JudikaturAUSL EGMR

Bsw71555/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. Januar 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache O. G. ua gg Griechenland, Urteil vom 23.1.2024, Bsw. 71555/12.

Spruch

Art 8 EMRK - Öffentlichmachung der medizinischen Daten sowie der Identität von HIV-positiven Prostituierten.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 8 EMRK hinsichtlich der Abnahme einer Blutprobe (einstimmig).

Verletzung von Art 8 EMRK hinsichtlich der Veröffentlichung der persönlichen Daten der Bf (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: Jeweils € 20.000,– an die Erst- und SechstBf der Bsw 71555/12 und jeweils € 15.000,– an die Zweit- und Siebt Bf der Bsw 71555/12 für immateriellen Schaden. Der Antrag auf Erstattung der Kosten und Auslagen wird wegen fehlender Substantiierung zurückgewiesen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der vorliegende Fall betrifft die behördlich angeordnete Veröffentlichung der medizinischen Daten von zehn HIV-positiven Prostituierten (Erst- bis SiebtBf, Neunt- bis ElftBf) bzw der Schwester einer Prostituierten (AchtBf) sowie die Umstände, unter denen zehn Bf verpflichtet waren, sich einer Blutprobe zu unterziehen.

Am 30.4.2012 wurden im Zuge einer Polizeioperation insgesamt 86 Prostituierte aufgrund des Verdachts festgenommen, Prostitution ohne behördliche Erlaubnis bzw ohne Vorliegen eines ärztlichen Gesundheitszeugnisses zu betreiben. Sie wurden zum Polizeikommissariat gebracht, wo sie einer Identitätsfeststellung und einer ärztlichen Untersuchung auf sexuell übertragbare Krankheiten unterzogen wurden. Blutproben ergaben, dass elf Prostituierte, darunter die Erst- bis SiebtBf der Bsw 71555/12, HIV-positiv waren. Sie wurden noch am selben Tag dem Staatsanwalt vorgeführt, der gegen sie Anklage wegen versuchter vorsätzlicher schwerer Körperverletzung und mehrerer Verstöße gegen das Prostitutionsgesetz Nr 2734/1999 erhob. Ferner ordnete er die Öffentlichmachung der Fotos und Namen der Bf unter Nennung der Gründe für die strafrechtliche Verfolgung sowie der Tatsache, dass sie HIV-positiv wären, an. Der betreffende Beschluss und die Fotos wurden auf der Website der Polizei veröffentlicht und von den Medien in Umlauf gebracht. Die Veröffentlichung der persönlichen Daten der Bf war Gegenstand umfangreicher medialer Berichterstattung.

Mit Beschluss des Strafgerichts Athen vom 16.12.2016 wurde die Strafverfolgung gegen die mittlerweile verstorbenen Dritt-, Viert- und FünftBf eingestellt, während die übrigen Bf freigesprochen wurden.

In der Zwischenzeit hatten einige der Bf Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft eingereicht, in der sie insb die Abnahme der Blutprobe beanstandeten. Die daraufhin eingeleitete Untersuchung wurde eingestellt. Mit Beschluss vom 25.8.2014 wies der zuständige Staatsanwalt des Strafgerichts zweiter Instanz das Rechtsmittel der Bf mit dem Hinweis ab, der gerügte Eingriff sei, wie von Art 8 Abs 2 EMRK gefordert, auf einer gültigen Rechtsgrundlage ergangen. Auch die Handlungen der Ärzte seien rechtmäßig gewesen, wären sie doch auf Basis des Dekrets Nr 39A/2012 des Gesundheitsministeriums erfolgt, der bei Prostituierten einen HIV-Test vorschreibe.

Am 1.5.2012 wurde die AchtBf der Bsw 71555/12 von einer Bekannten darauf aufmerksam gemacht, dass ihr Name, begleitet von einem Foto ihrer Schwester (der FünftBf), im Fernsehen in den Abendnachrichten mit dem Hinweis erschienen sei, dass es sich bei ihr um eine HIV-positive Prostituierte handle. Es stellte sich heraus, dass die FünftBf im Zuge ihrer Festnahme eine falsche Identität – nämlich diejenige der AchtBf – angegeben hatte. Letztere ersuchte daraufhin erfolglos bei der Polizei um Korrektur ihrer persönlichen Daten. Mit Beschluss vom 15.5.2012 nahm die Staatsanwaltschaft schließlich eine Berichtigung vor.

