JudikaturAUSL EGMR

Bsw37777/22 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
30. Januar 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Gemeinnützige Privatstiftung Anas Schakfeh gg Österreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 30.1.2024, Bsw. 37777/22.

Spruch

Art 6 Abs 2 EMRK - Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung auf Pressekonferenz über die »Operation Luxor« .

Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei der Bf handelt es sich um eine Privatstiftung, die sich der Erwachsenenbildung und der Völkerverständigung widmet.

Am 4.8.2020 erstreckte die Staatsanwaltschaft Graz ihre umfangreichen Ermittlungen über Verbindungen von mehr als 100 Verdächtigen zu Terrororganisationen und Terrorismusfinanzierung auch auf die Bf und ihre Vorstandsmitglieder. Die Ermittlungsakten wurden zur Verschlusssache erklärt.

Nach dem Terroranschlag vom 2.11.2020, bei dem ein islamistischer Attentäter in der Wiener Innenstadt vier Personen getötet und mehr als 20 verletzt hatte, ehe er von der Polizei erschossen wurde, führten die Sicherheitsbehörden am 9.11. Hausdurchsuchungen an mehr als 60 Orten durch (»Operation Luxor«), die von der Staatsanwaltschaft angeordnet und gerichtlich bewilligt worden waren. Im Zuge dessen wurden auch die Räumlichkeiten der bf Stiftung durchsucht.

Am selben Tag berichteten der Innenminister und der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit bei einer Pressekonferenz über diesen Einsatz, der sich gegen die Hintermänner des Terroranschlags gerichtet habe. Wie der Generaldirektor ausführte, seien mehr als 60 Hausdurchsuchungen in »Wohnungen, Firmen, Vereinen, Stiftungen und Moscheevereinen« durchgeführt worden, »denen die Zugehörigkeit zur Muslimbruderschaft bzw der Hamas nachgewiesen werden konnte«. Die Ermittlungen beträfen »mehr wie 70 Beschuldigte, die eine kriminelle Struktur zur Verschleierung von Vermögen und Vermögenswerten, die zur Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dienen, errichtet haben.« Weder der Minister noch der Generaldirektor nannten Namen von Verdächtigen.

Die bf Stiftung erhob einen Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 StPO, mit dem sie eine Verletzung in ihrem Recht auf Unschuldsvermutung durch die Äußerungen bei der Pressekonferenz geltend machte. Das LG für Strafsachen Graz wies diesen Einspruch als unzulässig zurück, weil Äußerungen gegenüber der Presse nicht Gegenstand dieses Rechtsbehelfs sein könnten. Der gegen diesen Beschluss erhobenen Beschwerde gab das OLG Graz nicht Folge. Der OGH wies den Antrag der bf Stiftung auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO als unzulässig zurück. (Anm: OGH 7.6.2022, 15 Os 32/22b.)

Aufgrund eines weiteren Rechtsmittels erklärte das OLG Graz die Hausdurchsuchung für rechtswidrig, da kein ausreichender Tatverdacht gegen die bf Stiftung und ihre Vorstandsmitglieder bestand, sondern die Annahmen der Staatsanwaltschaft auf »Mutmaßungen über mehrere Ecken« beruhten. Das Ermittlungsverfahren gegen die bf Stiftung und ihre Vorstandsmitglieder wurde am 12.7.2022 eingestellt, weil kein hinreichender Tatverdacht bestand.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die bf Stiftung brachte vor, die Aussagen des Generaldirektors für die öffentliche Sicherheit – insb die Behauptung, ihre Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung sei nachgewiesen worden – hätten gegen Art 6 Abs 2 EMRK (Unschuldsvermutung) verstoßen.

(17) [...] Die Unschuldsvermutung umfasst Äußerungen öffentlicher Organe über anhängige strafrechtliche Ermittlungen, die bei der Öffentlichkeit den Glauben hervorrufen, der Verdächtige sei schuldig, und damit der Beurteilung der Tatsachen durch die zuständigen Gerichte vorgreifen. [...] Der GH hat die Bedeutung betont, die der Wortwahl öffentlicher Organe in ihren Presseerklärungen zukommt, die vor der Verurteilung einer Person veröffentlicht werden. Ob eine Äußerung gegen die Unschuldsvermutung verstößt, muss im Kontext der besonderen Umstände beurteilt werden, unter denen die umstrittene Äußerung erfolgte.

(18) [...] Nach österreichischem Recht [...] kann eine juristische Person wie die Bf nach dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz theoretisch für die Handlungen ihrer Organe strafrechtlich verantwortlich gemacht werden. [...] Der GH erachtet es jedoch nicht als notwendig zu entscheiden, ob Art 6 Abs 2 EMRK unter den gegebenen Umständen auf die Beschwerde der bf Stiftung anwendbar ist, weil diese aus den folgenden Gründen jedenfalls als unzulässig zurückgewiesen werden muss.

(19) [...] Der Name der Bf wurde weder in den Äußerungen des Generaldirektors für die öffentliche Sicherheit noch an anderer Stelle bei der Pressekonferenz erwähnt. Es muss daher geprüft werden, ob die bf Stiftung ausreichend nachgewiesen hat, in einer Weise als einer Straftat schuldig dargestellt worden zu sein, die sie in der öffentlichen Meinung persönlich stigmatisiert oder ein eventuelles Strafverfahren wegen dieser mutmaßlichen Taten beeinträchtigt hätte.

(20) Wie der GH anerkannt hat, kann eine Person in bestimmten Fällen identifiziert werden, auch ohne dass ihr Name genannt wurde, [...] zB in Situationen, in denen der Name des Verdächtigen der Öffentlichkeit schon vor der umstrittenen Äußerung bekannt war, [...] oder wo auf einen politischen Skandal verwiesen wurde, in den allgemein bekannte Politiker verwickelt waren [...]. [...]

(21) Im vorliegenden Fall hat die bf Stiftung keine Argumente für die Annahme vorgebracht [...], sie könnte ohne Nennung ihres Namens oder der Namen ihrer Vorstandsmitglieder in den umstrittenen Äußerungen identifiziert werden. Auch wenn manche der von den öffentlichen Organen gewählten Formulierungen problematisch gewesen sein mögen – insb jene Passagen, mit denen Straftatbestände, die noch Gegenstand der laufenden Ermittlungen waren, als erwiesen dargestellt wurden, oder mit denen die Ermittlungen mit dem Terroranschlag in Verbindung gebracht wurden – deutet nichts in den Aussagen darauf hin, dass die Identität der bf Stiftung oder irgendeines anderen Verdächtigen enthüllt werden sollte oder tatsächlich enthüllt wurde. Die Beschwerde weist auch keines der anderen [...] Anzeichen auf (siehe oben Rz 20), auf deren Grundlage der GH zur Schlussfolgerung kommen könnte, es wäre zum Zeitpunkt der Pressekonferenz allgemein bekannt gewesen, dass die bf Stiftung zu den mehr als 100 Verdächtigen gehörte.

In diesem Zusammenhang muss besonderes Gewicht auf den Umstand gelegt werden, dass die Ermittlungsakte lange vor der Pressekonferenz und auch danach als Verschlusssache behandelt wurde.

(22) Es wurde somit nicht festgestellt, dass die bf Stiftung in einer Art und Weise als einer Straftat schuldig oder für eine solche verantwortlich dargestellt wurde, die sie in der öffentlichen Meinung stigmatisiert oder in einem etwaigen gerichtlichen Verfahren wegen der mutmaßlichen Straftaten benachteiligt hätte. Folglich ist dieser Beschwerdepunkt offensichtlich unbegründet und muss daher [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

(23) In Anbetracht dieser Schlussfolgerung erachtet es der GH nicht als notwendig zu prüfen, ob die bf Stiftung trotz der Einstellung der Ermittlungen behaupten kann, »Opfer« iSv Art 34 EMRK zu sein.

(24) [...] Angesichts der Feststellung der offensichtlichen Unbegründetheit der Beschwerde unter Art 6 Abs 2 EMRK kann sie keine Frage unter Art 13 EMRK iVm dieser Bestimmung aufwerfen. Folglich ist auch dieser Beschwerdepunkt offensichtlich unbegründet und [als unzulässig] zurückzuweisen.

(25) Folglich muss die Beschwerde gemäß Art 35 Abs 4 EMRK zurückgewiesen werden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Allenet de Ribemont/FR, 10.2.1995, 15175/89 = ÖJZ 1995, 509

Kalliola ua/FI, 6.9.2001, 36741/97 (ZE)

Butkevičius/LT, 26.3.2002, 48297/99

ATV Privatfernseh-GmbH/AT, 6.10.2015, 58842/09 (ZE) = NLMR 2015, 554

G. C. P./RO, 20.12.2011, 20899/03

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 30.1.2024, Bsw. 37777/22, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 25) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise