JudikaturAUSL EGMR

Bsw3963/18 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Dezember 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Matkava ua gg Russland, Urteil vom 19.12.2023, Bsw. 3963/18.

Spruch

Art 1, 2, 38 EMRK - Präzisierungen zur ordnungsgemäßen Untersuchung von Todesfällen bei extraterritorial ausgeübter Hoheitsgewalt.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Verletzung von Art 2 EMRK in seinem materiellrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Verletzung von Art 2 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 130.000,– für immateriellen Schaden; € 9.265,15 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf handelt es sich um die Mutter, die Ehefrau und zwei minderjährige Kinder des verstorbenen Giga Otkhozoria. Am 19.5.2016 fuhr dieser gemeinsam mit zwei Bekannten mit dem Auto von Georgien in das Gebiet von Samegrelo-Zemo Svaneti und der de facto-Republik Abchasien, um Lebensmittel für eine Beerdigung in das Dorf Nabakevi im Bezirk Gali, Abchasien, zu bringen. Für den Transport der Lebensmittel über eine Brücke bat er einen »Grenzsoldaten« um Hilfe. Das Gespräch mit den Soldaten entwickelte sich zu einem Streit, weshalb Giga Otkhozoria zur Vermeidung der weiteren Eskalation der verbalen Auseinandersetzung zu seinen beiden Bekannten, die im Auto warteten, zurückkehren wollte. Vier Wachleute (darunter R. K.-O.) liefen ihm hinterher und holten ihn auf dem von Georgien kontrollierten Territorium ein. R. K.-O. schoss Giga Otkhozoria mit einer Waffe in den Oberschenkel, den vorderen Teil des Bauches und die Brust. Infolge dieser Verletzungen fiel er zu Boden, woraufhin R. K.-O. einen weiteren Schuss direkt in seinen Kopf abgab. Die vier Wachleute rannten daraufhin zurück auf abchasisches Gebiet. Unmittelbar nach den Schüssen wurde Giga Otkhozoria von georgischen Polizeibeamten ins Krankenhaus gebracht, jedoch verstarb er am Weg dorthin. Es stellte sich heraus, dass die Todesursache die Schusswunde in seinem Kopf war.

Die georgischen Behörden leiteten am selben Tag eine Untersuchung betreffend die Tötung von Giga Otkhozoria ein. Schließlich wurde R. K.-O. am 26.12.2016 vom Bezirksgericht Zugdidi in Georgien wegen unerlaubten Führens einer Schusswaffe und Munition, unerlaubten Erwerbs und unerlaubter Lagerung einer Schusswaffe und Munition sowie vorsätzlichen Mordes für schuldig erkannt und in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Das Gericht stützte sich auf zahlreiche Zeugenaussagen sowie Gutachten von Sachverständigen. Die georgische Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, um eine längere Strafe zu erreichen. Der Berufung wurde stattgegeben, die Strafe auf vierzehn Jahre Haft erhöht. Die Entscheidung wurde bislang nicht vollstreckt, da R. K.-O. nicht an die georgischen Behörden ausgeliefert worden ist.

Die de facto-Behörden Abchasiens leiteten im Mai 2016 eine Untersuchung des tödlichen Vorfalls ein. Am 12.6.2017 wurde bekannt, dass die Ermittlungen eingestellt worden waren. Den Bf wurde weder der Opferstatus zuerkannt noch wurden sie direkt über die Einstellung informiert. Eine Anfrage, weshalb die Ermittlungen eingestellt wurden, blieb bislang unbeantwortet.

Die russischen Behörden selbst leiteten keine Untersuchung der Ermordung von Giga Otkhozoria ein.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupteten aufgrund der nicht ordnungsgemäßen Untersuchung betreffend die Tötung ihres Angehörigen eine Verletzung von Art 2 EMRK (Recht auf Leben).

Zur behaupteten Verletzung von Art 38 EMRK

(53) Der GH stellt fest [...], dass der belangte Staat es verabsäumt hat, seinen Verpflichtungen gemäß Art 38 EMRK nachzukommen, dem GH alle erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen, um ihn bei der Feststellung des Sachverhalts zu unterstützen. [...]

Vorfragen

(54) Der GH stellt fest, dass die Tatsachen, die zu den behaupteten Konventionsverletzungen geführt haben, vor dem 16.9.2022 eingetreten sind – jenem Tag, seit dem Russland nicht mehr Vertragspartei der Konvention ist. Der GH entscheidet daher, dass er für die Prüfung der vorliegenden Beschwerde zuständig ist [...].

(59) [Betreffend die Grundsätze über die Zulässigkeit von Beweismitteln und die Würdigung des Sachverhalts durch den GH] kommt dieser zum Ergebnis, dass die Feststellung des angefochtenen Sachverhalts auf Ermittlungs- und Gerichtsverfahren beruhte, die in Georgien durchgeführt wurden [...]. Insb stellt der GH fest, dass es sich bei den Gerichtsverfahren um kontradiktorische Verfahren handelte [...] und dass die Bf durch einen [...] Anwalt vertreten wurden [...]. Das Verfahren wurde von Berufsrichtern durchgeführt, die nicht von den Exekutivbehörden ernannt werden [...]. Der Ablauf des Strafverfahrens in Georgien entsprach den Vorschriften der georgischen Strafprozessordnung [...]. Das Gerichtsverfahren bestand aus öffentlichen Anhörungen [...], in denen es zahlreiche Zeugenaussagen gab [...]. Die Richter prüften alle verfügbaren Beweise, die aus verschiedenen Quellen stammten, und die Urteile, in denen der Bf für schuldig befunden wurde, bezogen sich ausdrücklich auf diese Beweise. Den Richtern war es verwehrt, die von den abchasischen de facto-Behörden erlangten Beweise zu berücksichtigen, da diese die Ermittlungen eingestellt hatten [...]. Wichtig ist, dass die russische Regierung nicht behauptete, dass das Verfahren in Georgien oder seine Schlussfolgerungen in Abwesenheit der Bf »einseitig« waren [...]; sie behauptete stattdessen, dass der »Antrag der Bf auf [...] Auslieferung des abchasischen Grenzwächters an Georgien unbegründet ist«. Zudem beantragten die Behörden Georgiens ordnungsgemäß die Verhaftung und Übergabe der verdächtigen Person [...], welche jedenfalls während des Gerichtsverfahrens von einem vom Gericht bestellten Anwalt vertreten wurde [...]. Die verdächtige Person hat das Recht, gegen das Urteil Berufung einzulegen, sollte sie festgenommen werden [...]. Obwohl der GH keinen Zugang zu den von den georgischen Behörden gesammelten Beweisen hatte [...], ist er auf der Grundlage der obigen Ausführungen davon überzeugt, dass der nationale Entscheidungsprozess angemessene Garantien zum Schutz der Interessen aller betroffenen Personen enthielt [...]. Da es keinen Grund gibt, an der Qualität des von den georgischen Behörden durchgeführten Ermittlungsverfahrens oder an der Unabhängigkeit, Fairness und Transparenz der Gerichtsverfahren in Georgien zu zweifeln, ist der GH der Auffassung, dass er die Ergebnisse dieses Verfahrens [...] trotz der fehlenden Beteiligung des verurteilten Organs der abchasischen de facto-Behörden am Verfahren nicht außer Acht lassen kann [...]. Dementsprechend stellt der GH fest, dass die in den Verfahren in Georgien ergangenen Urteile als Beweismittel zugelassen werden sollten [...].

Zur behaupteten Verletzung von Art 2 EMRK

(60) Die Bf brachten vor, dass ihr Verwandter infolge rechtswidriger Gewaltanwendung durch ein Organ der abchasischen de facto-Behörden getötet worden sei und dass weder die abchasischen de facto-Behörden noch die russischen Behörden eine effektive Untersuchung der Tötung [iSd Art 2 EMRK] durchgeführt hätten. [...]

Zulässigkeit

Zur Sechs-Monats-Regel

(72) Der GH weist erneut darauf hin, dass er [...] die Sechs-Monats-Regel nicht allein deshalb außer Acht lassen kann, weil die belangte Regierung keine diesbezügliche Einrede erhoben hat [...]. Der GH hat die Sechs-Monats-Regel von Amts wegen anzuwenden [...]. [...]

(73) Daher wird der GH prüfen, ob die zum maßgeblichen Zeitpunkt geltende Sechs-Monats-Regel im Fall der Bf eingehalten wurde. Der Verwandte der Bf wurde am 19.5.2016 ermordet und der Täter wurde am 7.3.2017 in Georgien vom Berufungsgericht in Abwesenheit verurteilt. Das Urteil wurde nicht weiter angefochten, die russischen Behörden haben nie eine Untersuchung der Tötung eingeleitet und die de facto-Behörden Abchasiens haben am 21.4.2017 die Untersuchung der Tötung, die sie am 20.5.2016 eingeleitet hatten, eingestellt. Die Bf reichten ihre Klage am 11.1.2018 beim GH ein.

(74) Die Sechs-Monats-Frist läuft grundsätzlich ab dem Datum der endgültigen Entscheidung im Verfahren zur Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe [...]. Steht dem Bf kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung, läuft die Frist ab dem Zeitpunkt der beanstandeten Handlungen oder Maßnahmen oder ab dem Zeitpunkt, ab dem der Bf von diesen Handlungen oder ihren Auswirkungen auf ihn oder seinem Nachteil Kenntnis erlangt [...]. In Fällen, in denen ein andauernder Zustand vorliegt, läuft die Sechs-Monats-Frist ab Beendigung dieses Zustands [...].

(75) Aus den folgenden Gründen stellt der GH fest, dass die Beschwerde nicht verspätet eingereicht wurde.

(76) Erstens haben die abchasischen de facto-Behörden am Tag nach dem Vorfall selbständig ein Strafverfahren wegen der Ermordung von Giga Otkhozoria eingeleitet [...]. Damit haben sie bei den Bf die Erwartung geweckt, dass die anschließende Untersuchung zügig und gründlich verlaufen würde. Darüber hinaus scheinen eine Schwester einer der Bf und zwei Bekannte des unmittelbaren Opfers, die mit ihm gereist waren, von den abchasischen de facto-Behörden im Laufe dieser Ermittlungen verhört worden zu sein, wie von den Bf vorgebracht und von der belangten Regierung nicht bestritten wurde [...]. Daher haben die Bf die Erwartung beibehalten, die Ermittlungen würden effektiv sein.

(77) Zweitens sind die Bf weder untätig geblieben noch haben sie gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen. Insb erkundigten sie sich über ihren Vertreter schriftlich nach dem Fortgang der Untersuchung und forderten die Behörden zu folgenden Zeitpunkten auf, diese fortzusetzen: die de facto-Militärstaatsanwaltschaft Abchasiens im Jänner und August 2017 [...]; die Generalstaatsanwaltschaft Russlands im Jänner, März und Juni 2017 [...] und im Oktober 2016 und Juni 2017 die georgischen Behörden [...], wobei sie letztere fragten, ob sie die Verhaftung und Übergabe des Täters beantragt hätten. Zudem erkundigten sie sich nach dem Stand der Ermittlungen in de facto-Abchasien.

(78) Drittens schlossen die Behörden Georgiens die von ihnen eingeleiteten Ermittlungen zu dem Vorfall ab und verurteilten den Täter im März 2017 in Abwesenheit [...]. Sie forderten die abchasischen de facto-Behörden auf, ihn auszuliefern [...]. Eine solche Übergabe hätte den Vollzug der Bestrafung des Täters ermöglicht, was auch die Tatsache erklären könnte, dass die Bf einige Zeit auf die Übergabe gewartet haben.

(79) Zuletzt, und das ist entscheidend, reichten die Bf ihren Antrag beim GH innerhalb von sechs Monaten ein, nachdem sie zum ersten Mal am 11.7.2017 von offizieller Seite (den georgischen staatlichen Behörden) in Beantwortung einer ausdrücklich damit zusammenhängenden Anfrage darüber informiert worden waren, dass die abchasischen de facto-Behörden die strafrechtlichen Ermittlungen zum Mord an ihrem Verwandten eingestellt hatten. Daraufhin wurden die Bf aktiv, als klar wurde, dass es keine wirksamen Ermittlungen geben wird [...]. Der GH stellt fest, dass, obwohl einige Medienberichte, die das Ende der Ermittlungen in de facto-Abchasien ankündigten, vor diesem Zeitpunkt veröffentlicht wurden [...], den Bf nicht vorgeworfen werden kann, dass sie sich nicht unmittelbar danach an den GH gewandt und stattdessen darauf gewartet haben, eine offizielle Antwort zu erhalten.

(80) Aufgrund aller oben geprüften Elemente kommt der GH zur Schlussfolgerung, dass es nicht unangemessen erscheint, dass die Bf etwa ein Jahr lang auf die Ergebnisse der Ermittlungen in de facto-Abchasien gewartet haben und ihre Beschwerde beim GH innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie offiziell über das Ende des Verfahrens in Abchasien informiert wurden, eingereicht haben.

Zuständigkeit

(82) Die Bf machten geltend, dass sich ihr Verwandter zum Zeitpunkt seines Todes gemäß Art 1 EMRK in der Hoheitsgewalt Russlands befunden habe und dass Russland seiner Ermittlungspflicht gemäß Art 2 EMRK nicht nachgekommen sei.

(83) Die Frage, ob der Fall der Bf in die Hoheitsgewalt des belangten Staats fällt, ist nach Ansicht des GH eng mit der Begründetheit ihrer Beschwerden verbunden. Daher wird diese Vorfrage mit der Prüfung der Begründetheit verbunden.

Schlussfolgerung zur Zulässigkeit

(84) Der GH ist der Auffassung, dass die Beschwerde schwerwiegende Tatsachen- und Rechtsfragen aufwirft, die so komplex sind, dass ihre Entscheidung von einer Prüfung in der Sache abhängt. Das Vorbringen ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK angeführten Grund unzulässig. Es ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Zuständigkeit (ratione loci und ratione personae)

(85) Die Bf argumentierten, dass ihr Familienmitglied sowohl nach dem »räumlichen« als auch nach dem »persönlichen« Konzept, welches der GH in seiner Rsp entwickelt hat, unter die russische Hoheitsgewalt gefallen sei. Insb machten sie geltend, dass Russland aufgrund der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Unterstützung, die es de facto-Abchasien gewährt habe, die Hoheitsgewalt über das abchasische Territorium und die Handlungen der dortigen de facto-Behörden innehabe; außerdem fielen die von den de facto-Behörden außerhalb des abchasischen Territoriums vorgenommenen Handlungen nach dem Konzept der »Befehlsgewalt und Kontrolle von Organen« [...] in die Hoheitsgewalt Russlands.

(89) Wie in Art 1 EMRK vorgesehen, beschränkt sich die Verpflichtung eines Vertragsstaats darauf, die angeführten Rechte und Freiheiten Personen innerhalb seiner eigenen »Hoheitsgewalt« zu gewährleisten [...]. Die »Hoheitsgewalt« nach Art 1 EMRK ist ein Schwellenwert. Die Ausübung der Hoheitsgewalt ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Vertragsstaat für Handlungen oder Unterlassungen verantwortlich gemacht werden kann, die ihm zuzurechnen sind und die den Vorwurf der Verletzung von in der EMRK verankerten Rechten und Freiheiten begründen [...].

(95) Der GH stellte in der Rechtssache Georgien/RU (II) fest [...], dass selbst nach Oktober 2008 die starke russische Präsenz und die Abhängigkeit der abchasischen Behörden von Russland, [...] darauf hindeuteten, dass Russland weiterhin eine »effektive Kontrolle« über Abchasien ausübte und somit die Hoheitsgewalt über das abchasische Territorium hatte. Zumindest bis zum 23.5.2018 [...] gab es eine fortwährende »effektive Kontrolle« Russlands über Abchasien – in Ermangelung relevanter neuer gegenteiliger Informationen ist diese Feststellung weiterhin gültig.

(96) [...] Der Rsp des GH folgend [...] war Russland ab dem Zeitpunkt, zu dem es die »effektive Kontrolle« über das Territorium Abchasiens ausübte, auch für die Handlungen der abchasischen Streitkräfte in diesem Territorium verantwortlich, ohne dass der Nachweis einer »detaillierten Kontrolle« über jede dieser Handlungen erbracht werden musste.

(97) Ungeachtet dessen stellt der GH fest, dass die im vorliegenden Fall beanstandete Handlung – die Tötung von Giga Otkhozoria – nicht auf abchasischem, sondern auf von Georgien kontrolliertem Territorium stattfand [...]. Daher kann das räumliche Konzept der Zuständigkeit, nach dem die Zuständigkeit Russlands für die Handlungen der abchasischen Streitkräfte auf abchasischem Hoheitsgebiet bejaht wurde [...], nicht auf die Tötungshandlung angewandt werden. Die Tötung fand in einem Gebiet statt, über das Russland keine Kontrolle ausübte. Es bleibt daher zu prüfen, ob Russland für die Tötungshandlung nach dem persönlichen Konzept der Hoheitsgewalt verantwortlich war [...].

(98) Der GH [...] hat bereits entschieden, dass »ein Staat für Verletzungen der Rechte und Freiheiten von Personen zur Rechenschaft gezogen werden kann, die sich zwar im Hoheitsgebiet eines anderen Staats befinden, aber nachweislich unter der Befehlsgewalt und Kontrolle des erstgenannten Staats stehen, und zwar durch seine Organe, die – irrelevant, ob rechtmäßig oder unrechtmäßig – im letztgenannten Staat tätig sind« [...]. [...] Es reicht in diesen Fällen die Kontrolle über Einzelpersonen aufgrund von Übergriffen und gezielten Angriffen auf bestimmte Personen durch die Streitkräfte oder die Polizei des belangten Staats aus, um die betroffenen Personen »unter die Befehlsgewalt und/oder tatsächliche Kontrolle des belangten Staats durch seine Organe« zu bringen [...]. [Bspw] weist der GH [in seiner Judikatur] [...] insb darauf hin, dass [...] er die Zuständigkeit der Türkei für eine beanstandete Handlung (Verwundung der Bf, die sich auf griechisch-zyprischem Hoheitsgebiet befand, durch Beschuss durch türkische oder türkisch-zyprische Uniformierte) bejahte, während sich [...] die Uniformierten selbst auf dem Hoheitsgebiet der »türkischen Republik Nordzypern« befanden.

(99) Ferner hat der GH entschieden, dass der Grundsatz, wonach ein Staat extraterritoriale Hoheitsgewalt ausübt, wenn es sich um spezifische Handlungen handelt, die ein Element der Nähe beinhalten, gleichermaßen in Fällen von außergerichtlichen gezielten Tötungen durch staatliche Organe gelten sollte, die außerhalb des Kontextes einer militärischen Operation im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats handeln [...]. Dieser Ansatz steht im Einklang mit dem Wortlaut von Art 15 Abs 2 EMRK, der keine Ausnahmen von Art 2 EMRK zulässt, es sei denn, es handelt sich um Todesfälle, die auf rechtmäßige Kriegshandlungen zurückzuführen sind [...].

(100) Gegenständlich sind die Umstände des Todes von Giga Otkhozoria nicht Gegenstand von Spekulationen oder Vermutungen. Weder die de facto abchasischen noch die russischen Behörden haben den Sachverhalt aufgeklärt und den Täter identifiziert, obwohl ein Verdächtiger vorübergehend unter Hausarrest gestellt und von seinem Posten bei den de facto abchasischen Sicherheitskräften suspendiert wurde [...]. Die georgischen Behörden stellten jedoch nach einem Gerichtsverfahren über zwei Instanzen, das allerdings in Abwesenheit des Beschuldigten durchgeführt wurde, zweifelsfrei fest, dass die beanstandete Tat von einem »Grenzschutzbeamten« (einem Bediensteten der abchasischen de facto-Behörden) begangen worden war, den sie namentlich identifizierten und von dem sie feststellten, dass er aus nächster Nähe mehrere Kugeln auf das Opfer abgefeuert hatte. Dies führte schließlich zu dessen Tod [...]. In Anbetracht der Qualität der innerstaatlichen Ermittlungen in Georgien und der Gründlichkeit und Kohärenz der fraglichen Verfahren [...] ist der GH der Auffassung, dass die Identifizierung des Täters [...] und der Hinweis auf seine Verbindung zu den abchasischen de facto-Behörden einen starken Anscheinsbeweis dafür liefern, dass R. K.-O. bei der Tötung von Giga Otkhozoria als Organ der abchasischen de facto-Behörden handelte. [...]

(101) Der GH kann folglich [...] nicht über die Gründe spekulieren, die der belangte Staat vorbringen könnte, um zu zeigen, dass die Handlungen des Täters nicht den abchasischen de facto-Behörden zuzurechnen sind. Die Informationen, die zur Untermauerung einer solchen Theorie erforderlich sind, liegen großteils im ausschließlichen Wissen dieser de facto-Behörden, die im Übrigen unter Berufung auf den gesetzlichen Schutz vor Auslieferung die ausschließliche Zuständigkeit für R. K.-O. geltend gemacht haben [...]. In Anbetracht dieser Umstände verlagerte sich die Beweislast auf die Behörden des belangten Staats. Hinsichtlich der Tatsache, dass der GH festgestellt hat, dass Russland die Hoheitsgewalt über das abchasische Territorium und die Handlungen der dortigen de facto-Behörden ausübte, wurde erwartet, dass entweder diese de facto-Behörden oder die russischen Behörden selbst eine wirksame Untersuchung durchführen und feststellen, ob R. K.-O. im aktiven Dienst war, als er Giga Otkhozoria tötete [...].

Dies deutet auf die Verantwortung des Staats hin [...].

(102) Dem Sachverhalt ist jedoch zu entnehmen, dass die abchasischen de facto-Behörden die Zusammenarbeit mit den georgischen Behörden in Bezug auf die Ermittlungen zum Tod von Giga Otkhozoria und die anschließenden Gerichtsverfahren verweigerten [...]. Auch die russische Regierung hat keinen ernsthaften Versuch unternommen, den Sachverhalt zu klären oder den Feststellungen der georgischen Behörden zu widersprechen. Sie hat es sogar verabsäumt, sich an den Bemühungen zur Tatsachenfeststellung zu beteiligen – unabhängig davon, ob diese in Georgien oder vom GH selbst durchgeführt wurden. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die russischen Behörden trotz ihres uneingeschränkten Zugangs zu R. K.-O. nach dessen unmittelbarer Rückkehr in das abchasische Hoheitsgebiet nach der Tötung eine Überprüfung der von den georgischen Behörden festgestellten Tatsachen vorgenommen haben – Tatsachen, welche (wie vom GH festgestellt) die Verantwortung von R. K.-O. für die Tötung von Giga Otkhozoria belegen [...].

Die russischen Behörden haben es verabsäumt, selbst eine Untersuchung durchzuführen [...].

(103) [...] Aus der Weigerung des belangten Staats, eine Untersuchung durchzuführen oder irgendwelche Dokumente im Zusammenhang mit der von den de facto abchasischen Behörden eingeleiteten Untersuchung offenzulegen, können nachteilige Schlussfolgerungen gezogen werden [...]. In Anbetracht des Versäumnisses der Regierung, den Anscheinsbeweis für die Beteiligung der de facto-Behörden zu entkräften, kann der GH nicht umhin, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass Giga Otkhozoria von R. K.-O., der als Bediensteter der de facto-Behörden Abchasiens handelte, bei »Grenzkontrollmaßnahmen« getötet wurde.

(104) Daher stellt der GH fest, dass, obwohl der Angehörige der Bf in einem Gebiet getötet wurde, über das Russland keine Kontrolle ausübte, die Eröffnung des Feuers durch einen de facto-Behördenbediensteten Abchasiens auf das Opfer aus nächster Nähe – einschließlich eines Schusses in seinen Kopf (der die unmittelbare Todesursache war) – sich so darstellte, dass der Angehörige der Bf als der Hoheitsgewalt Russlands iSd Art 1 EMRK unterliegend anzusehen ist [...].

Zur behaupteten Verletzung von Art 2 EMRK aus materieller Sicht

(109) Der GH hat gegenständlich bereits festgestellt, dass der Angehörige der Bf zu seinem Todeszeitpunkt der Hoheitsgewalt Russlands unterlag – dies einer Kombination aus dem »räumlichen« und dem »persönlichen« Konzept der Hoheitsgewalt folgend (siehe Rz 96 und 104). [...]

(110) In Anbetracht der oben dargelegten Schlussfolgerung des GH betreffend den getöteten Verwandten der Bf [...] und in Ermangelung jeglicher Anhaltspunkte in den Akten [...] dafür, dass die Anwendung von Gewalt unter den gegebenen Umständen »absolut notwendig« gewesen sein könnte und somit unter die zulässigen Ausnahmen des Art 2 EMRK fällt, stellt der GH fest, dass Giga Otkhozoria infolge der rechtswidrigen Anwendung tödlicher Gewalt durch die abchasischen de facto-Behörden getötet wurde, und dass diese Gewaltanwendung exzessiv und unter den gegebenen Umständen nicht absolut notwendig war [...]. Da Russland während des fraglichen Zeitraums die tatsächliche Kontrolle über Abchasien ausübte, kann sich seine Verantwortung nicht auf die Handlungen seiner eigenen Soldaten oder Beamten dort beschränken, sondern muss auch aufgrund der Handlungen der örtlichen Verwaltung, die wegen der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Unterstützung Russlands überlebte, gegeben sein [...]. Daher ist die beanstandete Handlung dem belangten Staat zuzurechnen, der folglich [...] die Verantwortung zu tragen hat.

(111) Es liegt somit eine Verletzung des materiellen Aspekts von Art 2 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 2 EMRK aus verfahrensrechtlicher Sicht

(115) Der GH hat bereits früher Beschwerden unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art 2 EMRK geprüft, bei denen der Tod im Hoheitsgebiet eines anderen Staats oder in einer neutralen Zone eingetreten, aber angeblich von einem Bediensteten des betreffenden Mitgliedstaats durch die Ausübung seiner Befehlsgewalt und Kontrolle verursacht worden war [...]. In all diesen Fällen – ebenso wie im vorliegenden Fall – bestand eindeutig eine hinsichtlich der Hoheitsgewalt iSd Art 1 EMRK relevante Verbindung zwischen dem Verstorbenen und dem belangten Staat. Bei Bestehen einer solchen Hoheitsgewalt enthält Art 2 EMRK [...] eine verfahrensrechtliche Verpflichtung zur Durchführung einer wirksamen Untersuchung angeblicher Verstöße gegen seinen materiellen Teil [...]. Die Pflicht, eine solche Untersuchung durchzuführen, ergibt sich in allen Fällen der Tötung und anderer verdächtiger Todesfälle [...].

(117) Im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden oder transnationalen Rechtssachen hat der GH festgestellt, dass Art 2 EMRK von beiden Staaten eine wechselseitige Verpflichtung zur Zusammenarbeit als Bestandteil ihrer verfahrensrechtlichen Verpflichtungen [...]verlangen kann – dies impliziert gleichzeitig eine Verpflichtung zum Ersuchen um Hilfeleistung und eine Verpflichtung zur Gewährung von Hilfe [...]. [...]

(118) Gegenständlich stellt der GH fest, dass Russland keine Ermittlungen durchgeführt hat und dass die de facto abchasischen Behörden die von ihnen eingeleiteten Ermittlungen zur Tötung von Giga Otkhozoria weniger als ein Jahr nach deren Beginn eingestellt haben [...]. Die russischen Behörden haben es verabsäumt, dem GH eine Kopie dieser Ermittlungsakte zu übermitteln und eine Erklärung für dieses Versäumnis zu geben. Ebenso wenig wurde ein Überblick oder eine Zusammenfassung der in de facto-Abchasien durchgeführten Ermittlungsschritte vorgelegt [...].

(119) Ferner kann in Anbetracht der Tatsache, dass (i) der Verdächtige sich auf abchasischem Hoheitsgebiet aufhielt und (ii) Georgien um seine Übergabe und anschließend seine Auslieferung ersuchte, nicht gesagt werden, dass die russischen Behörden (entweder selbst oder über die abchasischen de facto-Behörden) ihrer Verpflichtung nachgekommen sind, im Rahmen der von den georgischen Behörden durchgeführten Ermittlungen und Gerichtsverfahren Unterstützung zu gewähren [...]. Es scheint, dass die de facto-Behörden die Bemühungen der georgischen Behörden um Feststellung des Sachverhalts völlig außer Acht gelassen haben, indem sie sich weigerten, die ihnen von den georgischen Behörden übermittelten Beweise zu berücksichtigen, und sie demonstrativ mit der unbegründeten Behauptung zurückschickten, dass sie unbrauchbar seien [...]. Schließlich weigerten sie sich, R. K.-O. [...] auszuliefern. Es war nicht möglich, dass dieser an dem dort gegen ihn geführten Strafverfahren teilnahm oder die von den georgischen Gerichten gegen ihn verhängte Strafe verbüßte.

(120) Das Versäumnis einer Regierung [...], ihr vorliegende Dokumente vorzulegen, ohne dass eine zufriedenstellende Erklärung für dieses Versäumnis gegeben wird, kann Rückschlüsse auf die Begründetheit der Behauptungen der Bf zulassen. Im vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass die belangte Regierung aufgrund der Nichtvorlage von Dokumenten [...] und in Anbetracht ihrer Unterlassung einer Zusammenarbeit mit den georgischen Behörden [...] ihrer Beweislast in Bezug auf den Nachweis, dass die russischen Behörden eine wirksame Untersuchung durchgeführt haben, die zur Feststellung des Sachverhalts und zur Verurteilung der für die Tötung von Giga Otkhozoria verantwortlichen Person führen konnte, nicht nachgekommen ist.

(121) Der GH kommt daher zum Ergebnis, dass auch betreffend den verfahrensrechtlichen Aspekt eine Verletzung von Art 2 EMRK durch Russland vorliegt (einstimmig).

Weitere behauptete Konventionsverletzungen

(122) Die Bf brachten auch das Fehlen wirksamer Rechtsbehelfe in Bezug auf ihre Beschwerde vor (Art 13 EMRK iVm Art 2 EMRK).

(123) Der GH stellt fest, dass das Vorbringen der Bf auf eine Neuformulierung ihrer Beschwerde nach dem verfahrensrechtlichen Teil des Art 2 EMRK hinausläuft. Diese Beschwerde ist zwar zulässig, wirft aber keine unter Art 13 EMRK gesondert zu prüfende Frage auf (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 130.000,– für immateriellen Schaden; € 9.265,15 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Issa ua/TR, 16.11.2004, 31821/96 = NL 2004, 286

Öcalan/TR, 12.5.2005, 46221/99 (GK) = NL 2005, 117 = EuGRZ 2005, 463

Varnava ua/TR, 18.9.2009, 16064/90 ua (GK) = NL 2009, 271

Mustafa Tunç und Fecire Tunç/TR, 14.4.2015, 24014/05 (GK) = NLMR 2015, 97

Makuchyan und Minasyan/AZ und HU, 26.5.2020, 17247/13 = NLMR 2020, 170

Georgien/RU (II), 21.1.2021, 38263/08 (GK)= NLMR 2021, 20

Carter/RU, 21.9.2021, 20914/07 = NLMR 2021, 405

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.12.2023, Bsw. 3963/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 529) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise