Bsw59433/18 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Humpert ua gg Deutschland, Urteil vom 14.12.2023, Bsw. 59433/18.
Spruch
Art 6 Abs 1, Art 11, 14 EMRK - Kein Streikrecht für beamtete Lehrer*innen.
Zulässigkeit der Beschwerde von Art 11 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 11 EMRK (16:1 Stimmen).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 14 iVm Art 11 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 6 Abs 1 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf handelt es sich um vier deutsche Staatsangehörige. Sie waren zum maßgeblichen Zeitpunkt in verschiedenen Bundesländern an staatlichen Schulen als Lehrer*innen mit Beamt*innenstatus angestellt.
Als Mitglieder der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nahmen die Bf 2009 bzw 2010 an von der GEW organisierten Streiks während ihrer Dienstzeit in der Dauer von einer Stunde bis zu drei Tagen teil, um gegen sich verschlechternde Arbeitsbedingungen zu protestieren. Ihnen wurden gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Beamtenstatusgesetzes bzw nach Art 33 Abs 5 GG (Anm: Danach ist das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln.) Disziplinarverfügungen wegen verbotener Teilnahme an einem Streik auferlegt. Der ErstBf erhielt einen Verweis wegen Nichtabhaltung einer Unterrichtsstunde, während über die übrigen Bf Geldbußen wegen nicht autorisierten Fernbleibens vom Dienst verhängt wurden.
Die von den Bf dagegen eingelegten Rechtsmittel wurden von den Verwaltungsgerichten mit dem Hinweis abgewiesen, die Bf hätten aufgrund der Teilnahme an den Streiks gegen ihre Berufspflichten verstoßen. Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums würden nämlich die Versammlungsfreiheit von Beamt*innen unter Art 9 Abs 3 GG (Anm: Diese Bestimmung lautet: »Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. [...]«). einschränken, indem ihnen verboten werde, an Streiks teilzunehmen.
Die Bf wandten sich daraufhin an das BVerfG. Mit Urteil vom 12.6.2018, 2 BvR 1738/12 ua, wies Letzteres die Verfassungsbeschwerden der Bf zurück. Einleitend hielt es fest, dass Art 9 Abs 3 GG auch auf Beamt*innen anwendbar sei und von Gewerkschaften im Kontext von Kollektivvertragsverhandlungen organisierte Maßnahmen inklusive Streiks umfasse. Die Teilnahme der Bf an den von ihrer Gewerkschaft ausgerufenen Streikmaßnahmen zwecks Erzielung eines Kollektivvertrags für Vertragsbedienstete sei daher von Art 9 Abs 3 GG erfasst gewesen. Die gegen die Bf ergangenen Disziplinarentscheidungen hätten daher einen Eingriff in ihre Versammlungsfreiheit und in ihr Recht, angemessene Arbeitsbedingungen einzufordern, dargestellt. Dieser Eingriff sei jedoch gerechtfertigt gewesen. Das Recht auf Versammlungsfreiheit werde nämlich durch andere verfassungsrechtliche Interessen eingeschränkt. Das für alle Beamt*innen geltende Streikverbot sei auf deren speziellen Status zurückzuführen und stelle einen eigenständigen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums dar. Das genannte Verbot diene dem Zweck der Aufrechterhaltung einer stabilen Verwaltung und der Gewährleistung staatlicher Funktionen. Angesichts dessen, dass das Streikverbot für Beamt*innen Teil der in Art 33 Abs 5 GG verankerten institutionellen Garantie sei, sei der Gesetzgeber daran gebunden und vermöge es nicht zu ändern. Ein Recht zu streiken, möge dies auch nur für einige Beamt*innen gelten, würde das gesamte System des Berufsbeamtentums in Frage stellen und fundamentale Änderungen durch den Gesetzgeber erfordern. Dies würde einen massiven Eingriff in das Herzstück der von Art 33 Abs 5 GG gewährleisteten strukturellen Prinzipien darstellen. Insgesamt betrachtet sei der Eingriff in die Versammlungsfreiheit von Beamt*innen nicht unangemessen, stelle doch das Streikrecht nur einen Aspekt dieser Freiheit dar. Das Verbot zu streiken führe nicht zu einer kompletten Bedeutungslosigkeit der Versammlungsfreiheit. Zudem habe der Gesetzgeber das Streikverbot ausreichend kompensiert, indem Spitzenorganisationen von Beamt*innengewerkschaften ein Recht eingeräumt worden sei, an der Ausarbeitung von neuen rechtlichen Bestimmungen betreffend den Status von Beamt*innen mitzuwirken. Als weitere Kompensationsmaßnahme für das genannte Verbot sei für Beamt*innen die Möglichkeit geschaffen worden, im Einklang mit dem Alimentationsprinzip vor den Gerichten auf »adäquate Versorgung« zu klagen. Das Streikverbot sei letztlich auch mit Art 11 EMRK und der einschlägigen Rsp des EGMR vereinbar.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf rügen Verletzungen von Art 6 Abs 1 (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) alleine bzw in Verbindung mit Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Zur behaupteten Verletzung von Art 11 EMRK
(73) Laut den Bf hätten die gegen sie ergriffenen Disziplinarmaßnahmen wegen Teilnahme an einem Streik während der Arbeitszeit wie auch das generelle Streikverbot für Beamt*innen, auf welchem diese Maßnahmen beruht hätten, sie in ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit [...] verletzt.
Zulässigkeit
(74) Die ehemalige EKMR hatte mit einer unter Art 11 EMRK eingebrachten Rechtssache gegen Deutschland zu tun. Dabei ging es um die Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Lehrer mit Beamtenstatus, der als Mitglied des Vorstands einer Gewerkschaft an einer Entscheidung teilgenommen hatte, mit der Gewerkschaftsmitgliedern – namentlich Lehrer*innen – empfohlen wurde, an einem Streik teilzunehmen, obwohl es Beamt*innen nach deutschem Recht nicht erlaubt war, zu streiken (siehe S./DE, Rz 237). Die EKMR hielt fest, dass das deutsche Recht Beamt*innen aufgrund ihres speziellen rechtlichen Status nicht das Recht zu streiken garantiere und das Recht auf Versammlungsfreiheit auch auf anderem Wege als im Wege der Einräumung eines Streikrechts Beachtung finden könne. Sie kam zu dem Schluss, dass die gegen den Bf ergriffene Disziplinarmaßnahme als solche nicht als Verletzung seines Rechts auf Versammlungsfreiheit angesehen werden könne und seine Beschwerde unter Art 11 EMRK folglich offensichtlich unbegründet sei (ebenda, Rz 241).
(75) Während die im gegenständlichen Fall aufgeworfenen Probleme den von der EKMR im zitierten Fall erörterten Fragen sehr ähnlich sind und die maßgeblichen innerstaatlichen Rahmenbedingungen dieselben geblieben sind, vertritt die GK angesichts der Entwicklungen in der Rsp des GH zu Art 11 EMRK seit Ergang der Kommissionsentscheidung die Auffassung, dass die Beschwerde der Bf unter Art 11 EMRK nicht offensichtlich unbegründet iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK ist. Da sie auch aus keinen anderen Gründen unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
Zum Vorbringen der Bf
(76) Die Bf bringen vor, das absolute Streikverbot, welches alle Beamt*innen aufgrund ihres [besonderen] Status treffe, und die über sie verhängten Disziplinarmaßnahmen wegen der Arbeitsniederlegung [...] habe ihr Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit einschließlich des Rechts, an Gewerkschaftsaktivitäten mitzuwirken, iSv Art 11 EMRK verletzt. Der Eingriff in diese Rechte sei gesetzlich nicht vorgesehen gewesen, da weder Art 33 Abs 5 GG noch einfaches Recht ein Streikverbot für Beamt*innen in präziser und vorhersehbarer Art und Weise festlegten. Zudem sei die einschlägige Rsp der innerstaatlichen Gerichte widersprüchlich. [...] Der Eingriff sei auch unverhältnismäßig.
Bewertung durch den GH
Der Ansatz des GH bei der Gewerkschaftsfreiheit
(98) Der GH erinnert daran, dass es sich bei der Gewerkschaftsfreiheit nicht um ein unabhängiges Recht, sondern um einen spezifischen Aspekt der von Art 11 EMRK anerkannten Versammlungsfreiheit handelt (siehe Manole und »Les cultivateurs directs« de Roumanie/RO, Rz 57). Art 11 EMRK gewährleistet Mitgliedern einer Gewerkschaft ein Recht ihrer Gewerkschaft, gehört zu werden, um Mitgliederinteressen zu schützen, garantiert ihnen jedoch keine besondere Behandlung durch den Staat. Die Konvention fordert allerdings, dass Gewerkschaften nach nationalem Recht die Möglichkeit gegeben werden sollte, unter im Einklang mit Art 11 EMRK stehenden Bedingungen für den Schutz der Interessen ihrer Mitglieder einzutreten. [...] Die Konvention macht keinen Unterschied zwischen den Funktionen eines Vertragsstaats als Innehaber öffentlicher Gewalt und seinen Verantwortlichkeiten als Arbeitgeber. Art 11 EMRK ist keine Ausnahme zu dieser Regel. Vielmehr ist Art 11 Abs 2 in fine EMRK klar zu entnehmen, dass der Staat daran gebunden ist, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit seiner Angestellten zu respektieren, und zwar vorbehaltlich der möglichen Auferlegung von »rechtmäßigen Einschränkungen« im Fall von Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung. Art 11 EMRK bindet daher den »Staat als Arbeitgeber« in seinen Beziehungen mit Arbeitnehmer*innen, mögen die Beziehungen des Staats mit seinen Angestellten durch öffentliches oder privates Recht geregelt sein.
(99) Die Leitprinzipien des Ansatzes des GH zur Gewerkschaftsfreiheit wurden im Fall Demir und Baykara/TR, Rz 144, dargelegt. [...]
(100) [...] Der GH hat in seiner Rsp eine nicht erschöpfende Liste essenzieller Elemente der Gewerkschaftsfreiheit aufgestellt. Diese beinhalten das Recht auf Gründung einer und Beitritt zu einer Gewerkschaft, das Verbot von »closed-shop-Vereinbarungen«, das Recht einer Gewerkschaft, den Arbeitgeber zu überzeugen, dass er sich anhört, was sie in Vertretung ihrer Mitglieder zu sagen hat, und – angesichts der Entwicklungen in arbeitsrechtlichen Beziehungen – das Recht auf Führung von Tarifverhandlungen mit dem Arbeitgeber [...].
(101) Der GH kann und muss beim Defininieren des Bedeutungsgehalts von Bedingungen und Begriffen im Text der Konvention internationales Recht außerhalb der Konvention berücksichtigen, ebenso auch die Auslegung internationalen Rechts durch die zuständigen Organe und die Praxis der europäischen Staaten, die ihre gemeinsamen Werte widerspiegeln. [...] Gleichzeitig ist die Rsp des GH auf die Konvention beschränkt. Er hat keine Befugnis zu bewerten, ob der belangte Staat die relevanten Standards der ILO oder der Europäischen Sozialcharta befolgt hat.
Das Recht zu streiken
(103) Der GH hat es bislang offen gelassen, ob ein Streikverbot ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit unter Art 11 EMRK betrifft.
(104) Das Recht zu streiken erlaubt es einer Gewerkschaft, dass ihre Stimme gehört wird, und stellt ein bedeutendes Instrument für sie zum Schutz der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder dar, wodurch im Gegenzug die Mitglieder einer Gewerkschaft in die Lage versetzt werden, ihre Interessen zu verteidigen. [...] Streikmaßnahmen werden eindeutig von Art 11 EMRK geschützt, insoweit zu solchen von Gewerkschaften aufgerufen wird.
(105) Ein Streikverbot muss daher als Einschränkung der Befugnisse einer Gewerkschaft gesehen werden, die Interessen ihrer Mitglieder zu schützen. Dies läuft somit auf eine Einschränkung der Vereinigungsfreiheit einer Gewerkschaft hinaus. Ein Streikverbot bringt auch eine Einschränkung der Vereinigungsfreiheit von Gewerkschaftsmitgliedern mit sich.
(106) Jedoch impliziert das Recht zu streiken nicht ein Recht, dass man obsiegt.
(107) Der GH hat bereits festgehalten, dass das Recht zu streiken nicht absolut ist. Es kann gewissen Bedingungen und Einschränkungen unterworfen werden. Insb kann ein Beamt*innen, die hoheitliche Befugnisse im Namen des Staates ausüben, auferlegtes Streikverbot mit der Gewerkschaftsfreiheit vereinbar sein. In ähnlicher Weise können Einschränkungen des Streikrechts im Hinblick auf Arbeitnehmer*innen erfolgen, die essenzielle Dienste für die Bevölkerung erbringen. Ein vollständiges Verbot des Rechts zu streiken in Bezug auf gewisse Kategorien solcher Arbeitnehmer*innen erfordert allerdings vom Staat, solide Beweise vorzulegen, um die Notwendigkeit derartiger Einschränkungen zu rechtfertigen zu können.
(108) In diesem Zusammenhang möchte der GH daran erinnern, dass – während die Möglichkeit zu streiken eines der bedeutendsten Mittel darstellt, mit dem Gewerkschaften ihrer Rolle zum Schutz der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder nachkommen können – ihnen auch andere Mittel offenstehen, um dies zu erreichen. Bei der Beurteilung, ob Einschränkungen des Streikrechts mit Art 11 EMRK im Einklang stehen, muss Bedacht auf die Gesamtheit der vom betreffenden Staat zur Gewährleistung der Gewerkschaftsfreiheit ergriffenen Maßnahmen genommen werden. Damit Art 11 EMRK entsprochen wird, dürfen die Auswirkungen der Einschränkung der Fähigkeiten einer Gewerkschaft, Streikmaßnahmen durchzuführen, ihre Mitglieder keinem realen oder unmittelbaren Risiko von Nachteilen aussetzen. Genausowenig dürfen sie schutzlos gegenüber zukünftigen Versuchen [des Arbeitgebers] sein, Bezahlung oder Arbeitsbedingungen zu minimieren.
(109) Somit lässt sich festhalten, dass die Frage, ob ein Streikverbot ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit betrifft, weil sie diese Freiheit nach Lage der Dinge jeglicher Substanz beraubt (eine Frage, die der GH bis dato offen gelassen hat), vom speziellen Kontext abhängt und daher nicht abstrakt beantwortet werden kann [...]. Vielmehr ist eine Beurteilung aller Umstände des Falles erforderlich. Man muss die Gesamtheit der vom Staat getroffenen Maßnahmen zwecks Sicherstellung der Gewerkschaftsfreiheit sehen, ferner sind jegliche alternative Mittel oder Rechte in Betracht zu ziehen, die Gewerkschaften gewährt werden, damit ihre Stimme gehört wird und um die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder wahren zu können. Letztlich müssen auch die Gewerkschaftsmitgliedern garantierten Rechte zur Verteidigung ihrer Interessen berücksichtigt werden. Andere Aspekte, die auf die Struktur von Arbeitsbeziehungen im betreffenden System ausgerichtet sind, dürfen bei dieser Beurteilung ebenfalls nicht fehlen – zum Beispiel, ob die Arbeitsbedingungen in diesem System von Kollektivvertragsverhandlungen bestimmt werden, da zwischen Tarifverhandlungen und dem Recht zu streiken eine enge Verbindung besteht. Der betroffene Sektor und/oder die von den betroffenen Arbeitnehmer*innen verrichteten Funktionen können bei dieser Beurteilung ebenfalls von Relevanz sein.
(110) Die Frage, ob ein Streikverbot ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit betrifft, weil es Letztere in einem gegebenen Zusammenhang jeglicher Substanz beraubt, kann nur im Kontext dieser Beurteilung und unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles beantwortet werden. Andererseits wird auch gesetzt den Fall, dass ein Verbot zu streiken kein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit in einem gegebenen Zusammenhang betreffen dürfte, davon nichtsdestoweniger ein Herzstück der Gewerkschaftstätigkeit betroffen sein, sofern es um »primäre« oder unmittelbare Arbeitskampfmaßnahmen geht.
(111) Der dem Staat eingeräumte Ermessensspielraum wird reduziert, wenn entweder Maßnahmen ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit betreffen oder Einschränkungen den Kern von Gewerkschaftsaktivitäten treffen. Dazu gehören schwerwiegende Einschränkungen betreffend »primäre« oder unmittelbare Arbeitskampfmaßnahmen durch Angestellte des öffentlichen Sektors, die weder hoheitliche Befugnisse im Namen des Staats ausüben noch grundlegende Dienste für die Bevölkerung leisten. Wenn Einschränkungen das Herzstück von Gewerkschaftsaktivitäten treffen – und insofern ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit tangieren können – erfordert eine Einschätzung der Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen eine Bewertung, die alle Umstände des Falls miteinschließt (vgl oben Rz 102 und 110). Eine solche Analyse erlaubt es auch zu beurteilen, ob eine Einschränkung wie das Verbot zu streiken ein wesentliches Element der Gewerkschaftsfreiheit in einem gegebenen Fall betrifft.
(112) Im Gegensatz dazu wird der dem Staat zugestandene Ermessensspielraum ein weiter sein, wenn eine substanzielle Einschränkung des Rechts zu streiken Beamt*innen betrifft, die hoheitliche Befugnisse im Namen des Staates wahrnehmen, oder bei sekundären Effekten, da in letzterem Szenario es nicht das Herzstück, sondern ein sekundärer oder akzessorischer Aspekt der Gewerkschaftsaktivitäten ist, der davon betroffen ist.
Anwendung dieser Prinzipien auf den vorliegenden Fall
Liegt ein Eingriff vor?
(113) Die strittigen Disziplinarmaßnahmen waren über die Bf verhängt worden, weil sie auf Streik gegangen waren. Sie setzten den Unterricht gemeinsam mit anderen für einige Stunden aus, um bessere Arbeitsbedingungen zu verlangen. Während dieser Zeit nahmen sie an von ihrer Gewerkschaft, der sie angehörten, eigens zu diesem Zweck organisierten Demonstrationen teil. Letztere repräsentierte auch die Interessen von Lehrer*innen, die als Vertragsbedienstete für den Staat tätig waren. Die umstrittenen Maßnahmen, insoweit sie hinsichtlich der Demonstration ergriffen wurden, betrafen die Versammlungsfreiheit der Bf. Allerdings wurden Letztere nicht wegen der Teilnahme an einer Demonstration außerhalb ihrer Arbeitszeit diszipliniert. Tatsächlich ging es um die Verhängung einer Sanktion wegen Mitwirkung an einer von ihrer Gewerkschaft organisierten Arbeitsniederlegung – und zwar, weil sie gegen das Beamt*innen aufgrund ihres Status auferlegte Verbot zu streiken verstoßen hatten. Die strittigen Maßnahmen griffen
daher in die Versammlungsfreiheit der Bf ein, von der die Gewerkschaftsfreiheit ein spezifischer Aspekt ist. Der GH wird daher den Fall lediglich unter diesem Blickwinkel prüfen.
War der Eingriff gerechtfertigt?
(114) Laut der Regierung seien die umstrittenen Maßnahmen unter Art 11 Abs 2 Satz 1 EMRK gerechtfertigt gewesen, da sie insb dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer gedient hätten. Sie erklärte auch, sich nicht in erster Linie auf Art 11 Abs 2 Satz 2 EMRK berufen zu wollen. Unter diesen Umständen hält es der GH nicht für notwendig, darüber zu entscheiden, ob die Bf als Lehrer*innen mit Beamtenstatus als »Mitglieder der Staatsverwaltung« iSv Art 11 Abs 2 in fine EMRK angesehen werden können – eine Frage, die der GH im Fall Vogt/DE offen gelassen hat. Er möchte jedoch daran erinnern, dass das Konzept der »Staatsverwaltung« eng ausgelegt werden sollte, und zwar im Lichte des Postens, der von der betroffenen Amtsperson bekleidet wird.
Zur gesetzlichen Grundlage
(116) [...] Die Disziplinarmaßnahmen basierten auf Art 33 Abs 5 GG, gelesen in Verbindung mit den [einschlägigen] Bestimmungen des Beamtenstatusgesetzes und den Beamtengesetzen der jeweiligen Bundesländer in ihrer Eigenschaft als Dienstgeber. Darin wurden allgemeine Pflichten von Beamt*innen und das Verbot, ohne entsprechende Erlaubnis von der Arbeit abwesend zu sein, festgelegt. Während weder das Grundgesetz noch einfache Gesetze ein explizites Streikverbot für Beamt*innen wie die Bf vorsehen, wurde Art 33 Abs 5 GG vom BVerfG für Dekaden einheitlich dahingehend ausgelegt, dass dieser Artikel ein solches Verbot für alle Beamt*innen vorsehe. Das Bundesverwaltungsgericht hat ebenso in stRsp die Ansicht vertreten, dass von Beamt*innen getätigte Streikmaßnahmen gegen die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gemäß Art 33 Abs 5 GG verstoßen.
(117) Es trifft zwar zu, dass im Anschluss an einschlägige Urteile des GH ein erstinstanzliches Verwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit des Streikverbots für Lehrer*innen mit Beamtenstatus anzweifelte, während ein anderes, und zwar im Verfahren betreffend den ViertBf, die Rechtmäßigkeit von wegen der Teilnahme an einem Streik verhängten Disziplinarmaßnahmen gegen Lehrer*innen mit Beamt*innenstatus in Frage stellte. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Bf im vorliegenden Fall vorhersehen konnten, dass ihre Teilnahme an Streiks in ihrer Eigenschaft als Lehrer*innen mit Beamt*innenstatus zu Disziplinarmaßnahmen führen konnte. In diesem Zusammenhang nimmt der GH Kenntnis von der vom Bundesverwaltungsgericht im Verfahren des ViertBf eingenommenen Position, wonach Art 33 Abs 5 GG nicht auf konventionsgemäße Art und Weise interpretiert werden könne und dass dieser Konflikt zwischen dem Grundgesetz und der Konvention vom [deutschen] Gesetzgeber gelöst werden müsse. In der Zwischenzeit habe das Streikverbot für Beamt*innen gemäß Art 33 Abs 5 GG gültig zu bleiben. Der umstrittene Eingriff war daher gesetzlich vorgesehen iSv Art 11 Abs 2 EMRK.
Zum gesetzlichen Ziel
(118) Der GH akzeptiert das Vorbringen der Regierung, wonach das Streikverbot für Beamt*innen generell das übergeordnete Ziel der Schaffung einer guten Verwalttung verfolgt habe, und zwar im Einklang mit der weitergehenden Verpflichtung des Staates, für eine verantwortungsbewusste Führung der Staatsgeschäfte zu sorgen [...]. Dadurch sei der Schutz der Bevölkerung, die Bereitstellung von Diensten von allgemeinem Interesse und der Schutz der in der Konvention verankerten Rechte durch effektive öffentliche Verwaltung in mannigfaltigen Situationen sichergestellt worden. Wie das BVerfG in seinem Urteil vom 12.6.2018 vermerkte, wurde das für Beamt*innen geltende Verbot zu streiken in Deutschland als wesentlich für die Aufrechterhaltung einer stabilen Verwaltung angesehen [...]. Das Berufsbeamtentum sei als Institution darauf ausgerichtet, ein stabiles Verwaltungssystem zu gewährleisten, das als ausgleichender Faktor gegenüber den den Staat gestaltenden politischen Kräften funktioniere. Im Lichte des Vorgesagten ist der GH der Ansicht, dass das Streikverbot für Beamt*innen zumindest eines der [...] in Art 11 Abs 2 EMRK aufgelisteten legitimen Ziele verfolgte. Im vorliegenden Fall dienten die über die Bf [...] verhängten Disziplinarmaßnahmen auch [dem Ziel] der Sicherstellung des Funktionierens des Schulsystems und damit der Gewährleistung des Rechts anderer zur von Art 7 Abs 1 GG und Art 2 1. ZP EMRK geschützten schulischen Erziehung.
Zur Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft
(120) [...] Der GH darf den generellen Kontext nicht außer Acht lassen, der im vorliegenden Fall darin besteht, dass für alle Beamt*innen in Deutschland ein allgemeines Streikverbot aufgrund ihres Status besteht. Grundsätzlich gilt, dass je überzeugender die Rechtfertigung für eine allgemeine Maßnahme ist, desto weniger Bedeutung der GH ihren Auswirkungen unter den besonderen Umständen schenken wird.
(121) Um zu einer Entscheidung zu gelangen, ob die gegen die Bf erlassenen Disziplinarmaßnahmen wegen Teilnahme an einem Streik in Zuwiderhandlung gegen das in Deutschland geltende Streikverbot für Beamt*innen »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war, muss der gesamte faktische und rechtliche Kontext in Betracht genommen werden, in dem die umstrittenen Maßnahmen ergriffen wurden.
(122) Der GH muss daher feststellen, ob die Auswirkungen, welche das Streikverbot für Beamt*innen auf die Bf [...] hatte, verhältnismäßig war und ob das Verbot ihrer Gewerkschaftsfreiheit jegliche Substanz beraubte oder nicht. [...] Zu diesem Zweck wird der GH folgende Aspekte des Falls berücksichtigen: (i) Natur und Ausmaß der Einschränkung auf das Recht zu streiken; (ii) die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um Beamt*innengewerkschaften und Beamt*innen selbst den Schutz von beruflichen Interessen zu ermöglichen; (iii) das vom Streikverbot für Beamt*innen verfolgte Ziel bzw die von diesem verfolgten Ziele; (iv) weitere vom Beamt*innenstatus umfasste Rechte; (v) die Möglichkeit, als staatliche(r) Schullehrer*in unter einem Vertragsbedienstetenstatus zu arbeiten inklusive eines Rechts zu streiken; und (vi) die Schwere der verhängten Disziplinarmaßnahmen.
Zur Natur und zum Ausmaß der Einschränkung auf das Recht zu streiken
(123) Das für Beamt*innen inklusive Lehrer*innen mit diesem Status geltende Streikverbot beruht auf ihrem Status und gilt absolut. Die Einschränkung des Rechts zu streiken für deutsche Beamt*innen einschließlich der Bf darf somit als schwerwiegend charakterisiert werden.
(124) Die Bf bezogen sich sehr auf eine Aussage des GH im Fall Enerji Yapı-Yol Sen/TR (Rz 32) – und zwar dahingehend, dass sich ein Verbot zu streiken nicht auf Beamt*innen im Allgemeinen erstrecken könne. Der GH stimmt darin überein, dass ein generelles Streikverbot für alle Beamt*innen spezielle Fragen unter der Konvention aufwerfen dürfte. In diesem Zusammenhang wiederholt er auch seine bereits getätigte Feststellung, wonach eine Bewertung dahingehend, ob ein Verbot zu streiken die Gewerkschaftsfreiheit jeglicher Substanz beraubt, von einer Reihe von Elementen abhänge.
(125) Die Bf bezogen sich auch auf internationales Arbeitsrecht. Der GH erkennt an, dass die Praxis der zuständigen Überwachungskörper, die unter den spezialisierten internationalen Instrumenten errichtet wurden, wie auch die Praxis anderer internationaler Spruchkörper stark zu der Ansicht tendieren, wonach Beamt*innen nicht per se von Streikmaßnahmen ausgeschlossen werden sollten. Dieser Trend spiegelt sich auch in der Praxis der Vertragsstaaten wider. Insoweit Konsens unter ihnen besteht, was das Prinzip angeht, dass Verbote oder Einschränkungen des Rechts zu streiken bei gewissen Kategorien von Beamt*innen oder Arbeitnehmer*innen im öffentlichen Sektor auferlegt werden können (namentlich solche, die hoheitliche Gewalt im Namen des Staats ausüben und/oder essenzielle Dienste anbieten) besteht auch hier eine Tendenz zur Vertretung der Ansicht, dass der Begriff der essenziellen Dienste, trotz einiger Auffassungsunterschiede hinsichtlich deren präziser Definition, im strikten Sinn zu verstehen ist, und nicht öffentliches Unterrichtswesen einschließt. Der GH schließt daraus, dass der vom belangten Staat gewählte Ansatz, nämlich Streiks durch alle Beamt*innen zu verbieten (und zwar inklusive Lehrer*innen mit diesem Status), mit dem aus spezialisierten internationalen Instrumenten hervorgehenden Trend in der Auslegung durch die zuständigen Überwachungskörper oder mit der Praxis der Vertragsstaaten nicht im Einklang steht.
(126) Die unter den spezialisierten internationalen Instrumenten errichteten zuständigen Überwachungskörper – zu nennen sind insb der Sachverständigenausschuss für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen und der Europäische Ausschuss für soziale Rechte in ihrer Eigenschaft als Kontrollorgane für die [Einhaltung der] ILO-Standards bzw der Europäischen Sozialcharta [...] – haben wiederholt das statusbasierte Verbot von Streiks durch Beamt*innen in Deutschland (einschließlich insb Lehrer*innen mit diesem Status betreffend) kritisiert. Ohne die von diesen Überwachungskörpern durchgeführte Analyse in Frage zu stellen, was die Bewertung angeht, ob der belangte Staat sich an internationale Instrumente hielt [...], möchte der GH in Erinnerung rufen, dass es seine Aufgabe ist, darüber zu entscheiden, ob das einschlägige innerstaatliche Recht in der Art und Weise, wie es auf die Bf angewendet wurde, dem von Art 11 Abs 2 EMRK geforderten Verhältnismäßigkeiterfordernis Genüge tat, da seine Rsp auf
die Konvention beschränkt ist.
Zu den Maßnahmen, um es Beamt*innengewerk-schaften und Beamt*innen zu ermöglichen, ihre beruflichen Interessen zu verteidigen
(128) Der GH erinnert daran, dass das Recht zu streiken ein bedeutendes Instrument für eine Gewerkschaft darstellt, um die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder zu schützen. Im Gegenzug soll es auch Mitgliedern einer Gewerkschaft möglich sein, ihre Interessen zu verteidigen. Während Streikmaßnahmen ein bedeutender Teil von Gewerkschaftsaktivitäten sind, möchte der GH daran erinnern, dass es sich dabei nicht um das einzige Mittel für Gewerkschaften und ihre Mitglieder zum Schutz von relevanten beruflichen Interessen handelt. Die Vertragsstaaten haben im Prinzip freie Hand bei der Entscheidung, welche Maßnahmen sie ergreifen wollen, um die Befolgung von Art 11 EMRK sicherzustellen, solange sie Sorge dafür tragen, dass die Gewerkschaftsfreiheit nicht ihrer Substanz als Folge irgendwelcher auferlegter Einschränkungen beraubt wird. Der GH muss daher untersuchen, ob deutschen Beamt*innengewerkschaften und Beamt*innen andere Rechte garantiert werden, um sie in die Lage zu versetzen, die relevanten beruflichen
Interessen effektiv zu schützen (vgl oben Rz 109).
Das Recht von Beamt*innen, eine Gewerkschaft zu gründen und ihr beizutreten
(129) Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Beamt*innen in Deutschland das Recht haben, eine Gewerkschaft zu gründen und ihr beizutreten, um ihre beruflichen Interessen zu verteidigen. Die Bf haben von diesem Recht auch Gebrauch gemacht. Sie sind Mitglieder der GEW. Die größte Beamt*innengewerkschaft, der DBB Beamtenbund und Tarifunion, repräsentiert [...] allein 50 % aller Beamt*innen. Es ist beachtenswert, dass in Deutschland unter Beamt*innen die Mitgliedschaft bei Gewerkschaften sehr hoch und beträchtlich höher ist als die durchschnittliche allgemeine Gewerkschaftsmitgliedsrate in Deutschland, die 16,5 % beträgt.
Die Gewerkschaften garantierten Mitwirkungsrechte zum Schutz der beruflichen Interessen von Beamt*innen
(130) In Deutschland werden Arbeitsbedingungen von Beamt*innen einschließlich der Besoldung von einfachem Gesetz im Lichte der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums und nicht über zwischen Gewerkschaften und dem staatlichen Dienstgeber geschlossene Kollektivvereinbarungen geregelt. Den Dachverbänden der Beamt*innengewerkschaften steht ein gesetzmäßiges Mitwirkungsrecht zu, wenn rechtliche Bestimmungen für das Beamtentum ausgearbeitet werden. Die Mitwirkung der Dachverbände bei der Vorbereitung neuer Gesetze trägt der Absicht Rechnung, die Rechte und Interessen von Beamt*innen bei der Ausarbeitung von Bestimmungen betreffend Beamt*innen zu wahren und auf diese Weise einen Ausgleich für das Fehlen eines Rechts auf Führung von Kollektivvertragsverhandlungen sowie die Existenz eines Streikverbots zu finden. Die auf die Bf angewendeten Beamt*innengesetze der Bundesländer sehen vor, dass die Dachverbände über jedweden Gesetzesentwurf informiert werden müssen und ihnen die Möglichkeit eingeräumt
werden muss, innerhalb einer angemessenen Frist Stellung dazu zu nehmen, bevor der Gesetzesentwurf dem Parlament vorgelegt wird. Wenn die Regierungen der Bundesländer den von den Dachverbänden in den jeweiligen Gesetzesentwürfen unterbreiteten Vorschlägen nicht Folge leisten, müssen sie Gründe angeben, warum sie davon Abstand nahmen und diese den Landesparlamenten zur Kenntnis bringen [...].
(131) Dieses Mitwirkungsrecht ermöglicht es den Beamt*innengewerkschaften, den Arbeitgeber davon zu überzeugen, sich anzuhören, was sie in Vertretung ihrer Mitglieder vorzubringen haben. [...] Kein anderer Vertragsstaat gab [im Zuge der vom GH angestellten rechtsvergleichenden Analyse] bekannt, dass bei ihm vergleichbare Mitwirkungsrechte von Gewerkschaften beim Prozess der Festlegung von Arbeitsbedingungen als Kompensationsmittel für ein Streikverbot für betroffene Arbeiter*innen existieren würden. Dem GH ist bewusst, dass dieses Recht von Gewerkschaften, nämlich am Entwurf von gesetzlichen Bestimmungen für das Beamtentum mitzuwirken, nicht, wie von den Bf behauptet, ein Recht auf Mitbestimmung über zukünftige Gesetze inkludiert. Er hat übrigens das Recht auf Führung von Kollektivvertragsverhandlungen zu keiner Zeit als Recht auf Erzielung eines Kollektivvertragsabkommens ausgelegt. Auch impliziert das Recht zu streiken kein Recht auf Durchsetzung der damit verfolgten Absichten.
(132) Abgesehen vom gesetzmäßigen Recht von Gewerkschaften auf Mitwirkung, wenn es um die Ausarbeitung rechtlicher Bestimmungen für das Beamtentum geht, sehen die relevanten Bestimmungen der Beamt*innengesetze der Bundesländer auch vor, dass regelmäßige Treffen zwischen dem zuständigen Ministerium und den Dachverbänden stattfinden sollen, um allgemeine und grundlegende Fragen des Beamtenrechts zu diskutieren. [...]
Zum individuellen Recht jeder Beamtin/jedes Beamten, »ausreichende Daseinsvorsorge« zu erhalten.
(133) Zudem hat das BVerfG im Detail erläutert, dass das Alimentationsprinzip, ein althergebrachtes Prinzip des deutschen Berufsbeamtentums, Beamt*innen ein individuelles und durchsetzbares verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf »adäquate Daseinsvorsorge« garantiert, das unter anderem der [hierarchischen] Stellung der Beamtin/des Beamten und ihren/seinen Verantwortlichkeiten zu entsprechen hat und mit den Entwicklungen der vorherrschenden ökonomischen und finanziellen Situation und dem allgemeinen Lebensstandard Schritt halten muss. Der Gesetzgeber ist dazu aufgerufen, die Entlohnung von Beamt*innen regelmäßig anzupassen, um dem Alimentationsprinzip Rechnung zu tragen. Das BVerfG selbst hat detaillierte und spezifische Standards zur Einschätzung der Angemessenheit der Entlohnung von Beamt*innen festgelegt. Diese beinhalten eine Pflicht, den in Kollektivvertragsabkommen für Vertragsbedienstete im öffentlichen Sektor erzielten Resultaten Beachtung zu schenken. [...] Schlussendlich ist es das Nettoeinkommen der Beamtin/des Beamten, welches entscheidend für die Beurteilung der Angemessenheit der Entlohnung ist und es der Beamtin/dem Beamten und ihrer/seiner Familie ermöglichen soll, einen Lebensstandard zu genießen, welcher dem innewohnenden Amt angemessen entspricht und über die Befriedigung von Grundbedürfnissen hinausgeht.
(134) Während nun Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung der Angemessenheit der Entlohnung von Beamt*innen von diesen selbst angestrengt werden müssen, steht es ihren Gewerkschaften frei, derartige Verfahren zu unterstützen. Laut dem unbestritten gebliebenen Vorbringen der Regierung werden sie vom BVerfG [regelmäßig] dazu aufgefordert, in den relevanten Fällen sachverständige Unterlagen vorzulegen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das BVerfG in mehreren Fällen zur Ansicht gelangte, dass die Entlohnung von Beamt*innen gegen Art 33 Abs 5 GG verstoßen habe [...], vertritt der GH die Ansicht, dass Beamt*innen effektive Mittel gewährt werden, mit denen sie über die Gerichte ihr subjektives verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf »ausreichende Daseinsvorsorge« durchsetzen können. Somit stehen ihnen effektive alternative Mittel zur Verteidigung ihrer Interessen hinsichtlich einer grundlegenden Arbeitsvoraussetzung zur Verfügung und sie können in diesem Zusammenhang auch Unterstützung von
ihren Gewerkschaften erwarten.
Zu den Repräsentations- und Mitbestimmungsrechten
(135) Zu guter Letzt erfordert das nationale Recht die Gewährleistung der Repräsentation von Beamt*innen. So haben Letztere ein Recht auf Vertretung durch Personalräte. Diese sind aufgrund des Mitbestimmungsrechts dazu berechtigt, an personellen, sozialen und organisatorischen Angelegenheiten unter anderem Beamt*innen betreffend mitzuwirken und können dienstliche Vereinbarungen mit der relevanten Abteilung schließen. Zwar sind diese Rechte nicht gewerkschaftsbezogen, jedoch müssen sie nichtsdestoweniger berücksichtigt werden, wenn es um die Bewertung des Streikverbots für Beamt*innen geht, da sie es diesen ermöglichen, am Regulierungsprozess bezüglich einiger ihrer Arbeitsbedingungen mitzuwirken. Darüber hinaus haben sich Dachverbände von Gewerkschaftsorganisationen und der Staat in gewissen Bundesländern auf die allgemeine Regulierung von Angelegenheiten geeinigt, die einer Mitbestimmung unterliegen.
Zu den vom Streikverbot verfolgten Zielen
(136) Der GH akzeptiert das Vorbringen der Regierung, wonach das Streikverbot für Beamt*innen, wenn es mit mehreren ergänzenden, rechtlich durchsetzbaren Grundrechten kombiniert wird, das allumfassende Ziel der Versorgung mit einer guten Verwaltung verfolgt. Dieses wechselseitige System [...] von Rechten garantiert die effektive Handhabung von dem Beamtentum übertragenen Funktionen und gewährleistet damit den Schutz der Bevölkerung, die Bereitstellung von im allgemeinen Interesse stehenden Diensten und den Schutz von in der Konvention verankerten Rechten im Wege effektiver öffentlicher Verwaltung in mannigfachen Situationen. In diesem Zusammenhang möchte der GH mehr allgemein anmerken, dass Einschränkungen des Rechts zu streiken den Schutz der Rechte anderer verfolgen können, die nicht auf solche auf Seiten des Arbeitgebers in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten beschränkt sind und der Erfüllung der positiven Verpflichtungen eines Vertragsstaats gemäß seinem Verfassungsrecht, der Konvention und anderen
Menschenrechtsverträgen dienen können.
(137) Im Fall der Bf verfolgte die umstrittene Einschränkung das zuvor erwähnte Ziel der Bereitstellung einer guten Verwaltung. Die Disziplinarmaßnahmen zielten auf die andauernde Gewährleistung von Unterricht an staatlichen Schulen und die Sicherstellung des Rechts anderer auf Unterricht iSv Art 7 Abs 1 GG, Art 2 1. ZP EMRK und anderer internationaler Instrumente ab. Der GH möchte unterstreichen, dass das Recht auf Erziehung und Unterricht, welches unabdingbar für die Förderung der Menschenrechte ist, in einer demokratischen Gesellschaft eine fundamentale Rolle spielt. So ist Grundschul- und höhere Schulbildung von grundlegender Bedeutung für die persönliche Entwicklung jedes Kindes und für zukünftigen Erfolg [im Leben]. [...]
Zu weiteren vom Beamtenstatus umfassten Rechten
(138) Neben Beamt*innen und ihren Gewerkschaften garantierten Rechten zur Verteidigung beruflicher Interessen wird Beamt*innen vom innerstaatlichen Recht eine Reihe von Rechten basierend auf ihrem Status gewährleistet. Dazu gehören ein Recht auf lebenslange Beschäftigung und ein Anspruch auf ausreichende Daseinsvorsorge für das ganze Leben – und zwar auch für den Rückzug aus dem aktiven Dienst und den Krankheitsfall. Laut der DBB Beamtenbund und Tarifunion resultiert in Deutschland der Beamt*innenstatus in ein höheres Nettoeinkommen im Vergleich zu jenem von im öffentlichen Sektor arbeitenden Vertragsbediensteten wie auch in besseren Bedingungen betreffend Gesundheitsvorsorge und was das Pensionssystem betrifft. In Deutschland ist der Beamt*innenstatus in vielerlei Hinsicht vorteilhafter als der Vertragsbedienstetenstatus – und zwar sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch was daraus resultierende materielle Konditionen betrifft [...]. In diesem Zusammenhang möchte der GH auch anmerken, dass die Beschäftigungsbedingungen von staatlichen Schullehrer*innen in Deutschland, was Gehalt und Unterrichtsstunden angeht, günstiger im Vergleich zu solchen in den meisten anderen Vertragsstaaten sind.
Zur Möglichkeit, als staatliche(r) Schullehrer*in mit Vertragsbedienstetenstatus, der ein Recht zu streiken inkludiert, zu arbeiten.
(139) Der GH möchte weiters festhalten, dass in Deutschland kein Blanko-Streikverbot für den öffentlichen Dienst besteht, da Vertragsbedienstete, die rund 62 % des gesamten im öffentlichen Dienst arbeitenden Personals ausmachen, ein Recht zu streiken zukommt. Staatliche Schullehrer*innen in den Bundesländern, wo die Bf arbeiten bzw gearbeitet haben, können im Prinzip entweder als Beamt*innen oder als Vertragsbedienstete angestellt werden. Die Bf waren sich der Zweigeteiltheit dieses Beschäftigungsstatus [...] sehr wohl bewusst. Die Streiks, an denen sie teilnahmen, wurden teilweise zur Unterstützung von Lehrer*innen mit Vertragsbedienstetenstatus abgehalten. Die von den Bf beim GH eingebrachte Diskriminierungsrüge basiert nun auf der Tatsache, dass Lehrer*innen mit Vertragsbedienstetenstatus wegen ihrer Teilnahme am selben Streik nicht bestraft worden seien.
(140) Zwischen den Parteien ist strittig, ob den Bf die Möglichkeit offen gestanden wäre, als Bundeslehrer*in mit öffentlichem Vertragsbedienstetenstatus zu arbeiten. Was die Wahl des Beschäftigungsstatus zum Zeitpunkt ihrer Anstellung angeht (die Bf behaupten, ihnen wäre keine solche Wahl offen gestanden), nimmt der GH vom Vorbringen der Regierung Kenntnis, wonach die Zweit- und der DrittBf von Anfang an ihre Bewerbung auf eine Bestellung als Beamtin/Beamter eingegrenzt hatten. [...] Die ErstBf hatte sogar bereits früher als Lehrerin mit öffentlichem Vertragsbedienstetenstatus gearbeitet und erlangte dann Beamtinnenstatus, nachdem sie ausdrücklich darum angesucht hatte. Was die Möglichkeit eines nachfolgenden Wechsels vom Beamt*innenstatus zum öffentlichen Vertragsbedienstetenstatus betrifft, stimmten beide Parteien darin überein, dass – technisch gesehen – die Beamtin bzw der Beamte um ihre bzw seine Entlassung aus dem Dienst hätten ansuchen müssen, um dann als öffentliche(r) Vertragsbedienstete(r) wiederangestellt zu werden. Während die Bf argumentierten, dass keine Garantie bestehe, dass entlassene Beamt*innen nachfolgend eine Wiederanstellung als Vertragsbedienstete erlangen könnten, brachte die Regierung vor, dass ein solcher Statuswechsel – mit nachfolgender Bestellung als Vertragsbedienstete(r) – in der Praxis ausverhandelt würde, bevor eine Beamtin bzw ein Beamter um ihre bzw seine Entlassung ansuchte. Die Behauptung der Bf, dass ein Antrag auf Entlassung aus dem Dienst die Beamtin/den Beamten der Gefahr der Arbeitslosigkeit aussetze, sei somit nicht korrekt. Laut der Regierung sei ein solcher Wechsel im Beschäftigungsstatus gängige Praxis und in allen Bundesländern möglich, somit auch in den Fällen der Bf. Die Bf haben auch nicht dargelegt, sich mit ihren Arbeitgebern in Verbindung gesetzt zu haben, was einen potenziellen Wechsel ihres Beschäftigungsstatus [...] betraf.
(141) Die Bf bezogen sich auf die existierende Möglichkeit, als staatliche(r) Schullehrer(in) mit Vertragsbedienstetenstatus und einem dazugehörigen Streikrecht zu arbeiten, als Argument zur Untermauerung ihres Vorbringens, wonach es keine Hindernisse dafür gebe, es Lehrer*innen mit Beamt*innenstatus zu erlauben zu streiken. Nun trifft es zu, dass Lehrer*innen mit Vertragsbedienstetenstatus mit damit verbundenem Recht zu streiken einen gewissen Prozentsatz der in den Bundesländern beschäftigten Staatsschullehrer*innen ausmachen, in denen die Bf ihrer Arbeit nachgingen – und zwar zwischen 8,5 und 20 % in den Jahren 2020/2021 [...] und zwischen 20 und 25 % landesweit [...]. Folglich konnte es [nach Ansicht des GH] zu Störungen des Unterrichtsbetriebs aufgrund von streikenden Lehrer*innen kommen, was dann auch [im Fall der Bf] tatsächlich geschah. Dies wirft die Frage auf, ob das Erfordernis der Gewährleistung eines Minimalunterrichtsbetriebs an staatlichen Schulen oder ein eingeschränktes Recht von Lehrer*innen mit Beamt*innenstatus mit gleichzeitigem Recht in Streik zu treten, welches gewissen Anforderungen zu genügen hätte, ins Auge gefasst hätte werden können – und zwar als weniger einschränkende Maßnahme, wie es ein generelles Streikverbot für Beamt*innen gewesen wäre. Die Bf legen nun dar, unbestrittenermaßen sei durch ihre Teilnahme an den Streiks kein Schaden entstanden, da auf internem Wege für Ersatz gesorgt worden sei und generell jene Lehrer*innen, denen ein Streikrecht zugekommen sei, auf das Recht auf Erziehung und Unterricht Rücksicht genommen hätten. Darüber hinaus würden kurze Unterbrechungen der Arbeit genügen, um den Kollektivvertragsverhandlungsprozess voranzubringen.
(142) Beim Streikverbot für Beamt*innen handelt es sich laut Interpretation des BVerfG um eine generelle, im Grundgesetz gegründete Maßnahme, die einen seit lange bestehenden demokratischen Konsens in Deutschland widerspiegelt wie auch das Ergebnis der Abwägung und des Ausbalancierens von verschiedenen, potenziell miteinander konkurrierenden Interessen. Was die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme angeht, stellt sich für den GH nicht die zentrale Frage, ob weniger einschränkende Regelungen getroffen hätten werden können oder ob der Staat tatsächlich beweisen könnte, dass ohne das umstrittene Verbot das Ziel der Versorgung mit anhaltendem Unterricht nicht erreicht werden könnte. Vielmehr geht es um die Frage, ob der Verfassungsgesetzgeber innerhalb des ihm zugestandenen Ermessensspielraums handelte, indem er [beim Streikrecht] keine Ausnahme für staatliche Schullehrer*innen mit Beamt*innenstatus machte. Von diesem Kontext her gesehen stellt daher die den Bf offen stehende Möglichkeit, als staatliche Schullehrer*innen mit Vertragsbedienstetenstatus, welcher das Recht zu streiken miteinschließt, einen Faktor dar, der bei der Beurteilung des Verhältnismäßigkeit des den Bf auferlegten Streikverbots in ihrer Eigenschaft als vom Staat angestellte Schullehrer*innen mit Beamt*innenstatus berücksichtigt werden sollte [...]. Indem der belangte Staat für eine Zweiteilung des Beschäftigungsstatus für staatliche Schullehrer*innen sorgte, während er den mit einem Streikverbot einhergehenden Status in der Praxis beträchtlich attraktiver machte [...], reduzierte er die potenziellen Auswirkungen von Streiks auf staatliche Schulen entscheidend.
Zum Schweregrad der Disziplinarmaßnahmen
(143) Obwohl die Hauptfrage im gegenständlichen Fall unvermeidlicherweise auf die Auswirkungen des Streikverbots und eher nicht auf die Schwere der wegen Nichtbeachtung dieses Verbots verhängten Sanktionen abzielt, ist seitens des GH dennoch festzuhalten, dass der ErstBf ein Verweis erteilt wurde, während der ZweitBf und dem DrittBf eine Geldstrafe von jeweils € 100,– auferlegt wurde. Über die ViertBf wurde ursprünglich eine Geldstrafe iHv € 1.500,– verhängt, die dann im Berufungsweg auf € 300,– herabgesetzt wurde. Die Disziplinarsanktion wurde letztlich nicht vollstreckt, da sie ihre Gültigkeit verloren hatte, nachdem sich die ViertBf aus Eigenem dazu entschieden hatte, den öffentlichen Dienst zu quittieren. Die über die Bf verhängten Disziplinarmaßnahmen waren daher nicht schwer [...].
Gesamtbewertung
(144) Mit Rücksicht auf das Vorgesagte erinnert der GH daran, dass die strittigen Einschränkungen [...] vom Charakter her schwer waren. Während jedoch das Recht zu streiken ein bedeutendes Element der Gewerkschaftsfreiheit ist, sind Streikmaßnahmen nicht das einzige Mittel, mit dem Gewerkschaften und ihre Mitglieder die relevanten beruflichen Interessen schützen können. Die Vertragsstaaten sind im Prinzip frei, darüber zu entscheiden, welche Maßnahmen sie ergreifen wollen, um die Befolgung von Art 11 EMRK sicherzustellen, solange sie dafür Sorge tragen, dass die Gewerkschaftsfreiheit nicht ihrer Substanz als Folge jedweder Einschränkungen beraubt wird (siehe oben Rz 128). In diesem Zusammenhang möchte der GH hervorheben, dass im belangten Staat eine Vielzahl von unterschiedlichen institutionellen Sicherheiten geschaffen wurde, um es Beamt*innen und ihren Gewerkschaften zu ermöglichen, berufliche Interessen zu verteidigen (siehe oben Rz 128–135). Wie oben dargelegt, wird Beamt*innengewerkschaften ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Teilnahme an der Ausarbeitung von gesetzlichen Bestimmungen für Beamt*innen eingeräumt. Letzteren wird auch ein subjektives verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf eine »ausreichende Daseinsvorsorge« garantiert, welches sie vor den Gerichten einklagen können. Der GH ist der Ansicht, dass diese Maßnahmen, als Ganzes gesehen, es Beamt*innengewerkschaften und Beamt*innen ermöglichen, ihre relevanten beruflichen Interessen effektiv zu verteidigen. Die hohe Gewerkschaftszugehörigkeitsrate unter deutschen Beamt*innen illustriert die praktische Effektivität von Gewerkschaftsrechten, insoweit sie Beamt*innen gewährleistet werden. In diesem Zusammenhang soll darauf hingewiesen werden, dass der DBB Beamtenbund und Tarifunion – die größte Beamt*innengewerkschaft, die rund 50 % aller Beamt*innen repräsentiert – den GH darüber informierte, dass Beamt*innen bereits alles innehätten, was durch Streikmaßnahmen erzielt werden könnte, und zwar aufgrund ihrer verfassungsmäßigen Rechte, die mit ihrem Status einhergingen, und dagegen sprechen würden, Beamt*innen ein Streikrecht zu gewähren.
(145) Darüber hinaus stellt [...] das umstrittene Streikverbot für Beamt*innen eine generelle Maßnahme dar, welche die Abwägung und Ausbalancierung von verschiedenen, potenziell miteinander konkurrierenden verfassungsrechtlichen Interessen widerspiegelt.
(146) Eingedenk des Prinzips, dass je überzeugender die Rechtfertigung einer generellen Maßnahme ist, desto weniger Bedeutung deren Auswirkungen in einem bestimmten Fall zu schenken sind, ist der GH der Ansicht, dass die Auswirkungen des Streikverbots im gegenständlichen Fall die zuvor erwähnte solide und überzeugende Rechtfertigung für die mit der generellen Maßnahme einhergehenden Einschränkungen [...] nicht überwogen, was sich auch in der umfassenden Bewertung durch das BVerfG widerspiegelt. Insb mit Blick auf die Gesamtheit der Maßnahmen, mit denen es Beamt*innengewerkschaften und Beamt*innen ermöglicht wurde, effektiv die relevanten beruflichen Interessen zu verteidigen, macht das Streikverbot die Gewerkschaftsfreiheit von Beamt*innen nicht substanzlos. Das genannte Verbot betrifft daher nicht ein essenzielles Element der von Art 11 EMRK garantierten Gewerkschaftsfreiheit von Beamt*innen. Zudem waren die Disziplinarmaßnahmen gegen die Bf nicht schwer. Sie verfolgten insb das bedeutende Ziel der Gewährleistung des Schutzes von in der Konvention verankerten Rechten durch effektive öffentliche Verwaltung (in diesem spezifischen Fall das Recht anderer auf Erziehung und Unterricht). Die innerstaatlichen Gerichte führten relevante und ausreichende Gründe zur Rechtfertigung solcher Maßnahmen an und wogen die miteinander konkurrierenden Interessen in einer sorgfältig durchgeführten Abwägung ab, wobei sie während des gesamten innerstaatlichen Verfahrens versuchten, der Rsp des GH Rechnung zu tragen. Die materiellen Beschäftigungsbedingungen für Lehrer*innen mit Beamt*innenstatus in Deutschland sprechen für die Verhältnismäßigkeit der umstrittenen Maßnahmen im vorliegenden Fall. Dies trifft auch auf die Möglichkeit zu, als staatliche(r) Schullehrer*in unter öffentlichem Vertragsbedienstetenstatus mit dazugehörigem Streikrecht zu arbeiten (siehe oben Rz 139–142).
(147) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass unter den Umständen des vorliegenden Falls die gegen die Bf ergriffenen Maßnahmen nicht den dem belangten Staat zugestandenen Ermessensspielraum überschritten und sich als verhältnismäßig gegenüber den bedeutenden legitimen Zielen erwiesen. Folglich hat keine Verletzung von Art 11 EMRK stattgefunden (16:1 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Ravarani; abweichendes Sondervotum von Richter Serghides).
Zur behaupteten Verletzung von Art 14 iVm Art 11 EMRK
(148) Die Bf beklagen sich darüber, dass sie als Lehrer*innen mit Beamt*innenstatus, gegen die Disziplinarmaßnahmen im Anschluss an ihrer Teilnahme an einem Streik ergriffen worden seien, eine Diskriminierung beim Genuss ihrer Konventionsrechte erlitten hätten – und zwar im Vergleich zu im Privatrechtsregime beschäftigten Lehrer*innen, die für die Teilnahme nicht diszipliniert wurden. [...]
(149) Laut der Regierung seien die Beschwerden der Bf wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs iSv Art 35 Abs 1 EMRK für unzulässig zu erklären. [...].
(152) Seitens des GH ist dazu zu vermerken, dass alle vier Bf vor dem BVerfG rechtlich vertreten waren und sie alle separate Verfassungsbeschwerden erhoben hatten. [...] Drei von vier Bf behaupteten vor dem GH zu keiner Zeit, dass sie auch nur irgendein Vorbringen bezüglich einer behaupteten Diskriminierung im Vergleich zu in einem Privatrechtsregime beschäftigten Personen erstattet hatten, obwohl der GH sie ausdrücklich darum ersucht hatte, auf die relevanten Teile ihrer Verfassungsbeschwerden hinzuweisen. Stattdessen bezogen sich die Bf auf [zwei] [...] Anmerkungen (Anm: Diese betrafen das Streikverbot und rügten die vom Staat vorgenommene Differenzierung zwischen öffentlichen Bediensteten, denen ein Streikrecht zustehe, und anderen nicht, als Art 11 Abs 2 EMRK zuwiderlaufend.). in der Verfassungsbeschwerde des DrittBf. [...]
(153) Der GH ist der Ansicht, dass die Aufnahme [...] der zwei Anmerkungen im Vorbringen des DrittBf – die charakterisiert werden von sehr umfassenden und detaillierten Unterbreitungen hinsichtlich einer behaupteten Verletzung von Art 11 EMRK – nicht als ausreichend substantiierte Diskriminierungsbeschwerde angesehen werden kann, die berechtigterweise zu der Erwartung führen konnte, dass sich das BVerfG auf eine solche Beschwerde einlassen werde. Es bestand kein überzeugendes Argument, warum der [Dritt-]Bf seiner Ansicht nach ein Recht zu streiken basierend auf der Tatsache hatte, dass er ansonsten gegenüber öffentlichen Vertragsbediensteten diskriminiert werde. Die gesamte Verfassungsbeschwerde des DrittBf war auf eine behauptete Verletzung von Art 9 Abs 3 GG und Art 11 EMRK angelegt, worauf das BVerfG sehr detailliert antwortete. Es würde dem Zweck der Instanzenzugserschöpfungsregel gegenlaufen, wenn die – übrigens am Rande erwähnten – zwei Anmerkungen als ausreichend hinsichtlich der Erschöpfung des Instanzenzugs, was Art 14 EMRK angeht, gewertet würden, noch dazu wo das Vorbringen zu Art 11 EMRK extrem ausführlich war. Wie aus der Art und Weise der Abfassung der Verfassungsbeschwerde des DrittBf erwartet werden konnte, widmete sich das BVerfG ausschließlich und ausführlich der behaupteten Verletzung von Art 11 EMRK, erörterte aber nicht Art 14 EMRK oder Art 3 GG. Es stünde somit nicht im Einklang mit dem Zweck der Instanzenzugserschöpfungsregel, wenn ein von den Bf auf innerstaatlicher Ebene unter Art 11 EMRK vorgebrachter Fall, der vom BVerfG im Hinblick auf diese Konventionsbestimmung sorgfältig geprüft wurde, nun zum ersten Mal durch den GH unter Art 14 EMRK iVm Art 11 EMRK geprüft würde. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Beurteilung durch die innerstaatlichen Gerichte besonders wichtig ist, was Beschwerden wegen Diskriminierung angeht, da sich dabei komplexe Fragen von Vergleichen und Rechtfertigungen stellen.
(154) Der Einrede der Regierung muss daher stattgegeben werden. Dieser Teil der Beschwerde muss gemäß Art 35 Abs 1 und Abs 4 EMRK wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von
Art 6 Abs 1 EMRK
(155) Die Bf behaupten [...], das BVerfG habe es verabsäumt, ihr grundlegendes Vorbringen zu prüfen, wonach vom internationalen Arbeitsrecht ein Streikrecht für Beamt*innen anerkannt werde.
(157) Der GH erinnert daran, dass – während Art 6 Abs 1 EMRK die Gerichte dazu verpflichtet, ihre Entscheidungen zu begründen – dies nicht derart verstanden werden kann, dass sie auf jedes Vorbringen eine detaillierte Antwort geben müssen. Das BVerfG erörterte die Rsp des GH zur Gewerkschaftsfreiheit ausführlich und erläuterte auch, dass der GH bei der Auslegung von Art 11 EMRK andere internationale Instrumente berücksichtigt. Der GH ist daher der Ansicht, dass das BVerfG die Frage von Deutschlands völkerrechtlichen Verpflichtungen hinsichtlich eines möglichen Streikrechts einschließlich von Verpflichtungen nach internationalem Arbeitsrecht ausreichend behandelte. Letzteres führte auch spezifische und explizite Gründe für die Zurückweisung der Behauptung der Bf an, es stünde ihnen ein Recht zu streiken zu.
(158) Diese Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK und muss gemäß Art 35 Abs 4 EMRK für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
S./DE, 5.7.1984, 10365/83 (ZE)
Vogt/DE, 26.9.1995, 17851/91 = NL 1995, 188
Demir und Baykara/TR, 12.11.2008, 34503/97 (GK) = NL 2008, 330
Enerji Yapı-Yol Sen/TR, 21.4.2009, 68959/01
National Union of Rail, Maritime and Transport Workers/GB, 8.4.2014, 31045/10 = NLMR 2014, 139
Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.)/ES, 21.4.2015, 45892/09
Manole und »Les cultivateurs directs de Roumanie/RO, 16.6.2015, 46551/06 = NLMR 2015, 239
Barış ua/TR, 14.12.2021, 66828/16 und 31 weitere Bsw
Beamtenbund und Tarifunion ua/DE, 5.7.2022, 815/18 ua = NLMR 2022, 347
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.12.2023, Bsw. 59433/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 587) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.