JudikaturAUSL EGMR

Bsw50849/21 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. November 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Wałęsa gg Polen, Urteil vom 23.11.2023, Bsw. 50849/21.

Spruch

Art 6, 8, 18, 46 EMRK - Piloturteilsverfahren zur Behebung der systemischen Mängel in der polnischen Gerichtsbarkeit.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK in Bezug auf das Recht des Bf auf ein »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« (einstimmig).

Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich des Grundsatzes der Rechtssicherheit (einstimmig).

Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 30.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Befolgung der Urteile des EGMR gemäß Art. 46 EMRK: Polen muss sicherstellen, dass Angelegenheiten, die sich auf die Unabhängigkeit von Richtern beziehen, von einem Gericht entschieden werden, das im Licht der Konventionsstandards selbst als »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« angesehen werden kann. Was die außerordentliche Berufung betrifft, muss der Staat angemessene legislative Maßnahmen ergreifen, um die Mängel dieses Rechtsmittels zu beheben. Zudem muss der belangte Staat Sicherstellungen gegen einen Missbrauch der außerordentlichen Berufung einführen, die insb die Instrumentalisierung dieses Verfahrens für politische Zwecke ausschließen.

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegende Beschwerde wurde von Lech Wałęsa erhoben, der in den 1980er Jahren die Gewerkschaft Solidarność führte, 1993 den Friedensnobelpreis erhielt und von 1990 bis 1995 als Präsident Polens amtierte. Im Zuge seiner neuerlichen Kandidatur wurde 2000 ein »Lustrationsverfahren« durchgeführt, (Anm: Diese Verfahren dienten in den mittel- und osteuropäischen Staaten der Prüfung, ob Mitarbeiter*innen des öffentlichen Diensts und Politiker*innen mit dem früheren kommunistischen Regime zusammengearbeitet hatten.) das zum Ergebnis kam, dass der Bf nie mit den kommunistischen Sicherheitsbehörden zusammengearbeitet hatte. Ungeachtet dessen wurde die mögliche Kollaboration des Bf in politischen Diskussionen und in den Medien immer wieder thematisiert. Die schärfsten Vorwürfe kamen von Vertretern der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS), insb von deren Vorsitzendem Jarosław Kaczyński und seinem Bruder Lech sowie von Zbigniew Ziobro. Jarosław Kaczyński war 1991 von Lech Wałęsa als Leiter der Präsidentschaftskanzlei entlassen worden. 1993 hatte er mit seiner Partei eine Kampagne für den Rücktritt des Bf als Präsident gestartet.

Am 16.11.2005 bestätigte das Institut für Nationales Gedenken, dass der Bf nicht mit den kommunistischen Sicherheitsdiensten kollaboriert hatte. Am selben Tag berichteten zwei Fernsehsender über diese Entscheidung und holten dazu eine Stellungnahme von Krzysztof Wyszkowski ein, einem früheren Weggefährten des Bf und nunmehrigen Vertrauten der Kaczyńskis. Dieser beharrte darauf, dass Lech Wałęsa »ein geheimer Informant mit dem Decknamen ›Bolek‹ war, über seine Kollegen berichtet und dafür Geld bekommen hat«.

Lech Wałęsa erhob daraufhin Klage wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte und begehrte die Veröffentlichung einer Entschuldigung. Nachdem das Bezirksgericht Danzig die Klage im zweiten Rechtszug abgewiesen hatte, gab das Appellationsgericht Danzig dieser schließlich mit Urteil vom 24.3.2011 statt und verurteilte Herrn Wyszkowski zur Veröffentlichung der geforderten Entschuldigung. Nach Ansicht des Gerichts hatte der Beklagte den Wahrheitsbeweis für seine Vorwürfe nicht erbracht. Der Oberste Gerichtshof erklärte eine Kassationsbeschwerde des Beklagten am 30.11.2011 für unzulässig. Die Entschuldigung wurde schließlich im Wege der Ersatzvornahme vom Bf selbst veröffentlicht, nachdem Herr Wyszkowski dies verweigert hatte. Wegen dieser Verurteilung erhob Herr Wyszkowski eine Beschwerde an den EGMR.

Der inzwischen zum Generalstaatsanwalt ernannte Zbigniew Ziobro erhob am 31.1.2020 eine außerordentliche Berufung gegen das Urteil des Appellationsgerichts Danzig vom 24.3.2011. (Anm: Die außerordentliche Berufung wurde Ende 2017 als neues Rechtsmittel eingeführt, für dessen Behandlung die am Obersten Gerichtshof neu geschaffene Kammer für außerordentliche Rechtsmittel und öffentliche Angelegenheiten zuständig ist.). Er brachte vor, dieses sei mit den Grundsätzen der Verfassung unvereinbar, weil es dem Ansehen des Klägers in unverhältnismäßiger Weise Vorrang vor der Meinungsäußerungsfreiheit des Beklagten eingeräumt habe.

Ein Antrag des Bf auf Ausschluss jener Richterinnen und Richter der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel, die auf Empfehlung des Landesjustizrats ernannt worden waren, wurde von eben jener Kammer abgewiesen. Am 21.4.2021 hob die Kammer das Urteil des Appellationsgerichts Danzig vom 24.3.2011 auf und wies die Klage des Bf ab. Begründend führte die Kammer im Wesentlichen aus, die außerordentliche Aufhebung sei notwendig, weil das Appellationsgericht offenkundig die Meinungsäußerungsfreiheit des Beklagten missachtet habe. Der Kläger sei eine Person des öffentlichen Lebens, an deren Kollaboration ein hohes Interesse der Öffentlichkeit bestehe. Daher hätte seinem Privatleben nicht der Vorrang eingeräumt werden dürfen. Angesichts des vor dem EGMR anhängigen Verfahrens, dessen Ausgang »leicht vorhersehbar« sei, müsse der Grundsatz der res iudicata hinter die Rechtsstaatlichkeit zurücktreten.

Aufgrund einer einseitigen Erklärung der polnischen Regierung, mit der eine Verletzung von Art 10 EMRK anerkannt wurde, erfolgte am 1.7.2021 die Streichung der von Herrn Wyszkowski erhobenen Beschwerde aus dem Register (Anm: EGMR 1.7.2021, 34282/12 (Wyszkowski gg Polen [ZE]). Da der EGMR nicht über die anhängige außerordentliche Berufung informiert worden war, fand diese keine Berücksichtigung.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 6 Abs 1 (hier: Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht), Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und Art 18 EMRK (Begrenzung der Rechtseinschränkungen).

Zur behaupteten Verletzung des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht

(133) Der Bf brachte unter Art 6 EMRK vor, seine Rechtssache sei von der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] entschieden worden, die kein »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« iSv Art 6 EMRK sei. Zudem behauptete er die fehlende individuelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des als Berichterstatter tätigen Richters Stępkowski. [...]

Zulässigkeit

Unvereinbarkeit ratione materiae

(134) Die Regierung verwies darauf, dass die [...] Beschwerde vom Geltungsbereich des Urteils des Verfassungsgerichts vom 10.3.2022, K 7/21, umfasst sei.

(135) Wie sie betonte, hatte das Verfassungsgericht in diesem Urteil erkannt, dass Art 6 Abs 1 1. Satz EMRK – insofern als er es dem EGMR oder nationalen Gerichten bei der Beurteilung der Erfüllung der Voraussetzung des »auf einem Gesetz beruhenden Gerichts« gestatte, Bestimmungen der Verfassung, Gesetze und Urteile des polnischen Verfassungsgerichts unberücksichtigt zu lassen – mit [näher genannten Bestimmungen] der Verfassung unvereinbar sei. [...]

(136) Die Regierung fügte [...] hinzu, die Wirkung dieses Urteils bestehe darin, dass die genannten Bestimmungen aus dem Rechtsbestand entfernt würden und folglich auch die auf diesen beruhenden Entscheidungen, nämlich die Urteile des GH in den Fällen Broda und Bojara/PL, Reczkowicz/PL, Dolińska-Ficek und Ozimek/PL sowie Advance Pharma sp. z o.o./PL, da diese »für den polnischen Staat nicht die in Art 46 EMRK vorgesehenen Eigenschaften haben«. [...] Die Folgen des Urteils des Verfassungsgerichts könnten nicht als Verletzung des internationalen Rechts [...] angesehen werden, weil es nicht jenen Inhalt der Konventionsbestimmung betreffe, den Polen mit der Ratifikation akzeptiert habe. [...].

(140) Der GH hat sich bereits in Juszczyszyn/PL mit dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 10.3.2022 befasst.

(141) Erstens wurde dieses Urteil von einem Senat erlassen, dem Richter M. Muszyński (M. M.) angehörte. Es stellte einen offensichtlichen Versuch dar, die Umsetzung der Urteile des GH nach Art 46 EMRK in den Rechtssachen Broda und Bojara/PL, Reczkowicz/PL, Dolińska-Ficek und Ozimek/PL sowie Advance Pharma sp. z o.o./PL zu verhindern. Was diesen konkreten Richter betrifft, hat der GH bereits in Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK aufgrund seiner Mitgliedschaft im Senat des Verfassungsgerichts festgestellt [...]. Seine Mitwirkung an dem [...] Urteil vom 10.3.2022 zog daher zwangsweise dessen Gültigkeit und Legitimität in Zweifel.

(142) Des Weiteren [...] ist einzig der GH dazu berufen, über seine eigene Zuständigkeit für die Auslegung und Anwendung der EMRK [...] zu entscheiden. Alle Mitgliedstaaten haben sich an rechtsstaatliche Standards zu halten und ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zu befolgen, einschließlich jener, die sie durch die Ratifikation der EMRK freiwillig eingegangen sind. [...] Wie der GH betont, kann sich ein Staat nach der WVK zur Rechtfertigung für sein Versäumnis, seine völkerrechtlichen Verpflichtungen einzuhalten, nicht auf innerstaatliches Recht, einschließlich seiner Verfassung, berufen [...].

(143) Wie in Juszczyszyn/PL festgestellt, kann folglich angesichts des Grundsatzes der Rechtskraft der Urteile nach Art 46 Abs 1 EMRK das Urteil des Verfassungsgerichts vom 10.3.2022 keine Wirkungen für die rechtskräftigen Urteile des GH in den Fällen Broda und Bojara/PL, Reczkowicz/PL, Dolińska-Ficek und Ozimek/PL sowie Advance Pharma sp. z o.o./PL haben. Genausowenig kann es die vom GH in diesen oder in ähnlichen zukünftigen Fällen vorgenommene Auslegung von Art 6 Abs 1 EMRK beseitigen oder die Unanwendbarkeit dieser Bestimmung auf den vorliegenden Fall bewirken.

(144) Der GH möchte [...] betonen, dass die Anerkennung der Verpflichtungen des Staats nach der Konvention keine selektive sein darf und der Mitgliedstaat – einschließlich seiner höchsten Gerichte – nicht nach Belieben die Anwendung von Konventionsbestimmungen ausschließen kann, indem er sie, wie die Regierung im vorliegenden Fall vorzuschlagen scheint, zusammen mit den bindenden und rechtskräftigen Urteilen des GH aus seiner Rechtsordnung ausschließt. Durch die Ratifikation der EMRK haben die Staaten, wie es in der Präambel heißt, die primäre Aufgabe übernommen, »die Achtung der in dieser Konvention [...] bestimmten Rechte und Freiheiten zu gewährleisten«. Während die Präambel den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Erfüllung dieser Aufgabe anerkennt, untersteht dieser Spielraum der Kontrolle durch den GH. Folglich müssen die Staaten die vertraglich eingeräumte Befugnis des GH nach Art 32 EMRK achten, über alle Angelegenheiten betreffend die Auslegung und Anwendung der Konvention zu entscheiden. [...]

Aus dieser Perspektive betrachtet kann das Urteil des Verfassungsgerichts nur als ein Versuch angesehen werden, die Zuständigkeit des GH nach Art 19 und Art 32 EMRK einzuschränken und damit die rechtsstaatlichen Standards zu untergraben. [...]

(145) Angesichts der vorstehenden Ausführungen muss die sich auf die Anwendbarkeit von Art 6 EMRK beziehende Einrede der Regierung verworfen werden.

Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(146) Die Regierung brachte vor, der Bf habe [...] im Hinblick auf die Aufhebung des Urteils des Appellationsgerichts [...] keine Verfassungsbeschwerde erhoben. [...]

(149) [...] Die Regierung nannte keine spezifischen Bestimmungen, die im Fall des Bf angewendet wurden und die er [...] als verfassungswidrig anfechten hätte können.

(150) Angesichts der allgemeinen Natur der Einrede [...] scheint die Beweislast im vorliegenden Fall nicht erfüllt worden zu sein.

(154) [...] Der GH weist die sich auf das Versäumnis des Bf, eine Verfassungsbeschwerde zu erheben, beziehende Einrede der Regierung zurück.

Schlussfolgerung zur Zulässigkeit

(155) [...] Dieser Teil der Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Zur Erfüllung der Standards eines »unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gerichts« durch die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel

(167) [...] Im Urteil Guðmundur Andri Ástráðsson/IS entwickelte der GH einen drei Kriterien [...] umfassenden Test für die Prüfung, ob die Unregelmäßigkeiten bei einer bestimmten Richterernennung so schwerwiegend waren, dass sie eine Verletzung des Rechts auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht begründeten [...].

(168) Im Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/PL, das konkret die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] betraf, stellte der GH unter anderem Folgendes fest:

(169) Bezüglich des ersten Schritts des Ástráðsson-Tests bemerkte er zwei offensichtliche Verstöße gegen das nationale Recht, die sich nachteilig auf die grundlegenden Verfahrensregeln über die Bestellung von Richtern für diese Kammer [...] auswirkten. Erstens erfolgte die Bestellung aufgrund einer Empfehlung des Landesjustizrats [...], der keine ausreichenden Garantien der Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive bot. [...]

(171) Zum zweiten Verstoß gegen innerstaatliches Recht hielt der GH fest, dass der polnische Staatspräsident die Richter in offensichtlicher Missachtung des Rechtsstaatsprinzips ernannt hatte, obwohl die entsprechende Empfehlung des Landesjustizrats [...] vom Obersten Verwaltungsgericht ausgesetzt worden war und dieses erst ihre rechtliche Gültigkeit prüfte. [...]

(173) Was den zweiten Schritt betrifft, stellte der GH fest, dass die Legislative und die Exekutive [...] entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung des Landesjustizrats gewonnen hatten. [...]

(174) Betreffend den dritten Schritt des Tests stellte der GH fest, dass es nach polnischem Recht kein Verfahren gab, in dem die Bf die behaupteten Mängel bei der Bestellung der Richter für die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] anfechten hätten können.

(175) Im Ergebnis stellte der GH in Dolińska-Ficek und Ozimek/PL fest, dass die [...] Unregelmäßigkeiten im Bestellungsprozess die Legitimität der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] in einem solchen Ausmaß beeinträchtigte, dass [...] es ihr an den Merkmalen eines »Tribunals« fehlt, das iSv Art 6 Abs 1 EMRK »auf Gesetz beruht«. Wie er weiters festhielt, lag aus diesem Grund eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht vor.

(176) In Anbetracht des Vorstehenden und aus denselben Gründen wie in Dolińska-Ficek und Ozimek/PL gelangt der GH im vorliegendem Fall zum Schluss, dass die Kammer [...], welche die umstrittene außerordentliche Berufung prüfte, kein »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« war.

Zur behaupteten fehlenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Richter Stępkowski

(177) [...] Der Bf beantragte ohne Erfolg den Ausschluss von 17 namentlich genannten Richtern, die Mitglieder der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] waren. Die Liste enthielt insb die Namen von Herrn Stępkowski, dem Berichterstatter, und von Herrn Księżak, der in weiterer Folge als Einzelrichter über den Ablehnungsantrag entscheiden sollte. Der Bf brachte im Hinblick auf alle Richter vor, dass der Vorgang ihrer Bestellung aus Sicht der Rechtsstaatlichkeit ernste Zweifel aufwarf, insb weil sie auf Empfehlung des Landesjustizrats ernannt worden waren. [...]

(179) [...] Die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] war gemäß § 26 Abs 1 des Gesetzes über den Obersten Gerichtshof von 2017 in der Fassung der Novelle 2019 neben ihren anderen umfassenden Befugnissen auch zuständig für sämtliche Ablehnungsanträge wegen mangelnder Unbefangenheit von Richtern oder Gerichten. Gemäß § 26 Abs 2 leg cit ist ein Antrag auf Ausschluss eines Richters, der sich – wie im vorliegenden Fall – auf die Rechtmäßigkeit seiner Bestellung oder seine »Befugnis zur Ausübung richterlicher Pflichten« bezieht, von der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] nicht zu prüfen. Im Ergebnis wurden die Befugnisse der Kammer auf alle Angelegenheiten ausgedehnt, welche die Unabhängigkeit der polnischen Justiz betreffen, sodass sie in dieser Hinsicht unbeschränkte Befugnisse erhielt und in der Lage war, die Empfehlungen des Landesjustizrats für die Ernennung von Richtern durch den polnischen Präsidenten vor jeder Anfechtung zu schützen.

(180) Der GH erachtet es vom Standpunkt der Standards des fairen Verfahrens als inakzeptabel, dass die Entscheidung im vorliegenden Fall von jener Person getroffen wurde, die aufgrund des grundlegenden Prinzips nemo iudex in causa sua von der Behandlung der Angelegenheit ausgeschlossen hätte sein müssen. [...] Dies kann nicht als Einzelfall angesehen werden, sondern entspricht, wie oben dargelegt, dem geltenden Recht. Da die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] nicht den Anforderungen der EMRK hinsichtlich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entspricht, gewährt diese rechtliche Lösung keine Garantie dafür, dass die Angelegenheit objektiv behandelt wird.

(181) [...] Die Frage, ob [Richter Stępkowski] zusätzlich, wie vom Bf behauptet, aufgrund seiner individuellen politischen oder sonstigen Ansichten [...] gegen ihn persönlich voreingenommen war, ist als von der obigen Feststellung einer Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK absorbiert anzusehen. [...]

Schlussfolgerung

(182) Angesichts all der obigen Überlegungen kommt der GH zu dem Schluss, das eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK in Bezug auf das Recht des Bf auf ein »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« erfolgt ist (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich des Grundsatzes der Rechtssicherheit

(183) Der Bf behauptete auch, Art 6 Abs 1 EMRK sei durch die außerordentliche Berufung des Generalstaatsanwalts verletzt worden, weil diese auf Bestimmungen beruhte, die mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar seien.

Zulässigkeit

(185) [...] Dieser Teil der Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze der Rsp des GH

(222) [...] Der Grundsatz der Rechtssicherheit kommt [...] unter anderem in der Anforderung zum Ausdruck, dass, wenn die Gerichte eine Angelegenheit rechtskräftig entschieden haben, ihre Entscheidung nicht in Frage gestellt werden darf. Dieser Aspekt der Rechtssicherheit setzt im Allgemeinen die Achtung des res iudicata-Prinzips voraus [...].

(223) Das res iudicata-Prinzip verlangt, dass keine Partei berechtigt ist, eine Überprüfung eines endgültigen und bindenden Urteils zu verlangen, bloß um ein erneutes Verfahren und eine neue Entscheidung des Falls zu erlangen. [...]

(224) Zwar sind die Anforderungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit und die Kraft der res iudicata nicht absolut, doch ist ein Abgehen von diesem Grundsatz nur gerechtfertigt, wenn es durch erhebliche und zwingende Umstände verlangt wird, wie etwa die Korrektur fundamentaler Mängel oder eines Fehlurteils. Diese Begriffe entziehen sich allerdings einer genauen Definition. Der GH muss in jedem Einzelfall entscheiden, inwiefern ein Abgehen vom Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt ist.

(225) Die bloße Erwägung, dass die Entscheidung im Fall des Bf unvollständig oder einseitig war oder dass das Verfahren zu einem fehlerhaften Ergebnis führte, kann für sich genommen in Ermangelung von Zuständigkeitsfehlern oder schwerwiegenden Verstößen gegen das Gerichtsverfahren, von Machtmissbrauch, offensichtlichen Fehlern bei der Anwendung des materiellen Rechts oder anderen gewichtigen Gründen, die sich aus den Interessen der Rechtspflege ergeben, nicht auf das Vorliegen eines grundlegenden Mangels des früheren Verfahrens hinweisen.

(226) In diesem Kontext sind insb die folgenden Überlegungen zu berücksichtigen: die Auswirkung der Wiederaufnahme und des anschließenden Verfahrens auf die individuelle Situation des Bf; ob die Wiederaufnahme auf Antrag des Bf selbst erfolgte; die Gründe [...] für die Aufhebung des Urteils im Fall des Bf; die Übereinstimmung des umstrittenen Verfahrens mit den Anforderungen des nationalen Rechts; das Bestehen und die Anwendung verfahrensrechtlicher Garantien im innerstaatlichen Rechtssystem, die einen Missbrauch dieses Verfahrens durch die innerstaatlichen Behörden verhindern können, und andere relevante Umstände des Falls.

Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

(227) Bevor er die [...] Konsequenzen der Aufhebung des rechtskräftigen Urteils im Fall des Bf beurteilt, wird sich der GH zunächst [...] den allgemeinen Merkmalen der außerordentlichen Berufung zuwenden [...].

Beurteilung der allgemeinen Merkmale der außerordentlichen Berufung

(228) [...] Das Gesetz über den Obersten Gerichtshof von 2017 unterscheidet zwischen dem Generalstaatsanwalt und dem Menschenrechtskommissar auf der einen Seite, die beide jede rechtskräftige gerichtliche Entscheidung anfechten können, und den übrigen öffentlichen Stellen auf der anderen Seite, die dazu nur »im Rahmen ihrer Zuständigkeit« befugt sind. [...]

(229) [Wie die vorliegenden Statistiken zeigen], bestand ein Ungleichgewicht zwischen dem großen Umfang, in dem der Generalstaatsanwalt rechtskräftige Gerichtsentscheidungen anfocht, und dem beschränkten Rückgriff auf das umstrittene Rechtsmittel durch alle anderen [im Gesetz genannten] Personen.

(230) Die Tatsache, dass ein befugtes Organ im Rahmen seiner gesetzlichen Zuständigkeit öfter Gebrauch von einem derartigen außerordentlichen Verfahren macht als andere, kann nicht schlechthin einen Missbrauch seiner Befugnisse oder eine mangelhafte Praxis erkennen lassen. Allerdings ist der Generalstaatsanwalt auch ein aktiver Politiker, der zudem als Mitglied jener Partei, die von 2015 bis 2023 die Regierungskoalition anführte, die Funktion des Justizministers ausübt. Er ist der Hauptverantwortliche für die weitreichende Neuorganisation des polnischen Justizsystems, die 2017 begann und unter anderem die Befugnisse des Justizministers in Bezug auf die interne Organisation der Gerichte und die Bestellung und Absetzung der Präsidenten und Vizepräsidenten von Gerichten erheblich stärkte. Die Reform weitete seine Befugnisse auch in den Bereichen der Beförderung und der Disziplin deutlich aus. Zudem ist bekannt, dass er erheblichen politischen Einfluss auf die Zusammensetzung des Landesjustizrats ausübte [...].

(231) