JudikaturAUSL EGMR

Bsw77686/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Dezember 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Arnold und Marthaler gg die Schweiz, Urteil vom 19.12.2023, Bsw. 77686/16.

Spruch

Art 5 Abs 1 lit b, lit c EMRK - Festnahme und Anhaltung auf Polizeistation zur Identitätskontrolle nach Demonstrationsteilnahme.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 5 Abs 1 lit b, lit c EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: Jeweils € 1.000,– für immateriellen Schaden; € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf sind Staatsangehörige der Schweiz. Am 1.5.2011 hielten sich die Bf am Helvetiaplatz in Zürich auf, wo eine Demonstration zum Tag der Arbeit stattfand. Gegen 16:30 Uhr beobachtete die Polizei, dass eine größere Anzahl von Personen einen Demonstrationszug durch das Kanzleiareal gebildet hatte. Um zu verhindern, dass sich dieser in Bewegung setzte, errichtete die Polizei im betroffenen Gebiet einen Kordon.

Neben einer Reihe anderer Personen wurden die Bf aufgefordert, sich auszuweisen. Nachdem sie dieser Aufforderung Folge geleistet hatten, wurden sie zum Zweck der Durchführung einer sicherheitspolizeilichen Überprüfung auf die Polizeistation gebracht und in einer Massenzelle festgehalten. Nach Durchführung der sicherheitspolizeilichen Überprüfung wurde gegen die Bf jeweils ein 24-stündiges Platzverbot verhängt. Gegen 21:00 bzw 22:30 Uhr wurden die Bf entlassen, ohne gegen sie Anzeige zu erstatten.

Die Bf beantragten daraufhin bei der Kantonspolizei jeweils die Aufhebung des Platzverbotes sowie die Feststellung, dass sowohl die Anhaltung auf der Polizeistation als auch das Platzverbot rechtswidrig gewesen seien. Die Anträge sowie die dagegen erhobenen Rechtsmittel wurden im Beschwerdeverfahren in letzter Instanz vom Bundesgericht abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupten eine Verletzung ihrer Rechte nach Art 5 Abs 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) aufgrund der Festnahme und Anhaltung im Zuge der Demonstration vom 1.5.2011.

Beschwerdegegenstand vor dem GH und Verbindung der Beschwerden

(36) In einer ersten Prüfung der vorliegenden Beschwerden hielt es der GH für angemessen, die auf Art 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und Art 11 EMRK (Versammlungsfreiheit) beruhenden Beschwerden in Bezug auf die gegen die Bf angeordneten [...] Maßnahmen von Amts wegen zu prüfen. Obwohl [die Bf] diese Beschwerdepunkte vor den innerstaatlichen Instanzen geltend gemacht haben, [...] wurden sie vor dem GH nicht explizit aufgeworfen.

(37) [...] Der GH hält es daher nicht für notwendig, diese Beschwerdepunkte gesondert zu prüfen und beschließt, seine Prüfung [...] auf Art 5 EMRK [zu beschränken] (einstimmig).

(35) In Anbetracht des Zusammenhangs [...] der beiden Beschwerden beschließt der GH, sie einer gemeinsamen Prüfung im Rahmen eines Urteils zu unterziehen (einstimmig).

Zulässigkeit

(43) Im vorliegenden Fall geht der GH davon aus, dass kein Zweifel daran besteht, dass die Anhaltung der Bf auf der Polizeistation am 1.5.2011 (der ErstBf wurde rund dreieinhalb Stunden angehalten, der ZweitBf rund zweieinhalb Stunden), nachdem sie in der Polizeiabsperrung eingekesselt waren, als eine Freiheitsentziehung iSd Art 5 EMRK zu qualifizieren ist [...]. Er hält es daher nicht für erforderlich, die Frage zu prüfen, ob die [...] Einkesselung (der ErstBf für rund eine Stunde und der ZweitBf für etwa zweieinhalb Stunden) ebenfalls als Freiheitsentziehung iSd Art 5 Abs 1 EMRK angesehen werden können, zumal sich der Hauptgegenstand der Beschwerde [...] auf die Freiheitsentziehung infolge der Festhaltung bezieht.

(44) [...] Die Beschwerden sind nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig [...] und werden daher für zulässig erklärt (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK

Zur Vereinbarkeit der Maßnahmen mit dem innerstaatlichen Recht

(50) [...] Im vorliegenden Fall war Art 3 (Anm: Art 3: »(1) Die Polizei trägt durch Information, Beratung, sichtbare Präsenz und andere geeignete Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei.

(2) Sie trifft insbesondere Maßnahmen zur

a. Verhinderung und Erkennung von Straftaten, [...]

c. Abwehr von unmittelbar drohenden Gefahren für Menschen, Tiere, Umwelt und Gegenstände sowie zur Beseitigung entsprechender Störungen. [...]«) des Polizeigesetzes des Kantons Zürich (im Folgenden: PolG-ZH) offensichtlich unzureichend, um eine Freiheitsentziehung iSv Art 5 EMRK zu begründen. [...] Art 3 PolG-ZH sieht nicht ausdrücklich die Freiheitsentziehung als Maßnahme zur Aufrechterhaltung der »öffentlichen Sicherheit und Ordnung« vor und erfüllt damit nicht das Kriterium der gesetzlichen Grundlage.

(51) Dagegen gestattet Art 21 PolG-ZH (Anm: Art 21: »(1) Wenn es zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig ist, darf die Polizei eine Person anhalten, deren Identität feststellen und abklären, ob nach ihr oder nach Fahrzeugen, nach anderen Gegenständen oder Tieren, die sie bei sich hat, gefahndet wird.

(2) Die angehaltene Person ist verpflichtet, Angaben zur Person zu machen, mitgeführte Ausweis- und Bewilligungspapiere vorzuzeigen und zu diesem Zweck Behältnisse und Fahrzeuge zu öffnen.

(3) Die Polizei darf die Person zu einer Dienststelle bringen, wenn die Abklärungen gemäss Abs. 1 vor Ort nicht eindeutig oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten vorgenommen werden können oder wenn zweifelhaft ist, ob die Angaben richtig oder die Ausweis- und Bewilligungspapiere echt sind. [...]«) die Anhaltung zum Zweck der Identitätskontrolle. Nach Abs 3 dieser Bestimmung darf die Polizei die Person zu einer Dienststelle bringen, wenn die Abklärungen gemäß Abs 1 vor Ort nicht [eindeutig] oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten vorgenommen werden können oder wenn zweifelhaft ist, ob die Angaben richtig oder die Ausweis- und Bewilligungspapiere echt sind. Der GH schließt nicht aus, dass es Situationen gibt, in denen die Behörden eine Identitätskontrolle in zwei Schritten vornehmen müssen: zunächst die Identitätskontrolle im eigentlichen Sinn auf öffentlicher Straße und in der Folge eine weitergehende Kontrolle auf der Polizeistation, die auch die Überprüfung möglicher Vorstrafen des Betroffenen umfasst. [...] Art 21 Abs 3 PolG-ZH [...] stellt eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Identitätskontrolle und in weiterer Folge für die von den Bf behauptete [...] Freiheitsentziehung dar [...].

(52) Daraus folgt, dass die von den Bf erlittene Freiheitsentziehung »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« iSd Art 5 Abs 1 EMRK erfolgte. Dagegen ist die Frage, ob es im vorliegenden Fall notwendig und angemessen war, die Bf auf die Polizeistation zu bringen und sie dort festzuhalten, um bestimmte Daten zu überprüfen, vor allem eine Frage der Verhältnismäßigkeit [...], die vom GH unter dem Gesichtspunkt der Rechtfertigung der Freiheitsentziehung gemäß Art 5 Abs 1 lit b und c EMRK zu prüfen sein wird.

Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung im Hinblick auf einen der in Art 5 Abs 1 EMRK angeführten Gründe

Einleitende Bemerkungen

(53) [...] Die innerstaatlichen Gerichte und die Regierung haben einen etwas unterschiedlichen Zugang zu den Gründen für die Rechtfertigung der Freiheitsentziehung der Bf. Zur Rechtfertigung der strittigen Maßnahme bezog sich das Bundesgericht in erster Linie auf die allgemeine Pflicht, die öffentliche Ordnung nicht zu stören, sowie die Pflicht der Behörden, die Begehung [...] von Straftaten zu verhindern. [...] Die Regierung machte ihrerseits insb die Pflicht geltend, sich einer Identitätskontrolle zu unterziehen, die auch vom GH im Hinblick auf Art 5 Abs 1 lit b EMRK geprüft wird. Der GH kann sich jedoch nicht an die Stelle der innerstaatlichen Behörden setzen, die eine Entscheidung in Bezug auf die Freiheitsentziehung der Betroffenen getroffen haben. Es obliegt Letzteren, alle maßgeblichen Fakten zu prüfen, die für oder gegen die Freiheitsentziehung sprechen, und sie in ihren Entscheidungen zu belegen [...].

Der zweite Teil von Art 5 Abs 1 lit b EMRK

Allgemeine Grundsätze

(56) [...] Der zweite Teil von Art 5 Abs 1 lit b gestattet eine Freiheitsentziehung nur in Fällen, in denen diese Maßnahme auf die »Erzwingung der Erfüllung« einer gesetzlichen Verpflichtung abzielt. Die von dieser Maßnahme betroffene Person muss daher einerseits Schuldnerin einer nicht erfüllten Verpflichtung sein und andererseits muss ihre Festnahme und Freiheitsentziehung darauf abzielen, die Erfüllung dieser Verpflichtung zu erzwingen, ohne Strafcharakter zu haben. Die gesetzliche Grundlage für die Freiheitsentziehung nach Art 5 Abs 1 lit b entfällt, sobald die betreffende Verpflichtung erfüllt ist.

(58) Im Sinn der EMRK ist eine Festnahme nur dann zulässig, wenn die Erfüllung der »gesetzlichen Verpflichtung« nicht durch gelindere Mittel erreicht werden kann. Darüber hinaus verlangt das Verhältnismäßigkeitsprinzip, dass ein Ausgleich zwischen der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, die sofortige Erfüllung der [...] Verpflichtung zu gewährleisten, und der Bedeutung des Rechts auf persönliche Freiheit geschaffen wird.

(59) Vor diesem Hintergrund wird der GH die Art der sich aus dem anzuwendenden Recht ergebenden Verpflichtung einschließlich dem ihr zugrunde liegenden Gegenstand und Zweck, die betroffene Person und die besonderen Umstände, die zu ihrer Freiheitsentziehung geführt haben, sowie die Dauer der Freiheitsentziehung berücksichtigen.

Anwendung der oben genannten Grundsätze

(61) Im Licht des zweiten Teils von Art 5 Abs 1 lit b EMRK kommen im Hinblick auf den vorliegenden Fall zwei Aspekte in Betracht: die allgemeine Verpflichtung, die öffentliche Ordnung nicht zu stören, und jene, sich einer Identitätskontrolle zu unterziehen.

(62) Was zunächst die Pflicht betrifft, sich einer Identitätskontrolle zu unterziehen, [...] ist es vor allem die Regierung, die sich vor dem GH auf diesen Grund stützt, während sich das Bundesgericht nicht im Detail mit dieser Frage befasste. Obwohl sich die Bf kurzerhand ausweisen konnten, haben die innerstaatlichen Instanzen [...] argumentiert, dass es erforderlich gewesen sei, sie auf die Polizeistation zu bringen, ohne jedoch darzulegen, warum eine weitergehende Identitätskontrolle nötig gewesen ist und warum sie nicht vor Ort stattfinden konnte. Um den Anforderungen einer strengen Auslegung der Garantien nach Art 5 Abs 1 EMRK gerecht zu werden, hätte sich das Bundesgericht expliziter mit dieser Frage befassen müssen. [...]