Am 5.5.2012 fand eine ähnliche Polizeioperation wie die in der Bsw 71555/12 beschriebene statt, von der die Neunt- bis ElftBf (Bsw 48256/13) betroffen waren.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).

Zur Verbindung der Beschwerden

(34) Angesichts des gleichartigen Inhalts der Beschwerden hält es der GH für angemessen, diese gemeinsam in einem einzigen Urteil zu untersuchen (einstimmig).

Vorfragen

Zum Ableben einzelner Bf der Bsw Nr 71555/12 sowie der Erst- und ZweitBf der Bsw Nr 48256/13

(69) Die Dritt-, Viert- und FünftBf und die Erst- und die ZweitBf starben nach Einreichung der Beschwerde [...]. Was die ErstBf der Bsw 48256/13 angeht, [...] wurde der GH darüber informiert, dass ihre Hinterbliebenen, namentlich ihre zwei Kinder, die Beschwerde weiter fortführen wollen. [...]

(70) Die Regierung ersuchte den GH, die Beschwerden betreffend die genannten Bf aus dem Register zu streichen.

(72) Der GH erinnert daran, dass für den Fall, dass ein Bf nach Einreichung der Beschwerde stirbt, er es normalerweise den Angehörigen des Betroffenen gestattet, das Verfahren fortzuführen, sofern sie ein berechtigtes Interesse vorweisen können.

(74) [...] Die beiden Kinder der ErstBf haben ihren Wunsch bekundet, die von ihrer Mutter vorgebrachten Rügen aufrecht zu erhalten. Mit Blick auf den Gegenstand der Beschwerde und der Gesamtheit aller ihm zur Verfügung stehenden Informationen vertritt der GH die Auffassung, dass die Betroffenen ein berechtigtes Interesse an der Aufrechterhaltung der Beschwerde haben. Es kommt ihnen somit Individualbeschwerdebefugnis gemäß Art 34 EMRK zu. [Die betreffende Einrede der Regierung wird daher einstimmig zurückgewiesen.]

(75) Die von den verstorbenen Bf unterbreiteten Beschwerdepunkte sind dieselben wie die von den restlichen Bf formulierten. Der GH vermag daher im vorliegenden Fall keinen [...] Grund zu erkennen, der es gemäß Art 37 Abs 1 EMRK in fine erfordern würde, die Prüfung der Beschwerde [...] fortzusetzen. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass die Beschwerden der Dritt-, Viert- und FünftBf und jene der Erst- und ZweitBf gemäß Art 37 Abs 1 EMRK aus dem Register gestrichen werden müssen (einstimmig).

Zur Weiterverfolgung der Prüfung der Beschwerde, was die DrittBf der Bsw Nr 48256/13 angeht

(87) Die Rügen der DrittBf [zu welcher der Kontakt verloren gegangen ist] sind mit jenen der von den restlichen Bf erhobenen identisch. Der GH sieht daher keinen Grund aus Sicht der Achtung der von der Konvention und ihren Protokollen garantierten Menschenrechten, der gemäß Art 37 Abs 1 lit a in fine EMRK die Fortführung der Prüfung der Beschwerde im Hinblick auf die DrittBf erfordern würde. Der GH streicht daher die Beschwerde der DrittBf aus dem Register (einstimmig).

Ergebnis

(88) Angesichts des zuvor Gesagten wird der GH mit der Prüfung der Beschwerden der Erst-, Zweit-, Sechst-, Siebt- und AchtBf sowie der Beschwerde der ErstBf fortfahren.

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK betreffend die Abnahme einer Blutprobe

(89) Mit Ausnahme der AchtBf beklagen sich die Bf darüber, dass vor Abnahme der Blutprobe, der sie sich unterziehen mussten, nicht ihre Einwilligung eingeholt worden sei, was eine Verletzung der Art 3 und 8 EMRK zur Folge habe. Der GH [...] wird die im vorliegenden Fall aufgeworfenen Fragen lediglich aus dem Blickwinkel des Art 8 EMRK prüfen.

Zulässigkeit

Zur Beachtung der Sechs-Monats-Frist seitens der ErstBf

(99) Im vorliegenden Fall betrifft die von der ErstBf unter Art 8 EMRK erhobene Rüge die in den Räumlichkeiten der Polizei erfolgte Abnahme einer Blutprobe ohne ihr Einverständnis, nachdem sie am 5.5.2012 festgenommen worden war. Nun wurde aber ihre Beschwerde am 6.7.2013 eingebracht – also nach Ablauf der zum damaligen Zeitpunkt geltenden, von Art 35 Abs 1 EMRK vorgesehenen Sechs-Monats-Frist. [...]

(100) Folglich ist dieser Teil der Beschwerde wegen Nichtbeachtung der Sechs-Monats-Frist gemäß Art 35 Abs 1 und 4 EMRK zurückzuweisen (mehrstimmig; teilweise abweichendes gemeinsames Sondervotum der Richter Pastor Vilanova, Grozev und Ktistakis).

Zur Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs

(102) [...] Das griechische Rechtssystem sieht für Opfer von dem Staat oder seinen Organen zurechenbaren unrechtmäßigen oder strafbaren Handlungen grundsätzlich zwei Rechtswege vor, nämlich zivil- und strafrechtliche Rechtsbehelfe. Im vorliegenden Fall brachten die Erst-, die Sechst- und die SiebtBf eine Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft ein, bei welcher sie sich über von den Ärzten und Polizeibeamt*innen begangene Handlungen beklagten, was die Untersuchung anging, der sie sich wegen des Verdachts, HIV-positiv zu sein, unterziehen mussten. Sie brachten dieselben Argumente wie [in ihrer Beschwerde] beim GH vor und beriefen sich auf die Konvention. [...] In der Folge wurde eine strafrechtliche Untersuchung eröffnet und eine Voruntersuchung geführt. [Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass] der von den Bf in Anspruch genommene Rechtsbehelf es ihnen gestattete, die strafrechtliche Verantwortung [staatlicher Organe] untersuchen zu lassen. [...] Ein solches Verfahren ist daher geeignet, nach Lage des Falls zur Bestrafung der Verantwortlichen zu führen. Der GH möchte auch hervorheben, dass gesetzt den Fall, dass die strafrechtliche Untersuchung zur Strafverfolgung der betreffenden Polizeibeamt*innen geführt hätte, sich die Bf dem Verfahren als Privatbeteiligte anschließen hätten können. Nach Einstellung des Strafverfahrens durch den zuständigen Staatsanwalt legten die Erst- und SechstBf jeweils ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein. Diese wurden von der Staatsanwaltschaft beim Gericht zweiter Instanz abgewiesen [...].

(103) [...] Von der Staatsanwaltschaft beim Gericht zweiter Instanz wurde der angefochtene Beschluss bestätigt, nachdem das Vorbringen der Bf zu den relevanten Fakten [...] und zur behaupteten Konventionsverletzung von ihr ordnungsgemäß geprüft worden war. Der GH vermag keine weiteren Anhaltspunkte zu erkennen, die ihm die Schlussfolgerung gestatten würden, dass der fragliche Rechtsbehelf prinzipiell unwirksam oder zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Er ist daher der Ansicht, dass die Beschwerde zurückgewiesen werden muss, insoweit sie die ZweitBf betrifft, da diese keine Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft erhoben bzw keine anderen rechtlichen Schritte gesetzt hat. Dieselben Erwägungen gelten für die SiebtBf [...]. [...]

(104) Der von der Zweit- und SiebtBf erhobene Beschwerdepunkt muss daher wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs gemäß Art 35 Abs 1 und 4 EMRK zurückgewiesen werden (einstimmig).

(105) Was das Vorbringen der Regierung angeht, wonach die Rüge der Erst- und SechstBf zum Zeitpunkt der Einbringung der Beschwerde verfrüht gewesen wäre, ist seitens des GH anzumerken, dass die Staatsanwaltschaft beim Gericht zweiter Instanz die von den Bf erhobene Beschwerde am 25.8.2014 abgewiesen hat – also nachdem die Regierung von der vorliegenden Angelegenheit verständigt worden war. Unter solchen Umständen und angesichts der Tatsache, dass zu dem Zeitpunkt, an dem besagter Staatsanwalt über das Rechtsmittel der Bf entschied, der GH selbst noch nicht dazu aufgerufen war, über die Zulässigkeit der Beschwerde unter Art 8 EMRK abzusprechen, kommt er zu dem Schluss, dass er der Einrede der Regierung nicht stattgeben kann. Diese ist somit zurückzuweisen.

(106) [...] Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen [...] unzulässig. Er muss daher im Hinblick auf die Erst- und die SechstBf für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(109) Der GH erinnert daran, dass gemäß seiner gefestigten Rsp eine medizinische Intervention ohne freiwillige und klare Einwilligung der Patientin bzw des Patienten einen Eingriff in ihr bzw sein von Art 8 EMRK geschütztes Recht auf Achtung des Privatlebens darstellt. Er hatte bereits Gelegenheit zur Klarstellung, dass das von Art 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens insb die Achtung der körperlichen Integrität einer Person beinhaltet und die Entnahme einer Blutprobe bzw eines Speichelabstrichs eine medizinische Intervention darstellt, die – mag sie auch von geringer Bedeutung sein – als Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens angesehen werden muss, sofern jemand dazu gezwungen wird.

(110) Ein solcher Eingriff stellt eine Verletzung von Art 8 EMRK dar, außer er kann gemäß dessen Abs 2 gerechtfertigt werden, indem er »gesetzlich vorgesehen« ist, ein Ziel oder mehrere der darin aufgezählten legitimen Ziele verfolgt und »in einer demokratischen Gesellschaft« notwendig ist [...].

(113) Der GH möchte auch daran erinnern, dass sogar dann, wenn eine Maßnahme nicht in einer therapeutischen Notwendigkeit begründet ist, Art 8 EMRK als solcher nicht den Rückgriff auf eine medizinische Intervention gegen den Willen einer/eines Verdächtigen im Hinblick auf die Erlangung von Beweisen für die Mitwirkung an einem Strafdelikt verbietet. Folglich haben die Konventionsorgane zu mehreren Anlässen die Ansicht vertreten, dass die Entnahme einer Blutprobe bzw eines Speichelabstrichs gegen den Willen der/des Verdächtigen im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen gegen Konventionsbestimmungen nicht verstoßen hat.

Anwendung dieser Grundsätze auf den gegenständlichen Fall

(114) Im vorliegenden Fall muss die strittige Blutprobe als Eingriff in das Privatleben iSv Art 8 EMRK gewertet werden.

(115) Laut der Regierung habe die gegenständliche Intervention auf einer [gültigen] Rechtsgrundlage in Form kombinierter Rechtsbestimmungen beruht. Zu nennen wären erstens das Gesetz Nr 2734/1999, welches Verpflichtungen für mit einer [behördlichen] Genehmigung der Prostitution nachgehenden Personen enthält, nämlich sich alle 15 Tage einer medizinischen Untersuchung zwecks Aufspürung gewisser Krankheiten wie HIV zu unterziehen. Zweitens seien die Erlässe des griechischen Gesundheitsministers Nr 660 und 661 zu berücksichtigen, die vorsehen, dass Prostitutierte alle drei Monate einen HIV-Test machen müssen und nicht mehr der Prostitution nachgehen dürfen, sofern sie HIV-positiv sind. Drittens sei auch Art 1 Abs 4 des vom Gesundheitsminister verabschiedeten Dekrets Nr 39A/2012 (Anm: Danach ist eine spezielle Untersuchung auf HIV bei Personen, die in intravenöser Form Drogen eingenommen haben, und bei Prostituierten, die nicht im Besitz eines Gesundheitspasses sind, vorzunehmen.) von Relevanz. [...]

(116) Art 1 Abs 2 des besagten Dekrets zählt mehrere Krankheiten auf, die für die öffentliche Gesundheit als potenziell gefährlich angesehen werden. Dazu zählen die Grippe in Form einer Pandemie oder SARS. HIV ist nicht darunter. Im Übrigen sieht Art 1 Abs 4 des Dekrets vor, dass im Hinblick auf Personen, die ohne die erforderliche Genehmigung der Prostitution nachgehen, ein spezieller Test auf HIV zu machen ist. Was § 251 der Strafprozessordnung angeht, so autorisiert diese Bestimmung den Untersuchungsrichter und Kriminalbeamt*innen zur Vornahme jedweder Handlungen, die für das Sammeln und die Sicherstellung von Beweisen erforderlich sind, wenn eine entsprechende Anordnung des Staatsanwalts vorliegt. Sollte Gefahr im Verzug bestehen, so dürfen sie derartige Handlungen auch ohne vorherige Entscheidung des Staatsanwalts über die Sache vornehmen.

(117) Der GH erinnert daran, dass es in erster Linie den nationalen Behörden – insb den Gerichten – zukommt, das nationale Recht auszulegen und anzuwenden. [...]

(118) Im vorliegenden Fall ist festzuhalten, dass alle von der Regierung erwähnten Rechtsbestimmungen die Verpflichtung für mit oder ohne behördliche Genehmigung arbeitende Prostituierte betreffen, sich Tests zum Zweck der Aufspürung gewisser Krankheiten einschließlich HIV zu unterziehen. Ungeachtet dessen enthält keine von diesen Bestimmungen auch nur irgendeine Beschreibung des [in derartigen Angelegenheiten] zu befolgenden Verfahrens. Es wird lediglich erwähnt, dass von Polizeibeamt*innen oder Gerichtsbeamt*innen mit oder ohne Zustimmung der betreffenden Personen ein Test durchgeführt werden soll. Was nun die Bestimmungen der Strafprozessordnung angeht, erfordern diese eine Anordnung seitens des Staatsanwalts, damit der Untersuchungsrichter oder die Kriminalbeamt*innen Untersuchungshandlungen vornehmen können. Nichts anderes gilt bei unmittelbarer Gefahr, was [...] hier übrigens nicht zur Diskussion steht.

(119) Auch gesetzt den Fall, dass die umstrittene Intervention zwecks Erlangung von Beweisen für die Mitwirkung der Bf an einer strafbaren Handlung im Kontext der Voruntersuchung erfolgt wäre, erging kein Beschluss, mit dem der Polizei oder den Ärzten [...] eine Genehmigung zur Entnahme einer Blutprobe erteilt worden wäre. Den strittigen Handlungen ging somit keine Analyse und schon gar keine Erwähnung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen voraus. Es kam für die medizinische Intervention in den Räumlichkeiten der Polizei auch keinerlei präzise Prozedur zur Anwendung. Die Umstände der vorliegenden Angelegenheit unterscheiden sich daher von jenen im Fall Jalloh/DE [...] und vom Fall Schmidt/DE (Rz 33), bei denen die strittigen medizinischen Interventionen auf einer Bestimmung des Strafgesetzbuchs basierten und wo [...] ein Beschluss seitens des Staatsanwalts, eines Einzelrichters oder eines Tribunals vorlag. Im vorliegenden Fall vermochte keine der von der Regierung zitierten Bestimmungen

eine medizinische Intervention seitens von Polizeibeamt*innen oder von Ärzt*innen [...] in der Form zu rechtfertigen, wie sie bei den Bf durchgeführt wurde.

(120) Dieser Eingriff war daher nicht »gesetzlich vorgesehen« iSv Art 8 Abs 2 EMRK, da im gegenständlichen Fall die innerstaatlichen Rechtsvorschriften den Bf hinsichtlich ihrer Folgen nicht vorhersehbar waren [...].

(121) Diese Erwägungen sind für den GH ausreichend, um zum Schluss zu gelangen, dass der Eingriff in die Ausübung des Rechts der Bf auf Achtung ihres Privatlebens nicht gesetzlich vorgesehen war. Diese Schlussfolgerung entbindet den GH von der Prüfung, ob die Eingriffshandlung ein legitimes Ziel verfolgte und ob sie in einer demokratischen Gesellschaft iSv Art 8 EMRK notwendig war.

(122) Somit hat eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden, was die Erst- und die SechstBf betrifft (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK, was die Veröffentlichung der persönlichen Daten der Bf angeht

(123) Die Bf beklagen sich über die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Veröffentlichung ihrer persönlichen Daten bzw insb von sensiblen medizinischen Inhalten [...].

Bewertung durch den GH

Zur Opfereigenschaft der AchtBf der Bsw 71555/12

(131) [...] Am 4.5.2012 brachte die AchtBf beim Büroleiter der Staatsanwaltschaft beim Strafgericht Athen einen Antrag auf Aufhebung des Beschlusses Nr 23/2012 ein, insoweit sie dieser betreffe. Ihrem Begehren wurde entsprochen. Am 15.5.2012 wurde mit neuerlichem Beschluss der Name der Acht- durch jenen der FünftBf ersetzt. Gleichzeitig wurde gegen Letztere ein Strafverfahren wegen falscher Angaben eingeleitet.

(132) Der GH ist daher der Ansicht, dass die griechischen Behörden zumindest der Sache nach die Konventionsverletzung anerkannt und sie dann hinsichtlich der von der Bf behaupteten Nachteilen repariert haben, als sie ihrem Berichtigungsantrag stattgaben [...]. [...]

(134) Die vorliegende Beschwerde ist daher mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ratione personae iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK, was die AchtBf betrifft. Sie muss daher gemäß Art 35 Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

(135) Der GH nimmt Kenntnis vom Vorbringen der Regierung, wonach die Bf den Beschluss des Staatsanwalts, mit dem die Veröffentlichung ihrer [persönlichen] Daten angeordnet worden war, bekämpfen hätten sollen. Der GH möchte dem entgegnen, dass die Bestimmungen des Art 35 Abs 1 EMRK nicht verlangen, dass hinsichtlich von angeprangerten Verletzungen der innerstaatliche Rechtsweg mehrfach ausgeschöpft wird. Es genügt, wenn ein normalerweise zur Verfügung stehender Rechtsbehelf ergriffen wird, der ausreicht, der bzw dem Bf Wiedergutmachung für die Verletzungen, über die sie bzw er sich beklagt, zu leisten. Im vorliegenden Fall vermochte die [Möglichkeit der] Bekämpfung von staatsanwaltschaftlichen Beschlüssen den Bf mit Blick auf die behauptete Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens jedoch keine Wiedergutmachung zu leisten. In dieser Hinsicht möchte der GH insb vermerken, dass ein Spezialtribunal, welches über die Bekämpfung von Beschlüssen durch eine Verfahrenspartei abspricht, der bzw dem Betroffenen keine Entschädigung für eine Verletzung von Art 8 EMRK zu leisten vermag.

(136) Die diesbezügliche Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen.

Zur Beachtung der Sechs-Monats-Frist durch die ErstBf

(138) Der GH möchte bekräftigen, dass wenn sich eine Beschwerde auf eine anhaltende Situation bezieht, gegen die kein Rechtsbehelf ergriffen werden kann, die Sechs-Monats-Frist ab dem Ende dieser Situation zu laufen beginnt. [...]

(139) Im vorliegenden Fall muss der GH daher ergründen, ob die Situation, über die sich die Bf beklagt, eine »anhaltende Situation« iSv Art 35 EMRK darstellt. [...] Angesichts dessen, dass sich die Rügen der Bf auf besondere Ereignisse beziehen, die zu präzisen Zeitpunkten stattfanden, nämlich die Beschlüsse Nr 23/2012 und 27/2012 des Staatsanwalts, kann es sich nicht um eine »anhaltende Situation« im Sinne der Sechs-Monats-Regel handeln. Die Tatsache, dass ein Ereignis wichtige Konsequenzen für eine gewisse Zeit haben kann, bedeutet nicht, dass es die Ursache einer »anhaltenden Situation« sein muss. Aus diesen Gründen ist der GH der Ansicht, dass die Situation der ErstBf, deren [persönliche] Daten gemäß dem Beschluss Nr 27/2012 veröffentlicht wurden, sich im vorliegenden Fall nicht als »anhaltende Situation« auslegen lässt. Nach Ansicht des GH hätte daher die Sechs-Monats-Frist mit der Veröffentlichung des Beschlusses Nr 27/2012 am 5.5.2012 zu laufen beginnen sollen. Da die Beschwerde [erst] am 6.7.2013 eingebracht wurde, muss sie als verspätet angesehen werden. Sie ist daher gemäß Art 35 Abs 1 und 4 EMRK [als unzulässig] zurückzuweisen (mehrstimmig). Der Einrede der Regierung wegen Nichteinhaltung der Frist [...] durch die ErstBf ist daher stattzugeben.

(140) Da der vorliegende Beschwerdepunkt weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK angeführten Grund unzulässig ist, muss ihn der GH im Hinblick auf die restlichen Bf für zulässig erklären (einstimmig). Der GH wird daher mit der Prüfung der Beschwerden der Erst-, Zweit-, Sechst- und SiebtBf fortfahren.

In der Sache

(146) Die einschlägige Rsp des GH auf dem Gebiet [des Umgangs mit medizinischen Daten] ist seinen Urteilen in den Fällen Frâncu/RO (Rz 51–56), C. C./ES (Rz 31–34) und Margari/GR (Rz 46–49, 56) zu entnehmen.

(147) [...] Im vorliegenden Fall sind sich die Parteien darin einig, dass die Veröffentlichung der [persönlichen] Daten der Bf einen Eingriff in ihr Recht auf das von Art 8 Abs 1 EMRK garantierte Privatleben darstellte. Bleibt zu prüfen, ob der Eingriff durch Art 8 Abs 2 EMRK gerechtfertigt war.

(148) Im vorliegenden Fall war der Eingriff gesetzlich vorgesehen und die strittige Maßnahme fand ihre gesetzliche Deckung in den Art 2 lit a und b bzw Art 3 Abs 2 lit b des Gesetzes Nr 2472/1997, wie sie auch vom Staatsanwalt in seinen Beschlüssen Nr 23/2012 und 27/2012 angeführt wurden. Der GH vermag keinerlei Hinweis zu entdecken, der ihm den Schluss gestatten würde, dass besagte Maßnahme nicht konform mit innerstaatlichem Recht ging oder dass die Auswirkungen der einschlägigen Gesetze nicht ausreichend vorhersehbar gewesen wären, um den Qualitätsanforderungen, die der Begriff »gesetzlich vorgesehen« in Art 8 Abs 2 EMRK voraussetzt, Genüge zu tun.

(149) Was das legitime Ziel angeht, stellen die strittigen Beschlüsse unter anderem klar, dass die Maßnahme auf den Schutz der Gesellschaft abziele, da sie zur Aufdeckung von weiteren – ähnlichen – Handlungen der Beschuldigten zum Nachteil ihrer Kunden beitrage. Auf diese Weise würden diese auch dazu bewegt, sich HIV-Tests zu unterziehen. Der GH ist daher der Ansicht, dass unter diesen Umständen der Eingriff auf den »Schutz der Rechte und Freiheiten anderer« gerichtet war.

(150) Der GH muss daher darüber entscheiden, ob der von den Bf beklagte Eingriff, nämlich die Preisgabe ihrer Identität und die Veröffentlichung ihrer Fotos, insoweit dies mit ihrem Gesundheitszustand in Zusammenhang gebracht wurde, »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war, um das gesetzlich verfolgte Ziel zu erreichen. [...]

(151) [...] Im eine ähnliche, jedoch nicht identische Sachlage aufweisenden Fall Margari/GR hat der GH auf eine Verletzung von Art 8 EMRK geschlossen. Er kam zu dem Schluss, dass die auf der gleichen Gesetzeslage angeordnete Verbreitung des Fotos der Bf, begleitet von der Erwähnung der bei ihr ins Gewicht fallenden Anklagepunkte, in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen war. Insb vertrat er die Ansicht, dass die betreffende Maßnahme nicht geeignete und ausreichende Garantien vorsah, da die Entscheidung, die Daten der Bf zu veröffentlichen, ihr nicht mitgeteilt worden war. Sie wurde auch vor der Ergreifung der sie betreffenden Maßnahme nicht angehört und konnte auch keinen Rechtsbehelf gegen den Beschluss [...] einlegen. Zu guter Letzt waren die verbreiteten Informationen betreffend die gegen sie erhobenen Anklagepunkte unpräzise.

(152) Der GH sieht keinen Grund, im gegenständlichen Fall von den im Fall Margari/GR getroffenen Schlussfolgerungen abzugehen, was die Anwendung des Gesetzes Nr 2472/1997 angeht – noch dazu, wo es im vorliegenden Fall um Daten bezüglich HIV ging, die von Natur aus extrem sensibel sind.

(153) [...] Ein derartiger Eingriff kann nur dann mit Art 8 EMRK in Einklang stehen, wenn er auf die Verteidigung eines vorrangigen Aspekts des öffentlichen Interesses gerichtet ist. Der GH erinnert daran, dass derartige Maßnahmen, wenn sie ohne Einverständnis der betroffenen Person getroffen werden, eine besonders rigorose Prüfung durch ihn erfordern.

(154) Im vorliegenden Fall wurden – basierend auf dem Beschluss Nr 23/2012 – die Namen und Fotos der Bf wie auch die Information, wonach sie HIV-positiv seien, auf die Internetseite der Polizei hochgeladen und in weiterer Folge über die Medien weitergegeben.

(155) Nun hat aber der Staatsanwalt in dem genannten Beschluss nicht erwogen, ob im vorliegenden Fall nicht andere Maßnahmen getroffen hätten werden können, um die Bf einer geringeren Exposition auszusetzen. Er beschränkte sich jedoch darauf, die Veröffentlichung der strittigen Daten anzuordnen, ohne die besondere Situation einer jeden Bf zu prüfen, geschweige denn, dass er versuchte, die [möglichen] Auswirkungen der Maßnahme auf die Bf einzuschätzen.

(156) Vom Staatsanwalt wurde auch nicht geprüft, ob die Verbreitung einer allgemeinen Annonce nur in der Region, wo die Ereignisse stattfanden, und in der lediglich die Festnahme von HIV-positiven Prostituierten erwähnt wurde, nicht ausreichen hätte können, um das verfolgte Ziel zu erreichen. Hätten die nationalen Behörden in der Tat versucht, die öffentliche Gesundheit zu schützen – und zwar insb jene von Individuen, die, wann auch immer das war, Kontakt mit den Bf gehabt hatten, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die oben erwähnte Maßnahme nicht das verfolgte Ziel erreicht hätte. Gleichzeitig hätte ein solches Vorgehen geringere Auswirkungen auf das Privatleben der Bf gehabt. Darüber hinaus stand den Bf keine gesetzliche Möglichkeit zur Verfügung, vom Staatsanwalt angehört zu werden, bevor er über die Verbreitung ihrer Daten entschied. Es war ihnen auch nicht möglich, nach Ergang des Beschlusses dagegen Einspruch zwecks nochmaliger Prüfung durch den Staatsanwalt beim Athener Rechtsmittelgericht zu erheben. Ein derartiger Rechtsbehelf wurde in der Tat erst durch den nationalen Gesetzgeber als Antwort auf die Ereignisse eingerichtet, die zu den vorliegenden Beschwerden führten [...].

(157) Diese Überlegungen haben hier umso mehr zu gelten, als die offen gelegten Informationen die Bf in ihrer Eigenschaft als HIV-positive Personen betrafen. Die Verbreitung solcher Informationen hatte wahrscheinlich dramatische Auswirkungen auf das Privat- und Familienleben der Bf und auf ihre soziale und berufliche Situation und war von Natur aus beschaffen, sie der Schande und der Gefahr des Ausschlusses von der Gesellschaft auszusetzen. [...] Der GH möchte auch hervorheben, dass die Entscheidung des Staatsanwalts, die Veröffentlichung von derart sensiblen Daten der Bf zu veranlassen, von mehreren internen Organisationen und Vereinigungen kritisiert wurde. Zu nennen sind die Ärztevereinigung von Athen und die nationale Menschenrechtskommission, laut deren Ansicht besagte Veröffentlichung gegen die griechische Verfassung verstoße und den Prinzipen der ärztlichen Schweigepflicht und dem Schutz des Privatlebens zuwiderlaufe.

(158) Die vorstehenden Erwägungen reichen für den GH aus, um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Eingriff in das Recht der Erst-, Zweit-, Sechst- und SiebtBf auf Achtung ihres Privatlebens unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls nicht ausreichend gerechtfertigt und zu den gesetzlich verfolgten Zielen unverhältnismäßig war.

(159) Es liegt somit eine Verletzung von Art 8 EMRK hinsichtlich der Erst-, Zweit-, Sechst- und SiebtBf der Bsw 71555/12 vor (einstimmig).

Zur gerügten Verletzung der Art 3, 5 und 13 EMRK

(161) [...] Der GH ist der Ansicht, dass er die wichtigsten der in den gegenständlichen Beschwerden vorgebrachten rechtlichen Fragen geprüft hat und es daher nicht notwendig ist, die anderen Rügen gesondert zu behandeln (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

Jeweils € 20.000,– an die Erst- und SechstBf der Bsw 71555/12 und jeweils € 15.000,– an die Zweit- und SiebtBf der Bsw 71555/12 für immateriellen Schaden. Der Antrag auf Erstattung der Kosten und Auslagen wird wegen fehlender Substantiierung zurückgewiesen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Posti und Rahko/FI, 24.9.2002, 27824/95

Schmidt/DE, 5.1.2006, 32352/02 (ZE)

Jalloh/DE, 11.7.2006, 54810/00 (GK) = NL 2006, 188

C. C./ES, 6.10.2009, 1425/06

Kaur/NL, 15.5.2012, 35864/11 (ZE)

G. H./HU, 9.6.2015, 54041/14 (ZE)

V. M. ua/BE, 17.11.2016, 60125/11 (GK)

Frâncu/RO, 13.10.2020, 69356/13

Aspiotis/GR, 1.3.2022, 4561/17 (ZE)

Margari/GR, 20.6.2023, 36705/16

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.1.2024, Bsw. 71555/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 35) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise