Bsw18843/20 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Cherrier gg Frankreich, Urteil vom 30.1.2024, Bsw. 18843/20.
Spruch
Art 8 EMRK - Keine Preisgabe der Identität der leiblichen Mutter auch 50 Jahre nach anonymer Geburt.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 8 EMRK (6:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die 1952 geborene Bf wurde einige Monate nachdem sie von ihrer leiblichen Mutter verlassen worden war adoptiert, wovon sie erst erfuhr, als der zweite Adoptivelternteil 2008 verstarb.
2008 wandte sie sich an den Conseil national pour l’accès aux origines personnelles (Nationaler Rat für den Zugang zu den persönlichen Ursprüngen – im Folgenden »CNAOP«), um die Gründe für ihre Freigabe zur Adoption und die Identität ihrer biologischen Eltern zu erfahren. Außerdem formulierte sie mehrere Fragen zur Staatsangehörigkeit ihrer Mutter, zur medizinischen Vorgeschichte ihrer Familie und zur Existenz biologischer Geschwister.
Im Laufe seiner Untersuchungen sammelte der CNAOP Informationen (Name, Vorname, Geburtsort und -datum, physische Beschreibung) über die biologischen Eltern der Bf. Der CNAOP erhielt auch das Adoptionsurteil und Kenntnis über den Grund der Freigabe zur Adoption. Es gelang ihm, die Mutter ausfindig zu machen, die sich, wie gemäß Art L 147-6 des französischen Sozial- und Familiengesetzbuchs (Code de l’action sociale et des familles, im Folgenden »CASF«) möglich, für die weitere Geheimhaltung ihrer Identität »jetzt und nach ihrem Tod« aussprach. Die leibliche Mutter bestätigte dem CNAOP auch die Identität des Vaters und beantwortete die oben genannten Fragen der Bf.
Mit Schreiben vom 16.4.2009 ersuchte die Bf den CNAOP, ihre leibliche Mutter erneut zu kontaktieren, da sie noch viele Fragen habe. Am 27.4.2009 teilte dieser mit, dass er nicht mehr an die Mutter herantreten werde, da diese darum gebeten habe und er verpflichtet sei, ihre Privatsphäre zu respektieren.
Am 15.6.2009 teilte die Bf dem CNAOP mit, dass sie ihren anonymisierten Akt erhalten habe und bat darum, weitere Nachforschungen anzustellen, um ihren biologischen Vater ausfindig zu machen. Die Schritte des CNAOP führten zur Identifikation einer Person, die dem im Akt angegebenen Namen und Alter entsprach. Diese Person, ein sehr alter Mann, weigerte sich, die Geheimhaltung der eigenen Identität aufzuheben.
Im September 2010 und im Februar 2012 wiederholte die Bf ihre Anträge auf Zugang zur Identität ihrer leiblichen Mutter.
Mit Schreiben vom 29.9.2010 teilte der CNAOP der Bf mit, dass ihre Mutter immer noch die Möglichkeit habe, ihre Entscheidung zu revidieren, und wiederholte, dass er sich nicht über deren Weigerung, das Geheimnis ihrer Identität aufzuheben, hinwegsetzen könne. Mit begründetem Schreiben vom 6.3.2012 weigerte sich der CNAOP, die Identität der Mutter offenzulegen.
Das Tribunal administratif von Neukaledonien (Verwaltungsgericht, im Folgenden »TA«) war der Ansicht, die Bf könne nicht argumentieren, dass der CNAOP nicht alle Mittel eingesetzt habe, um den Zugang zu ihrer Herkunft zu ermöglichen, und lehnte ihren Antrag auf Aufhebung der Entscheidung vom 6.3.2012 mit Urteil vom 30.9.2015 ab. Das TA wies darauf hin, dass es weder Sache des CNAOP noch des Verwaltungsrichters sei, über die Gültigkeit des von einem biologischen Elternteil geäußerten Willens, seine Identität nicht preiszugeben, zu entscheiden.
Mit Urteil vom 30.1.2018 wies der Cour administrative d’appel von Paris (im Folgenden »CAA«) das Rechtsmittel gegen dieses Urteil zurück.
Mit Rechtsmittel und Schriftsatz vom 30.4. und 27.7.2018 begehrte die Bf beim Conseil d’État (Staatsrat), das Urteil der CAA aufzuheben. Am 16.10.2019 wies der Conseil d’État die Kassationsbeschwerde zurück und führte insb aus, dass der Bf ein Verfahren offengestanden sei, das die Möglichkeit der Aufhebung des Geheimnisses der Identität bei Zustimmung der biologischen Mutter vorsieht und dadurch einen Ausgleich zwischen der der Mutter bei der Geburt zugesicherten Anonymität und dem legitimen Wunsch des Kindes nach Kenntnis seiner Herkunft schaffe. Die Bf verfüge, abgesehen von der Kenntnis der Identität ihrer noch lebenden biologischen Mutter, über die vom CNAOP gesammelten Informationen, weshalb eine Verletzung des durch Art 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens nicht vorliege.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf rügt eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens). Die Beschwerde betrifft die Weigerung des CNAOP, der Bf die Identität ihrer leiblichen Mutter mitzuteilen, die sie bei der Geburt verlassen hat und die ihren Geheimhaltungswillen hinsichtlich ihrer Identität als Antwort auf einen diesbezüglichen Aufhebungsantrag erneuert hat.
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
Zur Zulässigkeit
(43) Der GH [...] erklärt die Beschwerde für zulässig (einstimmig).
In der Sache
Zur Art der staatlichen Verpflichtung
(57) Der GH erinnert daran, dass Art 8 EMRK in erster Linie dazu dient, den Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der öffentlichen Hand zu schützen. Im vorliegenden Fall stellt er fest, dass der CNAOP eine staatliche Einrichtung ist, [...] die [in Anwendung von] Art L 147-6 des CASF [...] die Identität der Mutter mitteilt, »wenn es keine ausdrückliche Willensbekundung zur Wahrung des Geheimnisses gegeben hat, nachdem diesfalls der Wille der Betroffenen verifiziert wurde«. Diese Bestimmung ermöglicht die Geheimhaltung, die der Verletzung des Rechts auf Zugang zu den Ursprüngen zugrunde liegt, über die sich die Bf beschwert. Folglich ist der GH der Ansicht, dass die Entscheidung des CNAOP, der Bf die Identität ihrer leiblichen Mutter nicht mitzuteilen und ihr den Willen der Mutter entgegenzuhalten, unter dem Gesichtspunkt der negativen Pflichten zu prüfen ist.
(59) Der Eingriff war in Art L 147-6 CASF vorgesehen und verfolgte mindestens eines der in Art 8 Abs 2 EMRK aufgelisteten legitimen Ziele: den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Personen, insb der leiblichen Mutter.
(60) Es bleibt festzustellen, ob der Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Ziel stand, nachdem festgestellt wurde, wie groß der Ermessensspielraum war, der dem Staat in diesem Fall zustand.
Zum Ermessensspielraum
Einleitende Bemerkungen
(61) Der GH stellt fest, dass die Parteien über die Einhaltung von Art 8 EMRK im Hinblick auf das Urteil Odièvre/FR uneins sind. [...]
(62) Während die GK im Urteil Odièvre das von Frankreich durch das Gesetz von 2002 eingeführte System des Zugangs zu den persönlichen Ursprüngen als geeignet befand, einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen betroffenen Interessen zu fördern, [muss der GH im vorliegenden Fall prüfen, ob] das Recht der Bf auf Achtung ihres Privatlebens im Rahmen dieses Systems – dh in der Art, wie es sich entwickelt hat und im vorliegenden Fall zwischen 2012 und 2019 umgesetzt wurde – gewahrt wurde.
(64) In Bezug auf das innerstaatliche Recht stellt der GH fest, dass nach dem Urteil Odièvre die Gesetzesreform von 2009 das 2002 eingeführte System der Umkehrbarkeit der Geheimhaltung der Identität der Mutter ergänzte. [...] [Nunmehr] kann ein Kind [...], wenn es die Identität seiner Mutter herausfindet, eine Klage zum Zweck der Feststellung der mütterlichen Abstammung erheben. Der GH stellt außerdem fest, dass der Conseil constitutionnel in einer Entscheidung vom 16.5.2012 das System der Entbindung unter Geheimhaltung für verfassungskonform erklärte, indem er sich auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Gesundheitsschutzes stützte und feststellte, dass es geeignet sei, ein zufriedenstellendes Gleichgewicht zwischen den »Interessen der Mutter und denen des Kindes« zu gewährleisten. [...] Er vertrat in dieser Entscheidung die Ansicht, dass es nicht seine Aufgabe sei, die Einschätzung des Gesetzgebers über den zwischen den auf dem Spiel stehenden Interessen vorzunehmenden Ausgleich durch seine eigene zu ersetzen. Schließlich stellt der GH fest, dass sich der Gesetzgeber seinerseits dafür entschieden hat, die Möglichkeit einer Frau, die Geheimhaltung ihrer Entbindung und Identität zu verlangen, beizubehalten, obwohl er beschlossen hat, die Anonymität von Keimzellenspendern aufzuheben.
(66) Der GH räumt ein, dass [die aus Art 8 abgeleiteten Rechte des erwachsenen Kindes und seiner Mutter miteinander in Konflikt stehen]: Das Recht der Bf, ihre Abstammung zu kennen, ist ein integraler Bestandteil des Begriffs »Privatleben«. Es kollidiert mit den Rechten und Interessen ihrer biologischen Mutter, ihre Anonymität auch 50 Jahre nach der Geburt ihres Kindes zu wahren. [...] Anders als in den Fällen Odièvre und Godelli, in denen die Bf noch nicht oder überhaupt nicht über die Möglichkeit verfügten, ein Verfahren zur Aufhebung der Geheimhaltung einzuleiten, stellt die Suche der Bf im vorliegenden Fall [...] sie frontal gegen ihre leibliche Mutter und gegen deren Wunsch, in einer Zeit, die nicht mehr die Zeit der Geburt ist, anonym zu bleiben. In diesem Zusammenhang ist der GH der Ansicht, dass der Wille der beiden strikt und gleichberechtigt zu berücksichtigen ist [...].
Zum konkreten Ermessensspielraum
(68) Der GH stellt fest, dass sich die Prüfung des »angemessenen Gleichgewichts« um zwei private Rechte und Interessen herum verengt. Darüber hinaus ist sich der GH bewusst, dass die Frage der Geburt unter Geheimhaltung aus Sicht der Frauen und insb ihrer Gesundheit sowie ihrer physischen und psychischen Integrität nach wie vor heikle ethische Fragen aufwirft. Diese Elemente sprechen für die Anerkennung eines breiten Ermessensspielraums.
(69) Es muss jedoch der Umstand berücksichtigt werden, dass ein besonders wichtiger Aspekt der Identität eines Menschen auf dem Spiel steht, sobald das Recht auf Kenntnis seiner Abstammung berührt wird. Dies ist insb bei einem Kind der Fall, das nach seiner Herkunft [...] sucht. Darüber hinaus stellt der GH fest, dass Frankreich weiterhin einer Minderheit unter den Mitgliedstaaten des Europarats angehört, die in ihrer Mehrheit die Institution der geheimen Geburt nicht in einer so weitgehenden Form kennen. Diese Faktoren schränken den staatlichen Ermessensspielraum ein.
Zur Abwägung der konkurrierenden Positionen
(71) Der GH stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte das 2002 eingeführte System der Umkehrbarkeit der Geheimhaltung, das ihrer Ansicht nach die Achtung des Privatlebens der Bf und ihrer Mutter auf ausgewogene Weise gewährleistet, bestätigt haben. Das TA und die CAA urteilten, dass die Zuständigkeit des CNAOP und die richterliche Befugnis sich nicht auf die Überprüfung der Begründetheit des [...] Widerstands der Mutter [...] erstrecken. Der Staatsrat bestätigte diese Analyse daraufhin, indem er die Ablehnung des Rechtsmittels der Bf mit dem ausgewogenen Charakter des durch das Gesetz von 2002 eingeführten Systems und dem dadurch geschaffenen Ausgleich zwischen dem »Recht der Mutter auf Anonymität, das ihr bei der Entbindung garantiert« worden war und dem »legitimen Wunsch des unter diesen Bedingungen geborenen Kindes, seine Herkunft zu kennen«, begründete. Darüber hinaus stellte er klar, dass die Mitteilung von Informationen über die Geburt an die Bf ausreiche, um davon auszugehen, dass ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens gemäß Art 8 EMRK nicht verletzt worden sei.
(72) Im vorliegenden Fall erinnert der GH erstens daran, dass er bereits anerkannt hat, dass die in Frage stehenden Rechte und Interessen zweier erwachsener Personen, die jeweils über ihre Willensfreiheit verfügen, schwer miteinander zu vereinbaren sind. Denn einerseits sind eine geheime Entbindung und die Aufhebung der Geheimhaltung höchstpersönliche Handlungen, und die Auswirkungen, die eine solche Aufhebung auf das Privatleben der Mutter oder ihres Umfelds zu Lebzeiten haben könnte, dürfen nicht unterschätzt werden. In Bezug auf die leibliche Mutter der Bf stellt der GH fest, dass sie 1952 geheim entbunden hat, also zu einer Zeit, in der die Gesetzgebung nicht vorsah, dass die Mutter kontaktiert wird, um ihren Willen zu äußern, ob sie die Aufhebung der Geheimhaltung ihrer Identität akzeptieren oder ablehnen will. Andererseits muss der Schmerz, den die Aufrechterhaltung der Geheimhaltung verursachen kann, wenn das erwachsene Kind weiß, dass seine leibliche Mutter noch lebt, ernst genommen werden.
Im Fall der Bf betont der GH, dass die Suche nach ihrer Herkunft als ein grundlegendes Element ihrer Identitätsbildung erscheint, die mit moralischem und psychischem Leid einhergeht.
(73) Der GH räumt ein, dass die Möglichkeit der gesuchten Mutter, ihren Willen zu äußern, dass ihre Identität nach ihrem Tod nicht bekannt gegeben wird, was sie im vorliegenden Fall getan hat, eine besondere Frage im Hinblick auf den Ausgleich der Rechte und Interessen aufwirft, da ihre Entscheidung für die Anonymität in dieser Situation in der Abwägung ein anderes Gewicht haben könnte. Davon abgesehen ist er nicht der Ansicht, dass dieser Punkt getrennt von dem weiter unten dargelegten Mechanismus der Umkehrbarkeit der Geheimhaltung, der von Frankreich eingeführt wurde, geprüft werden sollte. Er wurde vor den innerstaatlichen Gerichten nicht gesondert geltend gemacht. Zudem hätte die Bf, wenn die Situation eintreten würde, die Möglichkeit, einen neuen Antrag beim CNAOP einzubringen [...]. [...]
(74) In Bezug auf [den Mechanismus der Umkehrbarkeit der Geheimhaltung] stellt der GH zweitens fest, dass dieser zwar darauf abzielt, den Zugang zu den Ursprüngen von Kindern, die unter Geheimhaltung geboren wurden, zu erleichtern, sich jedoch für eine Ausgestaltung dieses Zugangs entscheidet, die im Fall der Weigerung der Mutter, ihre Identität preiszugeben, dazu führt, dass das Kind als Erwachsener nicht mehr das Recht hat, diese zu erfahren. [...] Es stimmt, dass [das Recht der Bf] in dieser Situation völlig unvereinbar mit den Rechten und Interessen der leiblichen Mutter ist: Die Weigerung der Mutter unter allen Umständen verhindert den Zugang zu ihrer Identität, der ausschließlich von deren Entscheidung abhängt.
(76) Im Urteil Odièvre erinnerte der GH daran, dass er das von den innerstaatlichen Behörden geschaffene Gleichgewicht für fair und angemessen hielt, da die Bf sich an den CNAOP wenden konnte, sobald dieser eingerichtet war, um zu versuchen, die Aufhebung der Geheimhaltung zu erreichen, und da sie Zugang zu nicht identifizierenden Daten über ihre biologische Mutter und ihre Familie erhalten konnte. Im Urteil Godelli stellte er fest, dass dies nicht der Fall war, da das italienische Recht der Bf weder einen Rechtsbehelf zu einem solchen Zweck bot noch ihr die Möglichkeit gab, nicht identifizierende Informationen über ihre Geschichte zu erlangen. Daher stellte der GH in diesen beiden Urteilen nicht die Wahl der betroffenen Staaten in Frage, die Möglichkeit für Frauen beizubehalten, anonym zu entbinden, sondern hielt es für notwendig, dass sie bei Vorhandensein eines solchen Systems ein Verfahren organisieren, das es ermöglicht, die Aufhebung der Geheimhaltung der Identität der Mutter zu beantragen, sofern diese zustimmt, und nicht identifizierende Informationen über die Herkunft zu beschaffen.
(77) Daraus ergibt sich drittens und letztens, dass der GH keinen Grund sieht, die von den innerstaatlichen Behörden in diesem Fall gefundene Balance zwischen den Rechten in Frage zu stellen. Auch wenn es bedauerlich ist, dass der Zugang zu den Ursprüngen als »legitimer Wunsch« und nicht als subjektives Recht wie das Recht auf anonyme Entbindung in die Waagschale geworfen wurde, möchte der GH aus dieser Feststellung aus den folgenden Gründen keine grundsätzlichen Schlussfolgerungen ziehen.
(78) Der GH stellt zum einen fest, dass der CNAOP eine Reihe von nicht identifizierenden Informationen gesammelt und an die Bf weitergeleitet hat, die es ihr ermöglichten, die Umstände ihrer Geburt zu verstehen. Darüber hinaus trat er an ihre leibliche Mutter heran, die über das System des Zugangs zu den persönlichen Ursprüngen und die Möglichkeit, ihre Entscheidung jederzeit durch erneuten Kontakt mit ihm zu revidieren, informiert wurde. Der GH betont, dass die Schwere des Eingriffs in das Privatleben der Bf aufgrund der Weigerung ihrer leiblichen Mutter nicht die Bedeutung der Aufgabe des CNAOP verschleiern darf; unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Systematik des Umkehrmechanismus zeigen die Tätigkeitsberichte dieses Rates deutlich die konkreten Fortschritte, die er zugunsten der unter Geheimhaltung geborenen Personen erzielt hat.
(79) Der GH stellt zum anderen fest, dass die Bf anschließend von einem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten profitierte, in dessen Verlauf sie ihre Argumente in einem kontradiktorischen Verfahren vorbringen konnte. [...]
(80) Der GH stellt fest, dass der Staatsrat, indem er sich auf die Entscheidung des Gesetzgebers bezog, keine bedingungslose Aufhebung des Identitätsgeheimnisses zuzulassen, und indem er urteilte, dass die Regeln für den Zugang zu nicht identifizierenden Informationen es ermöglicht hätten, das Recht der Bf aus Art 8 EMRK zu wahren, seine Entscheidung mit [...] der Erzielung eines Kompromisses zwischen den auf dem Spiel stehenden Rechten und Interessen durch ein Schlichtungsverfahren, das den Zugang zu den Ursprüngen erleichtern soll, ohne dabei den Ausdruck des Willens und der Zustimmung der Mutter zu verleugnen, gerechtfertigt hat.
Ergebnis
(82) Aus all diesen Erwägungen schließt der GH, dass der Staat seinen Ermessensspielraum nicht überschritten hat und dass das angemessene Gleichgewicht zwischen dem Recht der Bf, ihre Herkunft zu kennen, und den Rechten und Interessen ihrer biologischen Mutter, ihre Anonymität zu wahren, nicht gestört wurde.
(83) Daher liegt keine Verletzung von Art 8 EMRK vor (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Mourou-Vikström (Anm: Richterin Mourou-Vikström führt in ihrem Sondervotum insb ins Treffen, dass sich die Gewichtung der abzuwägenden Positionen im Laufe der Zeit zugunsten des die eigene Herkunft erforschenden erwachsenen Kindes verschiebe und der Vorrang des Geheimhaltungswillens der leiblichen Mutter über den Tod hinaus nicht nachvollziehbar erscheine.).
Vom GH zitierte Judikatur:
Mikulić/HR, 7.2.2002, 53176/99
Odièvre/FR, 13.2.2003, 42326/98 (GK) = NL 2003, 27 = EuGRZ 2003, 584 = ÖJZ 2005, 34
Jäggi/CH, 13.7.2006, 58757/00 = NL 2006, 196
Godelli/IT, 25.9.2012, 33783/09 = NLMR 2012, 312
Paradiso und Campanelli/IT, 17.1.2015, 25358/12 = NLMR 2015, 48
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.1.2024, Bsw. 18843/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 27) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.