JudikaturAUSL EGMR

Bsw40119/21 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. Dezember 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache M. L. gg Polen, Urteil vom 14.12.2023, Bsw. 40119/21.

Spruch

Art 3, 8 EMRK - Aufhebung einer Ausnahme vom Verbot des Schwangerschaftsabbruchs durch das Verfassungsgericht.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 8 EMRK (mehrheitlich).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 3 EMRK (mehrheitlich).

Verletzung von Art 8 EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 15.000,– für immateriellen Schaden; € 1.004,– für materiellen Schaden (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf unterzog sich am 20.1.2021 in der 15. Schwangerschaftswoche einer Pränataldiagnostik. Dabei wurde bei ihrem ungeborenen Kind die genetische Abweichung Trisomie 21 festgestellt. Am 25.1. gelangte ein Professor für medizinische Genetik zur selben Diagnose. Drei Ärzte des Warschauer Bielański-Krankenhauses bestätigten am 26.1., dass die Voraussetzungen für einen Schwangerschaftsabbruch gemäß § 4a Abs 1 Z 2 des Familienplanungsgesetzes 1993 erfüllt seien. (Anm: Gemäß § 4a Abs 1 Z 2 Familienplanungsgesetz durfte ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden, wenn »pränatale Tests oder andere medizinische Verfahren ein hohes Risiko dafür ergeben, dass der Fötus schwer und irreversibel geschädigt ist oder an einer unheilbaren, lebensbedrohlichen Krankheit leidet«.). Daraufhin wurde der Eingriff für den 28.1.2021 angesetzt.

Am folgenden Tag trat jedoch ein Urteil des Verfassungsgerichts vom 22.10.2020 in Kraft (K 1/20), mit dem § 4a Abs 1 Z 2 des Familienplanungsgesetzes wegen Verstoßes gegen das Recht auf Leben des Fötus und gegen die Menschenwürde als verfassungswidrig aufgehoben wurde.

Daraufhin erfuhr die Bf von ihrer behandelnden Ärztin, dass sie sich aufgrund dieses Urteils weder im Bielański-Krankenhaus noch in irgendeiner anderen medizinischen Einrichtung in Polen einem Schwangerschaftsabbruch unterziehen könne. Die Bf reiste sofort in die Niederlande, wo ihre Schwangerschaft am 29.1.2021 in einer Privatklinik abgebrochen wurde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behauptete eine Verletzung von Art 3 (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art 6 Abs 1 (hier: Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht) und von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).

Anzuwendende Bestimmungen

(74) Nach Ansicht des GH sind die Beschwerdevorbringen [...] nur unter Art 3 und Art 8 EMRK zu prüfen.

Zulässigkeit

(75) Die Regierung erhob mehrere Einreden der Unzulässigkeit. Sie brachte vor, die Beschwerde sei ratione materiae und ratione personae unvereinbar mit der Konvention, die Bf habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft und das Beschwerderecht missbraucht.

Anwendbarkeit von Art 3 und Art 8 EMRK

Anwendbarkeit von Art 3 EMRK

(82) Nach stRsp muss eine Misshandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich von Art 3 EMRK zu fallen. [...]

(84) Der GH anerkennt, dass es im gegenständlichen Fall psychisch belastend war, für einen Schwangerschaftsabbruch ins Ausland zu reisen. Ungeachtet der von der Bf erlittenen seelischen Schmerzen ist der GH jedoch der Ansicht, dass der Sachverhalt unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls nicht das Mindestmaß an Schwere offenbart, das für die Anwendung von Art 3 EMRK erforderlich ist.

(85) [...] Folglich gibt der GH der Einrede [...] statt.

Anwendbarkeit von Art 8 EMRK

(92) [...] Die Bf hätte ihre Schwangerschaft bis 27.1.2021 rechtmäßig abbrechen lassen können, weil ihr Fötus eine genetische Störung (Trisomie 21) aufwies. Nachdem das Urteil des Verfassungsgerichts rechtskräftig wurde, war dies jedoch nicht länger möglich. Da die Bf kein Kind mit einer genetischen Störung zur Welt bringen wollte, war sie gezwungen, ins Ausland zu reisen, um die Schwangerschaft abbrechen zu lassen.

(93) Der GH hat bereits früher festgehalten, dass eine den Schwangerschaftsabbruch regulierende Gesetzgebung den Bereich des Privatlebens von Frauen berührt, da im Fall einer Schwangerschaft eine enge Verbindung zwischen dem Privatleben einer Frau und ihrem Fötus besteht. Das Recht einer Frau auf Achtung des Privatlebens muss gegen andere widerstreitende Interessen abgewogen werden, einschließlich jener des ungeborenen Kindes.

(94) Während aus Art 8 EMRK kein Recht auf Abtreibung abgeleitet werden kann, stellt der GH angesichts des Vorstehenden fest, dass das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs aus Gründen einer fötalen Missbildung, wo eine Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlergehens gewünscht wird [...], in den Anwendungsbereich des Rechts der Bf auf Achtung ihres Privatlebens fällt und Art 8 EMRK folglich im vorliegenden Fall anwendbar ist.

(95) Dementsprechend ist die sich auf die Anwendbarkeit von Art 8 EMRK beziehende Einrede der Regierung zu verwerfen.

Zum behaupteten Fehlen der Opfereigenschaft

(99) [...] Die Bf des gegenständlichen Falls beschwerte sich, wie die Bf in A. M. ua/PL, über den durch das Urteil des Verfassungsgerichts vom 22.10.2022 verursachten Eingriff in ihr Privatleben. Allerdings machten die Bf in A. M. ua/PL das Risiko einer künftigen Verletzung geltend und der GH kam zum Ergebnis, dass es ihnen nicht gelungen war, eine reale Gefahr einer unmittelbaren Betroffenheit durch die mit dem Urteil des Verfassungsgerichts verbundenen Änderungen nachzuweisen. Im Gegensatz dazu behauptete die Bf im vorliegenden Fall, von den Änderungen des rechtlichen Rahmens direkt betroffen gewesen zu sein, da sie ihr Verhalten im intimsten Bereich ihres persönlichen Lebens ändern habe müssen.

(100) Die Regierung [...] stellte nicht in Abrede, dass die Bf ins Ausland gereist ist, um einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Was ihre Gründe dafür betrifft, stellt der GH fest, dass [...] im Zuge von klinischen Tests bei ihrem Fötus Trisomie 21 festgestellt wurde. Sie war berechtigt, die Schwangerschaft abbrechen zu lassen und es wurde ein Krankenhaustermin vereinbart. Allerdings trat kurz vor diesem Termin das Urteil des Verfassungsgerichts in Kraft, was eine Abtreibung wegen fötaler Missbildung unmöglich machte. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Bf ins Ausland reiste, um eine Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlergehens vornehmen zu lassen.

(101) [...] Dies verursachte Leid und Schmerz und hatte erhebliche psychische Auswirkungen auf sie. Sich einer Abtreibung im Ausland, weit weg von der Unterstützung durch die Familie, zu unterziehen anstatt in der Sicherheit des Heimatlands, stellte eine wesentliche Quelle zusätzlicher Sorge dar.

(102) [...] Die Kosten für die Auslandsreise betrugen € 1.220,– [...], was für die Bf eine erhebliche Ausgabe darstellen konnte.

(103) Insgesamt ist der GH der Ansicht, dass viele der von der Bf geschilderten negativen Erfahrungen vermieden hätten werden können, wenn es ihr erlaubt worden wäre, den Schwangerschaftsabbruch in der Sicherheit ihres Heimatlands vornehmen zu lassen.

(104) Angesichts dieser Überlegungen stellt der GH fest, dass die Bf nicht bloß ein potenzielles Opfer, sondern von der fraglichen Gesetzesänderung »direkt betroffen« war.

(105) Die Einrede [...] ist daher zu verwerfen.

Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(114) [...] Entscheidungen über den Abbruch einer Schwangerschaft werfen [...] Angelegenheiten auf, bei denen der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung ist. Die verfügbaren Verfahren müssen daher sicherstellen, dass solche Entscheidungen rechtzeitig erfolgen. Verfahren, in denen Entscheidungen über die Verfügbarkeit einer rechtmäßigen Abtreibung im Nachhinein überprüft werden, können eine solche Funktion nicht erfüllen. Wie der GH in diesem Zusammenhang festgestellt hat, bieten zivilrechtliche Rechtsbehelfe kein prozedurales Instrument zur Verteidigung des Rechts auf Achtung des Privatlebens. Sie haben bloß einen rückwirkenden und kompensatorischen Charakter und können nur zur gerichtlichen Zuerkennung von Schadenersatz führen. Der GH kann daher [...] nicht erkennen, inwiefern die von der Regierung genannten zivilrechtlichen Rechtsbehelfe im vorliegenden Fall wirksam hätten sein können.

(115) Auch die anderen von der Regierung vorgeschlagenen Rechtsbehelfe [...] hätten sich im Hinblick auf die Rügen der Bf nicht als effektiv erweisen können. [...]

(116) Die Einrede der Regierung muss daher verworfen werden.

Missbrauch des Beschwerderechts

(117) Die Regierung brachte vor, die Beschwerde müsse wegen Missbrauchs des Beschwerderechts [...] für unzulässig erklärt werden. [...] Sie sei im Kontext einer politischen Debatte über die reproduktive Gesundheit erhoben worden. [...]

(121) Der GH [...] hat Art 35 Abs 3 lit a EMRK unter anderem in zwei Arten von Situationen angewendet. Erstens kann eine Beschwerde als missbräuchlich [...] zurückgewiesen werden, wenn sie sich wissentlich auf falsche Tatsachen stützt. Zweitens kann eine Beschwerde auch in Fällen zurückgewiesen werden, in denen sich ein Bf in seiner Kommunikation mit dem GH besonders abwertender, beleidigender, drohender oder provokanter Sprache bedient.

(122) Im vorliegenden Fall betrifft der Kern der Argumente der Regierung nicht »unwahre Tatsachen«, die von der Bf vor dem GH behauptet worden wären. Auch brachte die Regierung nicht vor, die Bf hätte sich [...] abwertender, beleidigender, drohender oder provokanter Sprache bedient. Ihre Einrede stützt sich vielmehr auf ihre eigene Auffassung über mögliche Absichten der Bf [...]. Angesichts seiner Rsp kann der GH [...] keinen Missbrauch des Beschwerderechts [...] feststellen. Folglich verwirft er die Verfahrenseinrede der Regierung.

Schlussfolgerung zur Zulässigkeit

(123) [...] Die auf Art 8 EMRK gestützte Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich). Im Übrigen ist die Beschwerde für unzulässig zu erklären (mehrheitlich).

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

(124) Die Bf brachte vor, als direkte Folge der durch das Verfassungsgericht eingeführten Einschränkungen hätte sie in Polen keinen Schwangerschaftsabbruch [...] vornehmen lassen können und dazu ins Ausland reisen müssen [...]. Diese Einschränkung sei angesichts der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts, die Richter umfasste, deren Bestellung vom GH für unvereinbar mit Art 6 EMRK erklärt wurde, nicht »gesetzlich vorgesehen« gewesen. [...]

Zum Vorliegen eines Eingriffs

(153) Wie der GH früher festgestellt hat, begründet nicht jede Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens der Mutter (siehe Brüggemann und Scheuten/DE).

(154) Im vorliegenden Fall brachte die Regierung vor, die Einführung restriktiverer innerstaatlicher Regulierungen könne nicht als Eingriff in das Recht der Bf angesehen werden, weil die EMRK kein Recht auf Abtreibung enthalte. Der GH kann diese Ansicht nicht akzeptieren. In Anbetracht des weiten Begriffs des Privatlebens iSv Art 8 EMRK, der das Recht auf persönliche Autonomie und auf physische und psychische Integrität einschließt, stellt der GH fest, dass es einen Eingriff in das Recht der Bf auf Achtung ihres Privatlebens begründete, ihr einen Schwangerschaftsabbruch wegen einer fötalen Fehlbildung zu verbieten, den sie aus Gründen der Gesundheit und des Wohlergehens wünschte.

War der Eingriff »gesetzlich vorgesehen«?

(160) Wie der GH eingangs bemerkt, sind die Voraussetzungen für rechtmäßige Abtreibungen im Familienplanungsgesetz 1993 geregelt. Der Verabschiedung dieses Gesetzes ging eine lange politische Debatte voraus, in der sich die fundamentalen Auffassungsunterschiede widerspiegelten und sich die Sensibilität und Komplexität der berührten Angelegenheiten zeigten. Ursprünglich sah das Familienplanungsgesetz drei Situationen einer rechtmäßigen Abtreibung vor: die Gefährdung von Leben oder Gesundheit der Mutter durch die Schwangerschaft; ein hohes Risiko einer fötalen Missbildung sowie Gründe für die Annahme, die Schwangerschaft sei das Resultat von Vergewaltigung oder Inzest. 1997 wurden Abtreibungen aus Gründen schwieriger Lebensbedingungen oder schwieriger persönlicher Situationen erlaubt. Allerdings erklärte das Verfassungsgericht diese Änderung wenig später für verfassungswidrig. Trotz mehrerer Gesetzesinitiativen sowohl von jenen, die einen breiteren Zugang zu legalen Abtreibungen wünschten, als auch von jenen, die sich für eine Einschränkung der bestehenden Gründe für eine rechtmäßige Abtreibung aussprachen, blieb dieser sogenannte »Abtreibungskompromiss« während der nächsten 20 Jahre bis zum Urteil des Verfassungsgerichts vom 22.10.2020 unverändert bestehen.

(161) Im vorliegenden Fall [...] beruhte die Einschränkung auf dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 22.10.2020, das § 4a Abs 1 Z 2 des Familienplanungsgesetzes für verfassungswidrig erklärte. Die Ansichten der Parteien unterscheiden sich allerdings erheblich hinsichtlich der Frage, ob der Eingriff rechtmäßig iSd Konvention war, nämlich ob der relevante rechtliche Rahmen dem Rechtsstaatsprinzip entsprach.

(162) Die Bf brachte vor, es hätte eine Reihe fundamentaler Mängel beim Zustandekommen des Urteils gegeben, das die Grundlage für den Eingriff war. Aufgrund dieser Mängel könne das Urteil vom 22.10.2020 nicht als in Übereinstimmung mit dem Gesetz erlassen angesehen werden. [...]

(163) [...] Der GH ist sich der besonderen Rolle und des Status von Verfassungsgerichten bewusst, deren Aufgabe darin besteht sicherzustellen, dass Legislative, Exekutive und Gerichtsbarkeit die Verfassung einhalten, und die – in jenen Staaten, die ein Individualbeschwerderecht vorsehen – Bürgern auf nationaler Ebene einen zusätzlichen Rechtsschutz im Hinblick auf ihre Konventionsrechte bieten. Zugleich bezweifelt er nicht, dass das Verfassungsgericht als »Tribunal« iSv Art 6 Abs 1 EMRK angesehen werden muss.

(164) [...] Das Urteil des Verfassungsgerichts vom 22.10.2020 erging im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Prüfung der nationalen Gesetzgebung. Das Verfahren wurde [...] von einer Gruppe von Parlamentsabgeordneten eingeleitet [...]. Während die Bf nicht Partei dieses Verfahrens war, hatte dieses erhebliche Bedeutung für ihre Rechte und für jene vieler anderer Personen in ähnlichen Situationen. [...] Egal wie ein Verfahren vor dem Verfassungsgericht eingeleitet wird, sind die Wirkungen seiner Urteile immer dieselben und sie betreffen die Rechte aller Personen in vergleichbaren Situationen. Im vorliegenden Fall hatte das Urteil des Verfassungsgerichts [...] direkt zur Folge, dass der Krankenhaustermin der Bf abgesagt wurde und sie beinahe sofort keine andere Wahl hatte, als für eine Abtreibung ins Ausland zu reisen. Daher war das Verfahren vor dem Verfassungsgericht nach Ansicht des GH direkt entscheidend für die Rechte der Bf – insb für ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens.

(166) Der GH hat bislang die Art des Verfahrens, das zur Verabschiedung eines bestimmten Gesetzes führte, auf das sich ein Eingriff in ein Konventionsrecht stützt, weitgehend außer Acht gelassen. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls erachtet es der GH jedoch als notwendig zu betonen, dass die Konvention ein Instrument der Europäischen öffentlichen Ordnung ist und die Mitgliedstaaten daher in diesem Kontext verpflichtet sind, ein Maß an Überprüfung der Vereinbarkeit mit der Konvention sicherzustellen, das die Grundlagen dieser öffentlichen Ordnung bewahrt. Einer der fundamentalen Bestandteile der Europäischen öffentlichen Ordnung ist der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Willkür stellt die Negation dieses Grundsatzes dar. [...]

(167) Im Hinblick darauf erinnert der GH daran, dass die Rechtsstaatlichkeit allen Artikeln der Konvention innewohnt [...]. Dementsprechend müssen die Garantien des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art 8 EMRK ebenfalls im Licht der Präambel der Konvention ausgelegt werden, die [...] die Rechtsstaatlichkeit zu einem Teil des gemeinsamen Erbes der Mitgliedstaaten erklärt. Im Kontext von Art 6 Abs 1 EMRK hat der GH bereits festgestellt, dass das Recht auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« ein Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips ist. Er hat zudem einen gemeinsamen roten Faden erkannt, der sich durch alle institutionellen Anforderungen dieser Bestimmung zieht, nämlich die »Unabhängigkeit«, »Unparteilichkeit« und das »auf einem Gesetz beruhende Gericht«, indem sie alle vom Ziel geleitet werden, die fundamentalen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung zu bewahren. Daraus ergibt sich somit im Licht des Rechtsstaatsprinzips, dass jeder Eingriff in ein durch Art 8 EMRK garantiertes Recht von einem Spruchkörper ausgehen muss, der selbst »rechtmäßig« ist, da es ihm ansonsten an der in einer demokratischen Gesellschaft erforderliche Legitimität fehlt.

(168) [...] Das Urteil des Verfassungsgerichts erging im Rahmen der Prüfung der Verfassungskonformität der nationalen Gesetzgebung und betraf – im Gegensatz zu Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL – keine in Verstoß gegen das Recht auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« [...] ergangene Einzelfallentscheidung. Wo sich aber ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens wie im vorliegenden Fall aus der Entscheidung eines nationalen gerichtlichen Spruchkörpers ergibt, die unmittelbar entscheidend ist für die Rechte der Bf, kann Art 8 EMRK auch erfordern, die Eigenschaften dieses Spruchkörpers als »Tribunal«, das iSd Konvention »rechtmäßig« ist, zu prüfen. Dies umfasst auch die Rechtmäßigkeit seiner Zusammensetzung und des Verfahrens zur Bestellung seiner Mitglieder.

(169) Zu den spezifischen Mängeln des Verfahrens vor dem Verfassungsgericht [...] bemerkt der GH, dass das fragliche Urteil von einem mit 13 Richtern besetzten Senat erlassen wurde, dem auch M. Muszyński, J. Piskorski, J. Wyrembak, K. Pawłowicz und der Präsident des Verfassungsgerichts J. Przyłębska angehörten. [...]

(171) [...] In Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL stellte der GH im Kontext einer Beschwerde unter Art 6 Abs 1 EMRK fest, dass die grundlegende Regel über die Wahl von Verfassungsrichtern durch den Sejm und den Staatspräsidenten verletzt wurde, weil der Sejm am 2.12.2015 drei Richter gewählt hatte (M. Muszyński, H. Cioch und L. Morawski), obwohl deren Sitze bereits mit drei vom Sejm in seiner früheren Zusammensetzung gewählten Richtern besetzt waren. Der Staatspräsident weigerte sich, die drei vom früheren Sejm gewählten Richter anzugeloben und nahm stattdessen die Angelobung der drei am 2.12.2015 gewählten Richter vor. Wie der GH feststellte, waren die Verstöße im Verfahren zur Wahl dieser drei Richter so gravierend, dass sie die Legitimität des Wahlvorgangs beeinträchtigten und den Kern des Rechts auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« untergruben. [...] Der GH kam zum Ergebnis, dass dem bf Unternehmen in diesem Fall aufgrund der Teilnahme von Richter M. Muszyński am Verfahren vor dem Verfassungsgericht sein Recht auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« vorenthalten worden war. Die Wahl dieses Richters war mit schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten behaftet, die den Wesenskern des betroffenen Rechts beeinträchtigten.

(172) Im vorliegenden Fall ist die Tatsache, dass Richter M. Muszyński Mitglied des Senats des Verfassungsgerichts war, der das Urteil vom 22.10.2020 erließ, in Anbetracht des Urteils des GH im Fall Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL und seiner Schlussfolgerung unter Art 6 Abs 1 EMRK für sich genommen geeignet, die diesem Urteil zuzuschreibende Rechtswirksamkeit zu beeinträchtigen.

(173) Außerdem weist der GH darauf hin, dass die Richter J. Piskorski und J. Wyrembak, die ebenfalls Mitglieder des Senats waren, 2017 bzw 2018 gewählt wurden, um zwei Richter zu ersetzen, die zusammen mit Richter M. Muszyński [...] in einem Verfahren gewählt worden waren, dessen Unvereinbarkeit mit Art 6 Abs 1 EMRK der GH bereits festgestellt hat.

(174) Da die Unregelmäßigkeiten im Verfahren zur Wahl der oben genannten Richter die Legitimität jenes Senats des Verfassungsgerichts, der die umstrittene Einschränkung einführte, als »auf Gesetz beruhendes Gericht« beeinträchtigten, genügte seine Entscheidung folglich nicht den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit [...]. Angesichts dieser Schlussfolgerung sieht der GH keine Notwendigkeit dafür, die weiteren von der Bf behaupteten Mängel zu prüfen [...].

(175) In Anbetracht des Vorstehenden stellt der GH fest, dass der Eingriff in die Rechte der Bf nicht als rechtmäßig iSv Art 8 EMRK angesehen werden kann, weil er nicht von einem den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit genügenden Spruchkörper erlassen wurde. Zudem zeigen die Umstände des gegenständlichen Falls einen Mangel an der von Art 8 EMRK geforderten Vorhersehbarkeit [...], da das Urteil des Verfassungsgerichts in eine medizinische Behandlung eingriff, zu der die Bf berechtigt war und die bereits in Gang gesetzt worden war, wodurch eine Situation geschaffen wurde, in der sie des angemessenen Schutzes vor Willkür beraubt war. Angesichts des Vorstehenden stellt der GH fest, dass der Eingriff in die Rechte der Bf nicht »gesetzlich vorgesehen« iSv Art 8 EMRK war.

(176) Folglich hat eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden (5:2 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Wojtyczek and Paczolay; gemeinsames im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Jelić, Richterin Felici und Richter Wennerström).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 15.000,– für immateriellen Schaden; € 1.004,– für materiellen Schaden (5:2 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Wojtyczek und Paczolay).

Vom GH zitierte Judikatur:

Brüggemann und Scheuten/DE, 19.5.1976, 6959/75 (ZE)

Tysiąc/PL, 20.3.2007, 5410/03 = NL 2007, 82

A., B. und C./IR, 16.12.2010, 25579/05 (GK) = NLMR 2010, 368

R. R./PL, 26.5.2011, 27617/04 = NLMR 2011, 149

Guðmundur Andri Ástráðsson/IS, 1.12.2020, 26374/18 (GK) = NLMR 2020, 468

Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL, 7.5.2021, 4907/18 = NLMR 2021, 240

Reczkowicz/PL, 22.7.2021, 43447/19 = NLMR 2021, 322

A. M. ua/PL, 16.5.2023, 4188/21 ua (ZE) = NLMR 2023, 291

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.12.2023, Bsw. 40119/21, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 567) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise