JudikaturAUSL EGMR

Bsw18269/18 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Schadenersatzrecht
28. November 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Krachunova gg Bulgarien, Urteil vom 28.11.2023, Bsw. 18269/18.

Spruch

Art 4 EMRK - Pflicht zur Ermöglichung der Geltendmachung von Schadenersatz durch Opfer von Menschenhandel.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 4 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 6.000,– für immateriellen Schaden; € 3.100,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die 1985 geborene Bf lebte bei ihren Eltern in einem kleinen Dorf in Bulgarien, bis sie im April 2012 einen Mann (»X.«) kennenlernte und nach einem Streit mit ihrer Familie in dessen Haus zog, wo er mit seiner Partnerin und vier Kindern lebte. Offenbar ging die Bf für kurze Zeit eine intime Beziehung mit ihm ein. Seine Beschäftigung bestand darin, Prostituierte zu ihren Arbeitsplätzen an diversen Straßen zu bringen und dort vor Übergriffen zu schützen. Nachdem er der Bf erzählt hatte, wie viel Geld sich mit Sexarbeit verdienen ließ, willigte sie ein, unter seiner Obhut dieser Beschäftigung nachzugehen. Ab Mai 2012 brachte X. die Bf täglich zur Bukarester Stadtringstraße, nachdem er sie mit Kleidung ausgestattet und über die üblichen Preise informiert hatte.

Im Juli 2012 wollte die Bf die Tätigkeit als Sexarbeiterin beenden und fuhr mit einem Kunden nach Plovdid. Nachdem sie einige Wochen später in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war, wurde sie von X. aufgesucht und dazu überredet, wieder zu ihm zu ziehen und weiterhin der Prostitution nachzugehen. Wie er ihr erklärte, seien er und seine Familie auf ihre Einkünfte angewiesen. X. nahm ihr ihren Personalausweis ab. Ihre Einkünfte aus der Sexarbeit musste sie zur Gänze bei ihm abliefern, im Gegenzug sorgte er für ihre Grundbedürfnisse und gab ihr ein Taschengeld. Als sie X. erklärte, diese Tätigkeit aufgeben zu wollen, drohte er ihr damit, ihren Eltern und Nachbarn zu verraten, dass sie eine Prostituierte sei.

Am 15.2.2013 erzählte die Bf zwei Polizisten anlässlich einer Kontrolle, dass sie von X. zur Prostitution gezwungen werde und Hilfe benötige. Daraufhin brachten die Beamten sie zu einer Polizeistation. Nach ihrer Befragung wurde sie zunächst in eine Krisenunterkunft gebracht und später in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgenommen, ehe sie wieder zu ihren Eltern zurückkehrte.

Die Bf schloss sich dem Strafverfahren gegen X. als Privatbeteiligte an und forderte Schadenersatz für ihre Einkünfte aus der Prostitution, die sie an ihn abliefern hatte müssen. Das Bezirksgericht Sofia erklärte, diese Forderung nicht prüfen zu können, da es sich um Einkünfte aus unzüchtigen und sittenwidrigen Handlungen handle. Im Juni 2014 verurteilte das Gericht X. zu einer Freiheitsstrafe und zur Zahlung einer Entschädigung iHv ungerechnet € 1.023,– für immateriellen Schaden an die Bf.

Nachdem das Stadtgericht Sofia dieses Urteil behoben hatte, wurde X. im zweiten Rechtsgang im Juni 2017 wegen Menschenhandels verurteilt und ihm die Zahlung von € 4.090,– für immateriellen Schaden an die Bf auferlegt. Der Anspruch der Bf auf Schadenersatz für ihre Einkünfte wurde hingegen mit der Begründung abgewiesen, Verträge über sexuelle Dienste seien sittenwidrig und könnten daher keine Ansprüche begründen. Da die Bf somit keinen Anspruch auf eine Bezahlung gehabt hätte, könne auch kein Schaden entstanden sein. Dieses Urteil wurde am 5.12.2017 vom Stadtgericht Sofia bestätigt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behauptete eine Verletzung von Art 4 EMRK (hier: Verbot des Menschenhandels).

Zur behaupteten Verletzung von Art 4 EMRK

(123) Die Bf brachte vor, sie habe keine rechtliche Möglichkeit gehabt, von X. Entschädigung für ihre Einkünfte aus der Prostitution zu fordern, die er ihr weggenommen hatte. [...]

Zulässigkeit

(126) Die Regierung wandte ein, Art 4 EMRK sei nicht anwendbar, die Bf habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft und die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet.

Vereinbarkeit ratione materiae

(132) Die Frage, ob eine Situation alle Elemente des Menschenhandels aufweist, ist nach der stRsp des GH eine Tatsachenfrage, die im Licht aller Umstände des Einzelfalls geprüft werden muss. Eine Analyse dieses Punkts erfordert daher eine genauere Berücksichtigung der Beweise und des Sachverhalts.

(133) Folglich muss die Einrede der Regierung, wonach Art 4 EMRK nicht anwendbar und die Beschwerde daher ratione materiae unvereinbar mit der Konvention ist, mit der Prüfung in der Sache verbunden werden.

(134) Die Frage, ob die Abweisung des Anspruchs der Bf gegen X. hinsichtlich ihrer verlorenen Einkünfte Art 4 EMRK auf den Plan ruft, betrifft die Auslegung dieser Bestimmung [...] und somit ebenfalls die Begründetheit der Beschwerde.

Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(135) [...] Es stand der Bf rechtlich nicht offen, das zu tun, was ihr die Regierung vorwirft, nicht getan zu haben, nämlich zu beantragen, dass X. wegen des Tatbestands des erschwerten Menschenhandels [...] angeklagt werde, der alle drei Elemente der internationalen Definition des Menschenhandels umfasst: »Handlung«, »Mittel« und »Zweck«. Es erübrigt sich daher zu prüfen, ob sie dies in der Praxis tun hätte können. Es reicht aus festzustellen, dass sie sich auf die Mittel bezog, die von X. eingesetzt wurden, um sie dazu zu bringen, zu seinen Gunsten der Sexarbeit nachzugehen [...]. [...] Sie gab damit den bulgarischen Gerichten die Gelegenheit, die behauptete Verletzung zu vermeiden oder Wiedergutmachung für diese zu leisten.

(136) Die Einrede der Regierung ist daher nicht erfolgreich.

Schlussfolgerung zur Zulässigkeit

(137) Die Beschwerde ist zudem weder offensichtlich unbegründet (wie von der Regierung behauptet wurde, deren diesbezügliche Einrede somit zu verwerfen ist) noch aus anderen Gründen unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Wurde die Bf Opfer von Menschenhandel iSv Art 4 EMRK?

(145) Es steht fest, dass Menschenhandel (sowohl national als auch grenzüberschreitend) in den Anwendungsbereich von Art 4 EMRK fällt. Dies gilt jedoch nur, wenn alle drei Elemente der in Art 3 lit a des Palermo-Protokolls und Art 4 lit a des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels enthaltenen Definition [...] erfüllt sind, die häufig als »Handlung«, »Mittel« und »Zweck« bezeichnet werden [...].

(147) Es ist klar, dass »Handlung« und »Zweck« vorhanden waren. Das Strafgericht, das X. verurteilte, stellte aufgrund der Beweise fest, dass er die Bf zweimal rekrutiert, fortlaufend beherbergt und befördert hatte, um sie im Wege von bezahlten sexuellen Handlungen auszubeuten. [...]

(148) Was die »Mittel« betrifft, gibt es tatsächlich keine Beweise für Gewalt oder Drohung mit Gewalt durch X., um die Bf zur Sexarbeit zu seinen Gunsten zu bewegen. Allerdings spiegelt das internationale Recht klar das Verständnis wider, wonach Menschenhandel manchmal mit subtileren Mitteln erfolgt, wie Täuschung, psychologischem Druck und dem Ausnutzen von Vulnerabilität [...]. Diese Taktiken dürfen nicht isoliert betrachtet werden, da sie [...] sich nur graduell unterscheiden und oft überlappen. Die Bf war eine arme und emotional instabile junge Frau aus einem kleinen Dorf, die offenbar Probleme mit ihren Eltern hatte [...]. X. [...] war hingegen einige Jahre älter als sie, vorbestraft und hatte seit langem geschäftlich mit Sexarbeiterinnen und Zuhältern zu tun, womit er seinen Lebensunterhalt finanzierte. Zudem erklärte er der Bf die praktischen Details der Sexarbeit und trat als ihr »Beschützer« auf. Es ist nicht weit hergeholt, aus all dem abzuleiten, dass sie sich zu sehr von ihm abhängig fühlte,

um sich offen gegen ihn aufzulehnen.

(149) Dass X. ihr einen erheblichen Teil ihrer Einkünfte wegnahm, muss bei der Bf ebenfalls zu einer gewissen Abhängigkeit von ihm geführt haben. Ihr die Bezahlung vorzuenthalten diente auch als Mittel, die Bf zu kontrollieren. [...]

(150) Eine gewisse Bedeutung hat auch die Tatsache, dass zwischen X. und der Bf eine Zeit lang eine intime Beziehung bestand. Es ist allgemein bekannt, dass Menschenhändler manchmal [...] ihre zur Prostitution ausgenutzten Opfer in intime Beziehungen locken und sich als ihre Liebespartner darstellen, um eine emotionale Abhängigkeit [...] zu schaffen.

(151) [...] Wie das Stadtgericht [...] feststellte, hatte X. die Bf getäuscht und ihr Vorteile versprochen, um sie dazu zu bewegen, der Prostitution nachzugehen. Er nahm ihr die Möglichkeit, sich frei zu bewegen oder ihre Familie zu kontaktieren und versteckte sie in seinem Haus. [...]

(152) Überdies gibt es gewisse Hinweise darauf, dass X. die Bf in einem anderen Kontext [nach einem Streit im Zuge eines gemeinsamen Besuchs eines Nachtlokals] geschlagen hatte und dass er ihre emotionale und soziale Vulnerabilität ausnutzte, um ihr Verhalten zu steuern. Insb manipulierte er sie offenbar, indem er die Abhängigkeit seiner Familie von ihren Einkünften aus der Sexarbeit betonte. Noch erheblicher ist, dass er ihr drohte, ihren Nachbarn in ihrem Dorf ihre Tätigkeit als Prostituierte zu verraten. [...] Ab August 2012 behielt X. zudem den Personalausweis der Bf bei sich [...], was eine erhebliche Einschränkung ihrer Mobilität mit sich brachte [...].

(153) Die Tatsache, dass die Bf zumindest anfänglich der Tätigkeit als Sexarbeiterin [...] zugestimmt haben mag, ist nicht entscheidend. Nach den Definitionen im Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels [...] ist eine solche Einwilligung unerheblich, wenn eines der »Mittel« des Menschenhandels angewendet wurde [...].

(154) In Anbetracht all dessen ist der GH überzeugt davon, dass das Element der »Mittel« in diesem Fall ebenfalls vorhanden war.

(155) Folglich lagen alle Elemente der internationalen Definition von Menschenhandel – »Handlung«, »Mittel« und »Zweck« – vor und Art 4 EMRK ist anwendbar.

(157) Im Licht der obigen Schlussfolgerung ist die [...] Einrede der Unvereinbarkeit ratione materiae [...] zu verwerfen (einstimmig).

Gibt es nach Art 4 EMRK eine positive Verpflichtung, Opfern von Menschenhandel zu ermöglichen, Schadenersatz für entzogene Einkünfte zu verlangen?

(158) [...] Aus Art 4 EMRK erwachsen positive Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten. Bislang umfassen diese positiven Verpflichtungen (a) eine Pflicht zur Schaffung eines rechtlichen und administrativen Rahmens, der Menschenhandel verbietet und bestraft; (b) die Pflicht, unter gewissen Umständen operative Maßnahmen zu ergreifen, um (potenzielle) Opfer des Menschenhandels zu schützen; und (c) eine prozedurale Verpflichtung, Situationen möglichen Menschenhandels zu untersuchen.

(159) [...] In Chowdury ua/GR verwies der GH auf Art 15 Abs 3 des Übereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels, der die Staaten dazu verpflichtet, in ihrem nationalen Recht das Recht von Opfern von Menschenhandel vorzusehen, Entschädigung von den Tätern zu erhalten [...].

(160) Die Verpflichtung [...], operative Maßnahmen zum Schutz von Opfern von Menschenhandel zu ergreifen, erstreckt sich auch auf die Art der Behandlung dieser Opfer im System der Strafgerichtsbarkeit. [...]

(161) Im vorliegenden Fall ist der GH erstmals mit der Frage konfrontiert, ob es nach Art 4 EMRK eine positive Verpflichtung gibt, es Opfern von Menschenhandel zu ermöglichen, von ihren Menschenhändlern Entschädigung für ihre entgangenen Einkünfte zu verlangen.

Allgemeine Grundsätze der Auslegung

(162) Der GH wird [...] sich insb auf drei der Auslegungskanones stützen, von denen er sich idR leiten lässt.

(163) [...] Erstens verlangen Ziel und Zweck der Konvention [...] eine Auslegung [...], welche die in ihr garantierten Rechte praktisch und effektiv macht.

(164) Zweitens [...] ist die Konvention soweit wie möglich in Einklang mit den anderen Regeln des Völkerrechts auszulegen [...]. [...] Insb muss der GH Art 4 EMRK im Licht des Übereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels auslegen und sich dabei von der Interpretation dieser Konvention durch GRETA – das für die Überwachung ihrer Umsetzung verantwortliche Expertengremium – leiten lassen. [...]

(165) Drittens kann der GH bei der Auslegung der EMRK [...] Entwicklungen in den innerstaatlichen Rechtsordnungen berücksichtigen, die auf einen einheitlichen oder gemeinsamen Zugang oder einen entstehenden Konsens zwischen den Mitgliedstaaten in einem bestimmten Bereich hinweisen.

Auslegung anhand von Ziel und Zweck des Art 4 EMRK

(166) [...] Der GH hatte bereits Gelegenheit festzustellen, dass das Fehlen einer Möglichkeit (nach innerstaatlichem Recht), bestimmte Arten von Schäden geltend zu machen, gegen Art 2 EMRK verstößt. Für die Frage, ob Art 4 EMRK eine positive Verpflichtung umfasst, Opfern zu ermöglichen, ihre Menschenhändler im Hinblick auf entgangene Einkünfte zu klagen, ist nicht entscheidend, dass sein Wortlaut dazu nichts enthält. Auch in Art 2 EMRK ist von einer solchen Verpflichtung nicht ausdrücklich die Rede und seit langem werden aus unterschiedlichen Bestimmungen, die darüber ebensowenig sagen, spezifische Verpflichtungen – zB eine Entschädigung zu zahlen oder deren Erlangung zu ermöglichen – abgeleitet [...].

(167) Es gibt starke Argumente dafür, Art 4 EMRK in ähnlicher Weise auszulegen wie Art 2 EMRK.

(168) Neben Art 2 und Art 3 verankert Art 4 EMRK einen der grundlegendsten Werte demokratischer Gesellschaften [...]. Menschenhandel (der die Würde und die fundamentalen Rechte seiner Opfer bedroht) ist mit diesen [...] Werten unvereinbar. Zudem ist seit langem anerkannt, dass sich die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach Art 4 EMRK im Hinblick auf Menschenhandel an dem umfassenden Ansatz orientieren müssen, der vom Palermo-Protokoll und dem Übereinkommen zur Bekämpfung von Menschenhandel verlangt wird, und dass nur eine Kombination von Maßnahmen (einschließlich solcher zum Opferschutz) in dieser Hinsicht wirksam sein kann. [...] Art 4 EMRK betreffende Rechtssachen beziehen sich heutzutage typischerweise auf die sich daraus ergebenden positiven Verpflichtungen. Es ist daher umso wichtiger, diese positiven Verpflichtungen so auszulegen, dass ein effektiver Schutz der in Art 4 EMRK verankerten Rechte geboten wird.

(169) Bis jetzt konzentrierte sich die Rsp des GH zu den nachträglichen Reaktionen auf Menschenhandel auf die Untersuchung und Bestrafung. Obwohl sie wesentlich für die Abschreckung sind, können solche Maßnahmen jedoch weder den materiellen Schaden wegwischen, den Opfer von Menschenhandel erlitten haben, noch deren Erholung von ihren Erlebnissen praktisch unterstützen.

(171) [...] Die Möglichkeit von Menschenhandelsopfern, Entschädigung für die ihnen – insb von den Menschenhändlern – entzogenen Einkünfte zu verlangen, wäre ein Mittel zur Gewährleistung einer restitutio in integrum [...], indem das volle Ausmaß des von ihnen erlittenen Schadens gutgemacht wird. Dadurch, dass es ihnen die finanziellen Mittel dazu verschafft, ihr Leben wiederaufzubauen, würde es auch einen beträchtlichen Beitrag dazu leisten, ihre Würde zu wahren, ihre Erholung zu unterstützen und das Risiko zu reduzieren, dass sie erneut Opfer von Menschenhändlern werden. Dies kann daher nicht als zweitrangige Überlegung angesehen werden; es muss als essenzieller Teil der von Art 4 EMRK verlangten umfassenden staatlichen Antwort auf Menschenhandel betrachtet werden. Außerdem sollte aus menschenrechtlicher Perspektive Wiedergutmachung für das Opfer die übergeordnete Überlegung sein.

(172) Dies ist sicher nur ein Aspekt der staatlichen Antwort auf das Phänomen des Menschenhandels und andere Maßnahmen, insb im Bereich des Strafrechts und manchmal auch des Migrationsrechts, sind ebenso integrale Bestandteile derselben. Aber alle diese Maßnahmen ergänzen einander – selbst aus der Perspektive der notwendigen Abschreckung [...]. Es Opfern zu ermöglichen, von ihren Menschenhändlern den Ersatz ihrer entgangenen Einkünfte zu erlangen, würde dazu beitragen, sicherzustellen, dass diese die Früchte ihrer Straftaten nicht genießen können und damit die wirtschaftlichen Anreize für Menschenhandel [...] reduzieren. Tatsächlich geht die Entwicklung bei der Strafverfolgung allgemein dahin, nicht nur die straffälligen Personen ins Visier zu nehmen, sondern auch die aus ihren Straftaten erzielten Erlöse, und diese Mittel (zumindest teilweise) zur Entschädigung der Opfer zu verwenden. Dies kann auch die Belastung der öffentlichen Mittel verringern, die manchmal zur Unterstützung der Erholung von Menschenhandelsopfern verwendet werden. Außerdem kann es für Opfer einen weiteren Anreiz bieten, sich zu melden und Menschenhandel zu enthüllen [...].

(173) In Anbetracht des Vorstehenden und der Tatsache, dass Menschenhandel in den letzten Jahren als globales Phänomen deutlich zugenommen hat, lässt sich der Schluss ziehen, dass Art 4 EMRK [...] eine positive Verpflichtung seitens der Mitgliedstaaten umfasst, es Opfern von Menschenhandel zu ermöglichen, von ihren Menschenhändlern Entschädigung für entgangene Einkünfte zu verlangen.

Wird diese Auslegung durch die relevanten internationalen Instrumente unterstützt?

(174) Die obige Schlussfolgerung wird durch die relevanten internationalen Instrumente untermauert. [...]

(175) Sowohl das Palermo-Protokoll als auch das Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels, die beide für alle 46 Mitgliedstaaten gelten, enthalten eine allgemeine Verpflichtung, es Opfern zu ermöglichen, eine Entschädigung zu verlangen. Letzteres [...] verwendet eine anschaulichere Sprache (»sieht ... das Recht ... auf Entschädigung vor«) [...] und präzisiert, dass die Entschädigung »durch die Täter« erfolgen muss [...]. [...] Das Recht auf Entschädigung nach Art 6 Abs 6 des Palermo-Protokolls [...] wird dahingehend ausgelegt, dass es eine Entschädigung für entgangene Einkünfte durch die Täter umfasst. Von den Gremien der Vereinten Nationen haben die Generalversammlung, der Menschenrechtsrat und der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau die Staaten aufgefordert, es Menschenhandelsopfern zu ermöglichen, Entschädigung für den erlittenen Schaden (insb von den Tätern) zu erlangen [...]. [...] Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat ebenfalls empfohlen, dass Straftäter

Entschädigung an die Opfer von Menschenhandel leisten sollten [...].

Wird diese Auslegung von einem gemeinsamen Ansatz oder einem entstehenden Konsens unterstützt?

(176) Die dem GH verfügbaren Informationen zeigen einen Trend der letzten Jahre, am auffallendsten in den USA und Kanada, aber auch in einigen Mitgliedstaaten – Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Norwegen und Großbritannien – dahingehend, es Menschenhandelsopfern zu ermöglichen, von den Menschenhändlern jene Gewinne zu erhalten, die diese durch ihre Ausbeutung erzielt haben. In anderen Mitgliedstaaten scheint das Thema nicht ausdrücklich angesprochen worden zu sein [...]. [...] Es bestehen jedoch keine Hinweise darauf, dass das Recht irgendeines anderen Mitgliedstaats – abgesehen von Bulgarien und eventuell Malta [...] – solche Ansprüche generell ausschließt. Außerdem hat sich die Frage in Bulgarien nur in Bezug auf Einkünfte aus Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung gestellt und nicht im Hinblick auf Einkommen in anderen Menschenhandelsszenarien. All dies bietet weitere Unterstützung für die oben in Rz 173 vorgenommene Auslegung.

Schlussfolgerung

(177) Die vorstehenden Überlegungen führen insgesamt zur Schlussfolgerung, dass Art 4 EMRK den Mitgliedstaaten tatsächlich eine positive Verpflichtung auferlegt, es Opfern von Menschenhandel zu ermöglichen, von ihren Menschenhändlern Entschädigung für entgangene Einkünfte zu fordern. Diese Verpflichtung erweitert im Licht der gegenwärtigen Realitäten den Schutz der von diesem Artikel bereits garantierten Rechte und passt diesen Schutz an die in diesem Bereich zunehmend höheren Standards und den geänderten gesellschaftlichen Kontext an, in dem dieser Artikel nun angewendet werden muss.

(178) Folglich ist die Art und Weise, wie die bulgarischen Gerichte mit der von der Bf gegen X. erhobenen Klage auf materiellen Schadenersatz für die ihr entzogenen Einkünfte umgingen, unter Art 4 EMRK zu prüfen.

War die Abweisung der Schadenersatzklage der Bf mit dieser positiven Verpflichtung vereinbar?

(183) Die bulgarischen Gerichte wiesen die Ansprüche der Bf gegen X. hinsichtlich ihres entgangenen Einkommens ab, weil die Erzielung der Einkünfte durch Prostitution erstens gegen Art 329 Abs 1 Strafgesetz und zweitens gegen die Moral verstoßen habe.

(184) Was den ersten Grund betrifft, kann grundsätzlich akzeptiert werden, dass die innerstaatlichen Gerichte jemandem einen Rechtsbehelf vorenthalten, der damit die Rückzahlung von Geld verlangt, das durch ein strafrechtliches Verhalten erlangt wurde [...]. Es kann [...] auch akzeptiert werden, dass damals in Bulgarien [...] Einkünfte aus der Prostitution unter bestimmten Umständen illegal sein konnten.

(185) In diesem Fall kann die Analyse jedoch nicht an diesem Punkt beendet werden.

(186) Erstens hat keine Behörde jemals behauptet, dass das Verhalten der Bf alle Tatbestandselemente des Art 329 Abs 1 Strafgesetzbuch erfüllt hätte. Es wurde nie wegen einer solchen Straftat gegen sie ermittelt oder ein Verfahren eingeleitet und jede derartige Strafverfolgung hätte potenziell gegen die positive Verpflichtung verstoßen, unter bestimmten Umständen [...] Menschenhandelsopfer nicht strafrechtlich zu verfolgen, wurde die Bf doch von X. dazu gezwungen, der bezahlten Sexarbeit nachzugehen. [...]

(187) Zweitens beruhte Art 329 Abs 1 des [...] Strafgesetzbuchs, wie von den bulgarischen Behörden selbst eingeräumt wurde, auf veralteten gesellschaftlichen Einstellungen und politischen Überlegungen, die vom totalitären kommunistischen Regime hinterlassen wurden, und war mit einem auf der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte beruhenden verfassungsrechtlichen Rahmen unvereinbar. Aus genau diesen Gründen erklärte das bulgarische Verfassungsgericht diese Bestimmung im September 2022 für verfassungswidrig. Dieses Gericht verwies auf den aktuellen Trend im europäischen und internationalen Recht (und auch in Bulgarien), die Prostitution nicht als verwerfliches Verhalten jener anzusehen, die ihr nachgehen, sondern als eine Form der Ausbeutung durch andere und als eine Verletzung ihrer Menschenrechte. [...]

(188) Der erste Grund für die Abweisung der Klage [...] kann in Anbetracht dieser Überlegungen nicht als ausreichend [...] angesehen werden.

(189) Die Begründung des bulgarischen Verfassungsgerichts ist auch für den zweiten [...] für die Abweisung ihrer Klage genannten Grund relevant, nämlich dass die Art der Erzielung der Einkünfte, deren Erstattung durch X. sie begehrte, sittenwidrig war.

(190) In einem derart sensiblen Bereich wie der Prostitution, der in unterschiedlichen Rechtsordnungen je nach dem Verständnis der jeweiligen Gesellschaft unterschiedlich geregelt wird, müssen auf moralischen Überlegungen beruhende Bedenken berücksichtigt werden. Allerdings muss die Regelung unterschiedlicher Aspekte des Problems durch das innerstaatliche Recht kohärent sein und eine angemessene Berücksichtigung der auf dem Spiel stehenden unterschiedlichen legitimen Interessen erlauben. Außerdem sollten die Menschenrechte – wie von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats betont wurde – das Hauptkriterium bei der Planung und Umsetzung von Strategien im Bereich der Prostitution und des Menschenhandels sein. [...] Es ist ungeachtet ihrer Erzielung durch Prostitution schwierig zu akzeptieren, dass die Verurteilung von X. zur Rückzahlung der Einkünfte, die er der Bf weggenommen hatte, in Bulgarien als Affront gegen die Moral aufgefasst worden wäre.

(191) In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass die Bf nicht die direkte oder indirekte Durchsetzung eines Vertrags über Sexarbeit oder eine Entschädigung für Ansprüche daraus begehrte, oder von einem freiwilligen Verhalten profitieren wollte. Sie machte eine Entschädigung für Einkünfte geltend, die aus ihrer Ausbeutung als Zwangsprostituierte stammten und ihr von ihrem Menschenhändler vorenthalten wurden, der sich damit ungerechtfertigt bereicherte. [...]

(192) Der vorliegende Fall betrifft daher nicht die Frage, ob Verträge über Sexarbeit als solche als rechtlich bindend anerkannt werden müssen [...]. Er bezieht sich [...] auch nicht darauf, ob es die EMRK ausschließt, die Prostitution oder einzelne Aspekte davon zu untersagen. (Anm: Zu dieser Frage ist derzeit die Beschwerde M. A. ua/FR (63664/19 ua) anhängig, die vom EGMR am 27.6.2023 für zulässig erklärt wurde.) Die Analyse beschränkt sich vielmehr darauf, ob im vorliegenden Fall die oben in Rz 177 bezeichnete positive Verpflichtung, es Menschenhandelsopfern zu ermöglichen, von ihren Menschenhändlern Entschädigung für entzogene Einkünfte zu fordern, mit der Begründung umgangen werden kann, dass die Einkünfte sittenwidrig erzielt wurden. Angesichts der Betonung der Rechte von Opfern des Menschenhandels in internationalen Instrumenten und im Verfahren vor dem bulgarischen Verfassungsgericht sowie der Begründung dieses Gerichts kann der simple Verweis auf die »sittenwidrige« Natur der Einkünfte

der Bf nicht als ausreichende Rechtfertigung für das Versäumnis akzeptiert werden, dieser Verpflichtung zu entsprechen.

(193) Doch selbst wenn es vernünftige Gründe für die Abweisung einer sich auf Einkünfte aus der Prostitution beziehenden Klage gäbe (so könnte zB argumentiert werden, die Stattgebung einer solchen Klage könnte als Duldung der Prostitution aufgefasst werden oder manche Personen dazu ermuntern, ihr nachzugehen), würden solche Gründe im vorliegenden Fall mit der gegenläufigen und zweifellos zwingenden öffentlichen Strategie gegen Menschenhandel und dem Schutz seiner Opfer kollidieren [...].

(194) Anscheinend hatte die Bf keine andere Möglichkeit, eine Entschädigung für ihre Einkünfte [...] geltend zu machen.

(195) Insb deutet nichts darauf hin, dass die Chancen der Bf in einem von Anfang an gesonderten Zivilprozess gegen X. besser gestanden wären.

(196) Die Bf hätte eine solche Entschädigung offenbar auch nicht im allgemeinen System der Entschädigung von Opfern von Straftaten geltend machen und erlangen können. [...]

(197) Mit der Entscheidung, die von der Bf gegen X. erhobene zivilrechtliche Klage hinsichtlich der ihr entzogenen Einkünfte als unbegründet abzuweisen, wurde folglich ungeachtet des Ermessensspielraums des Staates kein gerechter Ausgleich zwischen ihren Rechten gemäß Art 4 EMRK und den Interessen der Gemeinschaft getroffen.

(198) Somit hat eine Verletzung von Art 4 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 6.000,– für immateriellen Schaden; € 3.100,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Siliadin/FR, 26.7.2005, 73316/01 = NL 2005, 200

Rantsev/CY und RU, 7.1.2010, 25965/04 = NLMR 2010, 20

L. E./GR, 21.1.2016, 71545/12 = NLMR 2016, 20

J. ua/AT, 17.1.2017, 58216/12 = NLMR 2017, 126

Chowdury ua/GR, 30.3.2017, 21884/15 (GK) = NLMR 2017, 132

S. M./HR, 25.6.2020, 60561/14 (GK) = NLMR 2020, 192

V. C. L. und A. N./GB, 16.2.2021, 77587/12, 74603/12 = NLMR 2021, 56

Zoletic ua/AZ, 7.10.2021, 20116/12 = NLMR 2021, 422

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.11.2023, Bsw. 18269/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 538) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.