] Freizügigkeit verletzt, da diese weder gesetzlich gedeckt noch unter den Umständen des Falles gerechtfertigt gewesen sei.
Zulässigkeit
(76) Da dieser Beschwerdepunkt weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(84) Der GH stimmt mit den Parteien darin überein, dass die Festhaltung der Bf auf dem Place Bellecour [...] eine Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit iSv Art 2 4. ZP EMRK darstellte.
(85) Jegliche Maßnahme, welche die Bewegungsfreiheit einschränkt, muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, eines der von Art 2 Abs 3 4. ZP EMRK anvisierten legitimen Ziele verfolgen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein [...].
(86) Was die Eigenschaften angeht, die ein Gesetz haben sollte, erinnert der GH an die allgemeinen Grundsätze, die er insb in seinem Urteil im Fall De Tommaso/IT angeführt hat (Rz 106–109). [...]
(87) Was nun den gegenständlichen Fall angeht, möchte der GH erstens hervorheben [...], dass aus Art 1 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit vom 21.1.1995, Art L. 2214-4 des Gesetzes betreffend Gebietskörperschaften und Art 34 des Gesetzes vom 2.3.1982 bezüglich der Rechte und Freiheiten von Gemeinden, Departements und Regionen hervorgeht, dass der Staat unter einer Verpflichtung steht, die Sicherheit zu gewährleisten, indem er für die Aufrechterhaltung des Friedens und der öffentlichen Ordnung sowie den Schutz von Personen und Eigentum Sorge trägt. Folglich zählt es zu seinen Aufgaben, in Gemeinden wie in Lyon, wo die Polizei der staatlichen Verwaltung angehört, Beeinträchtigungen der öffentlichen Ruhe und Ordnung etwa durch Menschenansammlungen in Schranken zu halten. In dieser Hinsicht obliegt dem zuständigen Präfekt die Leitung der Handlungen der nationalen Polizei auf dem Gebiet der öffentlichen Ordnung und der Verwaltungspolizei.
(88) Wie zweitens auch die Regierung unterstreicht, wird der in Art 431 Abs 3 des Code pénal verwendete Begriff der Menschenansammlung als »jegliche Ansammlung von Menschen auf öffentlichem Gelände oder an einem öffentlichen Ort, welche die öffentliche Ordnung stören könnte«, definiert.
(89) Aus der gefestigten Rsp des Conseil constitutionnel und des Conseil d’État geht ferner hervor, dass eine auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung abzielende Maßnahme, welche in die Grundrechte von Personen einschließlich der Bewegungsfreiheit eingreift, gegenüber dem verfolgten Ziel angemessen, notwendig und verhältnismäßig sein muss.
(90) Allgemein gesagt wird dem Präfekt vom innerstaatlichen Recht gestattet, im Fall von Menschenansammlungen auf öffentlichen Straßen und Plätzen Maßnahmen zwecks Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu ergreifen, die in die Bewegungsfreiheit von Individuen eingreifen, vorausgesetzt die von ihm getroffenen Maßnahmen genügen den Anforderungen an die Angemessenheit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit. Der GH schließt daraus, dass der Grundsatz der polizeilichen Intervention, wie er in einer Situation wie der vorliegenden zum Tragen kommt, auf einer Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht beruht.
(91) Die Rüge der Bf bezieht sich ausdrücklich auf den – im Rahmen von am [...] 21.10.2010 stattfindenden Operationen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung erfolgten – Rückgriff auf die Strategie der Einschließung [von Demonstrationsteilnehmer*innen]. Nun hat aber der Conseil constitutionnel in seiner Entscheidung vom 12.3.2021 bezüglich Art 1 des Gesetzes vom 21.1.1995 klargestellt, dass die Bestimmungen, die dem Staat die allgemeine Pflicht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auferlegen, »nicht die Art und Weise der Ausübung dieser Pflicht und insb nicht die zwecks Erreichung dieses Ziels heranzuziehenden Maßnahmen definieren« [...]. Seitens des GH muss aber darauf hingewiesen werden, dass zum Zeitpunkt der strittigen Ereignisse weder ein anderer Gesetzestext noch eine andere Bestimmung ausdrücklich auf die Strategie der Einschließung in der Form Bezug nahm, wie sie von den Sicherheitskräften im vorliegenden Fall angewendet wurde. Erst recht war der Rückgriff auf eine solche Maßnahme gesetzlich gar nicht geregelt worden. Im Lichte dieses besonderen Umstands wird sich der GH nun hinsichtlich der unter Art 2 des 4. ZP EMRK vorgebrachten Rüge über die »Qualität« des Rechts zu äußern haben – einer Frage, mit der sich die innerstaatlichen Instanzen im Übrigen nicht auseinander gesetzt haben.
(92) Dazu ist an erster Stelle zu sagen, dass bei präventiv eingesetzten Techniken, die geeignet sind, die Grundrechte und Grundfreiheiten (hier: die Bewegungsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie das Recht, sich friedlich zu versammeln) von sich friedlich verhaltenden Demonstrant*innen zu beeinträchtigen, es wesentlich ist, ein Regelwerk einzurichten, in dem in präziser Art und Weise festgelegt wird, unter welchen Umständen und unter welchen Rahmenbedingungen von einer solchen Technik Gebrauch zu machen ist. Ferner sind die Modalitäten ihrer Durchführung und die zeitlichen Grenzen ihrer Anwendung zu regeln. Dies ist auch erforderlich, um Individuen Garantien gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt in ihre Rechte und Freiheiten zu verschaffen. Darüber hinaus muss die Notwendigkeit ins Auge gefasst werden, Personen vor nachteiligen Auswirkungen auf die Ausübung ihrer Rechte und Freiheiten – darunter insb das Recht auf Kundgebung ihrer eigenen Meinung, wozu auch die friedliche Versammlung zählt – zu bewahren.
(93) Zweitens ist hervorzuheben, dass – mag auch die Strategie der Einkesselung eine Praxis darstellen, auf welche die Sicherheitskräfte im Fall eines ernsten Risikos für eine Ausuferung [einer Demonstration] zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zurückgreifen dürfen – eine solche Strategie, wie bereits zuvor erwähnt, zum Zeitpunkt der strittigen Ereignisse nicht Gegenstand eines spezifischen rechtlichen Regelwerks war. Der GH möchte in dieser Hinsicht unterstreichen, dass [...] zum einen der zuständige Rechtsschutzbeauftragte (Défenseur des droits) dem Innenminister am 21.5.2015 empfahl, Rahmenbedingungen zu erlassen, die präzise und genau die Bedingungen und die Modalitäten des Rückgriffs auf eine von den Sicherheitskräften vorgenommene Einkesselung zu definieren hätten. Zum anderen kam der Conseil d’État in der zuvor zitierten Entscheidung vom 10.6.2021 zu dem Schluss, dass – sollte sich der Einsatz dieser Technik unter bestimmten Umständen als Antwort auf Bedrohungen der öffentlichen Ordnung als notwendig erweisen – dies in signifikanter Art und Weise die Kundgebungsfreiheit beeinträchtigen würde. In so einem Fall würden Individuen in unzulässiger Art und Weise von der Ausübung ihrer Bewegungsfreiheit abgeschreckt. Laut dem Conseil d’État sei daher eine präzise Regelung von Sachverhalten erforderlich, bei denen diese Technik zur Anwendung kommen dürfe, um sicherzustellen, dass sich ihr Gebrauch, gemessen an den Umständen, als angemessen, notwendig und verhältnismäßig erweise. Aus diesem Grund hob er den im »Nationalen Plan für die Aufrechterhaltung der Ordnung« angeführten Punkt über Einkesselungen auf. Gleichzeitig stellte er aber fest, dass es durchaus zweckmäßig sei, »auf eine solche Taktik zurückzugreifen, ohne vorweg die Umstände genau umschreiben zu müssen, unter denen eine Einkesselung stattfinden darf«. Angesichts dessen, dass zum Zeitpunkt der strittigen Ereignisse für Sicherheitskräfte keinerlei Regelung bestand, in der die Strategie der Einkesselung zur Sprache gekommen wäre, kommt der GH zu dem Schluss, dass das allgemeine rechtliche Regelwerk bezüglich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in der Art und Weise, wie es sich zum damaligen Zeitpunkt darstellte, nicht mit ausreichender Präzision die Anwendung der Einkesselungstechnik definierte, um eine Garantie gegen die Gefahr von willkürlichen Eingriffen in die Bewegungsfreiheit von mutmaßlich davon betroffenen Personen darstellen zu können.
(94) Der GH weist darauf hin, dass nach Ablauf der gegenständlichen Ereignisse per Erlass des französischen Innenministers vom Dezember 2021 ein neuer »Nationaler Plan für die Aufrechterhaltung der Ordnung« erging, mit dem die rechtkräftige Entscheidung des Conseil d’État umgesetzt wurde. Er schließt daraus, dass der Rückgriff auf Einkesselungstechniken durch die Sicherheitskräfte, welche einen Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Bf verursachten, zum Zeitpunkt der strittigen Ereignisse iSv Art 2 4. ZP EMRK gesetzlich nicht vorgesehen war.
(95) Es hat somit [...] eine Verletzung von Art 2 4. ZP EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung der Art 10 und 11 EMRK
(96) Die Bf bringen vor, aufgrund der am 21.10.2010 erfolgten Abriegelung des Place Bellecour daran gehindert worden zu sein, sich an der Kundgebung [...] zu beteiligen.
(98) Der Beschwerdepunkt [...] ist für zulässig zu erklären (einstimmig).
(104) [...] Der GH sieht keinen Grund, die [...] Beteuerungen der Bf anzuzweifeln, wonach die Mitwirkung an der Kundgebung einzig und allein dem Zweck gedient habe, ihre Meinung frei zu äußern.
(105) Im Gegensatz zu den anderen Bf hat Frau Caroline Benkheffa den Place Bellecour noch vor Veranstaltungsende um 16:45 Uhr verlassen. Auch gesetzt den Fall, es wäre ihr möglich gewesen, den Platz um 16:15 Uhr zu verlassen, gelang es ihr nicht mehr, dem Demonstrationszug zu folgen, der sich gegen 14:30 Uhr in eine andere Richtung bewegte [...].
(106) Der GH ist daher der Ansicht, dass die Festhaltung der Bf auf dem Place Bellecour aufgrund ihrer Einkesselung durch Sicherheitskräfte einen Eingriff in die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung bzw auf Freiheit der Meinungsäußerung darstellte [...].
(107) Er erinnert daran, dass sowohl Art 11 EMRK als auch Art 10 EMRK zufolge jeder Eingriff in diese Freiheiten auf einer gesetzlichen Grundlage basieren muss.
(108) Aus denselben Gründen, wie sie von ihm in den Rz 87–95 im Zuge der Prüfung des Beschwerdepunkts unter Art 2 4. ZP EMRK dargelegt wurden, ist der GH der Auffassung, dass die genannte Voraussetzung im gegenständlichen Fall nicht erfüllt wurde.
(109) Es kam daher zu einer Verletzung des Art 11 EMRK, gelesen im Lichte von Art 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
(111) Die Bf [...] verzichteten auf jegliche Form materiellen Schadenersatzes [...]. Der GH nimmt dies zur Kenntnis. € 1.714,28 für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Mits und Richterin Mourou-Vikström).
Vom GH zitierte Judikatur:
Austin ua/GB, 15.3.2012, 39692/09 (GK) = NLMR 2012, 80
De Tommaso/IT, 23.2.2017, 43395/09 (GK) = NLMR 2017, 63
Hakim Aydın/TR, 26.5.2020, 4048/09
Rotaru/MD, 8.12.2020, 26764/12
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.2.2024, Bsw. 1162/22, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 57) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.