(63) Art 21 Abs 3 PolG-ZH sieht vor, dass die Bf verpflichtet sind, sich einer Identitätskontrolle zu unterziehen. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit wirft die Identitätskontrolle der am Helvetiaplatz aufhältigen Personen einige Fragen auf. Anerkannt wird, dass zur Durchführung einer Identitätskontrolle die davon betroffenen Personen festgehalten werden müssen. Es ist jedoch schwierig, dem Argument der Regierung zu folgen, wonach eine solche Kontrolle nicht vor Ort vorgenommen werden hätte können. [...] Die Bf wurden einer ersten Identitätskontrolle auf öffentlicher Straße unterzogen, sodass ihre Namen einfach und effektiv per Funk an die Polizeistation übermittelt hätten werden können, um eine weitergehende Identitätskontrolle durchzuführen. Der GH hält es daher nicht für ausgeschlossen, dass die Festnahme in erster Linie schikanösen oder anderen als auf die Identifizierung von Personen abzielenden Zwecken diente, insb die Bf für einige Stunden [...] fernzuhalten und zu diesem Zweck ein [Platzverbot] zu verhängen. Daraus folgt, dass es sich bei der Festnahme nicht um das gelindeste Mittel handelte, das die Polizei anwenden hätte können und der Freiheitsentziehung daher ein unrechtmäßiger Charakter innewohnte.

(65) In Bezug auf die allgemeine Verpflichtung, die öffentliche Ordnung nicht zu stören, [...] stützte sich das Bundesgericht zur Rechtfertigung der Freiheitsentziehung der Bf [...] in erster Linie auf Art 21 PolG-ZH. Diese Bestimmung bezieht sich a priori jedoch nicht auf Fälle, in denen die Behörden mit der Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung konfrontiert werden. Darüber hinaus [...] ist Art 3 PolG-ZH nicht spezifisch genug, um eine Freiheitsentziehung zu rechtfertigen. [...] Ferner räumt auch die Regierung ein, dass die Bf nicht vorhatten, persönlich an den Ausschreitungen teilzunehmen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass sich die Bf am Helvetiaplatz und nicht im Kanzleiareal aufhielten, wo es Anzeichen dafür gab, dass eine illegale Demonstration stattfinden könnte.

(66) [...] Die Behörden müssen die [Betroffenen] über die Anordnung informieren, der sie unterworfen werden [...]. Sie können eine Absperrung errichten, wenn sich die Betroffenen weigern, der Anordnung ausdrücklich oder stillschweigend zu folgen. Im vorliegenden Fall erwähnten jedoch weder die beiden Bf noch ein Polizeibericht eine vor dem Erlass der Absperrung erteilte Anordnung zur Auflösung. Das Bundesgericht rechtfertigte die Freiheitsentziehung daher, indem es sich zu Unrecht darauf stützte, dass einer Anordnung nicht Folge geleistet wurde, obwohl eine solche gar nicht erlassen worden war. Die Voraussetzungen für die Anwendung des zweiten Teils von Art 5 Abs 1 lit b EMRK [...] sind daher nicht erfüllt.

(67) Im Hinblick auf die Notwendigkeit verhinderte bereits die Errichtung des Polizeikordons die Begehung einer Straftat, wodurch die anschließende Freiheitsentziehung nicht mehr gerechtfertigt war und einen unrechtmäßigen, sogar willkürlichen Charakter annahm.

(68) Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen kann der GH nicht davon ausgehen, dass die innerstaatlichen Behörden einen fairen Ausgleich zwischen einerseits der Pflicht der Bf, ihre Identität offenzulegen und die öffentliche Ordnung nicht zu stören, und ihrem Recht auf persönliche Freiheit andererseits geschaffen haben. Daraus folgt, dass die von den Bf erlittene Freiheitsentziehung nicht durch den im zweiten Teil von Art 5 Abs 1 lit b EMRK angeführten Grund gerechtfertigt war. Es bleibt somit zu prüfen, ob die Freiheitsentziehung aus einem der im zweiten Teil von Art 5 Abs 1 lit c EMRK angeführten Gründe erfolgte.

Der zweite Teil von Art 5 Abs 1 lit c EMRK

Allgemeine Grundsätze

(71) [...] Art 5 Abs 1 lit c EMRK ermöglicht, eine Person unter drei verschiedenen Umständen festzunehmen [...]: erstens, »wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat«, zweitens, »wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern« und drittens, »wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern«.

(72) [...] Der zweite Teil dieser Bestimmung (»wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern«) stellt einen eigenen Grund für eine Freiheitsentziehung dar. Er stellt den Konventionsstaaten ein Mittel zur Verfügung, um die Begehung einer insb im Hinblick auf den Ort und Zeitpunkt, zu dem die Straftat begangen würde, und auf die potenziellen Opfer konkreten und spezifischen Straftat zu verhindern. Damit eine Freiheitsentziehung nach dem zweiten Teil von Art 5 Abs 1 lit c EMRK gerechtfertigt ist, müssen die Behörden in überzeugender Weise darlegen, dass die betreffende Person mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Begehung einer konkreten und spezifischen Straftat beteiligt gewesen wäre, wäre sie nicht durch eine Festnahme daran gehindert worden.

(73) Art 5 Abs 1 lit c EMRK ist daher auf eine präventiv angeordnete Freiheitsentziehung außerhalb eines Strafverfahrens anwendbar. Auch wenn die Anforderung, die festgenommene Person einem zuständigen Richter vorzuführen, für den zweiten Teil von Art 5 Abs 1 lit c EMRK gilt, sollte sie mit einer gewissen Flexibilität umgesetzt werden, sodass die Frage der Befolgung [dieser Bestimmung] davon abhängt, ob [...] beabsichtigt ist, die festgenommene Person wie von Art 5 Abs 3 EMRK verlangt unverzüglich einem Richter zur Kontrolle der Freiheitsentziehung vorzuführen, oder sie vor diesem Zeitpunkt zu entlassen.

(74) In Bezug auf Art 5 Abs 1 lit c EMRK muss es sich bei einer Freiheitsentziehung um eine im Hinblick auf das erklärte Ziel verhältnismäßige Maßnahme handeln. Es obliegt den innerstaatlichen Behörden, die Notwendigkeit der Freiheitsentziehung in überzeugender Weise darzulegen.

(75) Das Kriterium der Notwendigkeit, das für den zweiten Teil von Art 5 Abs 1 lit c EMRK gilt, setzt voraus, dass gelindere Mittel nicht vorgesehen waren und als unzureichend für den Schutz des individuellen oder öffentlichen Interesses erachtet wurden. Die Straftat, auf die sich der zweite Teil der Bestimmung bezieht, muss schwerwiegend sein, dh sie muss eine Gefahr für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit von Personen oder einen erheblichen materiellen Schaden mit sich bringen. Zudem muss die Freiheitsentziehung beendet werden, sobald die Gefahr vorüber ist, was eine Beobachtung der Situation erfordert. Dabei ist auch die Dauer der Freiheitsentziehung ein relevanter Faktor.

(76) [...] Damit es Polizeibeamten nicht praktisch unmöglich ist, ihre Pflicht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu erfüllen, ist es grundsätzlich erforderlich, dass sie iSd Art 5 Abs 1 lit c EMRK Freiheitsentziehungen außerhalb eines Strafverfahrens durchführen können, sofern sie dem Grundsatz des Art 5 EMRK entsprechen, der im Schutz des Einzelnen vor Willkür besteht.

Anwendung der oben genannten Grundsätze

(77) Im vorliegenden Fall muss der GH prüfen, ob die Freiheitsentziehung der Bf tatsächlich dazu diente, sie von der Begehung konkreter und spezifischer Straftaten abzuhalten. In Bezug darauf wurde der konkrete und spezifische Charakter der Begehung der Straftat, insb im Hinblick auf den Ort, den Zeitpunkt [...] und die potenziellen Opfer, nicht von den innerstaatlichen Gerichten [...] festgestellt.

(78) [...] Die Regierung behauptet, dass sich am 1.5.2011 niemand zufällig auf dem betreffenden Platz aufgehalten habe. In diesem Zusammenhang stützt sie sich insb auf die Gewalt in den vergangenen Jahren, die Aufrufe linksextremer Gruppen, das Tragen von Masken im Kanzleiareal, wo sich die Bf nicht befanden, und auf die Ausschreitungen in Zürich während des offiziellen Teils der Feierlichkeiten vom 1.5.2011. [...] Dabei handelt es sich um allgemeine Indizien, die nicht geeignet sind, die Teilnahme der Bf an einer illegalen Demonstration zu belegen, zumal ihnen jeglicher individuelle Beweiswert fehlt. Diese Elemente sind daher in Bezug auf den Nachweis der Absicht der Betroffenen, eine Straftat zu begehen, unwirksam. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Bf im Begriff waren, selbst eine Straftat zu begehen. Die Schweizer Behörden haben [auch] keine Strafverfolgung gegen sie eingeleitet.

(79) Darüber hinaus muss die Freiheitsentziehung unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit geeignet sein, das angestrebte Ziel zu erreichen, dh die Begehung einer schwerwiegenden Straftat zu verhindern. Wie der GH unter dem zweiten Teil von Art 5 Abs 1 lit b EMRK ausgeführt hat, hielten sich die Bf nicht an einem Ort auf, an dem es Anzeichen dafür gab, dass eine illegale Demonstration stattfinden würde. Da es keine Beweise dafür gab, dass sie im Begriff waren, eine Straftat zu begehen, kann der zweite Teil von Art 5 Abs 1 lit c EMRK nicht zur Rechtfertigung der strittigen Maßnahme herangezogen werden. Wie der GH letztlich schon in Bezug auf den zweiten Teil von Art 5 Abs 1 lit b EMRK ausgeführt hat, verhinderte bereits die von der Polizei errichtete Absperrung die Begehung einer Straftat. Daher war die anschließende Freiheitsentziehung nicht mehr notwendig.

(80) Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen [...] haben die innerstaatlichen Behörden keinen fairen Ausgleich zwischen der Notwendigkeit, die Begehung einer Straftat zu verhindern, einerseits und dem Recht auf persönliche Freiheit der Bf andererseits geschaffen. Daher war die strittige Maßnahme im Hinblick auf Art 5 Abs 1 lit c EMRK nicht gerechtfertigt.

Allgemeine Schlussfolgerung

(81) [...] Es erfolgte eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

Jeweils € 1.000,– für immateriellen Schaden; € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Vasileva/DK, 25.9.2003, 52792/99 = NL 2003, 255

Ladent/PL, 18.3.2008, 11036/03 = NL 2008, 70

Gillan und Quinton/GB, 12.1.2010, 4158/05 = NLMR 2010, 26

Austin ua/GB, 15.3.2012, 39692/09, 40713/09, 41008/09 (GK) = NLMR 2012, 80

Ostendorf/DE, 7.3.2013, 15598/08 = NLMR 2013, 86 = EuGRZ 2013, 489

S., V. und A./DK, 22.10.2018, 35553/12, 36678/12, 36711/12 (GK) = NLMR 2018, 409

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.12.2023, Bsw. 77686/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 544) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise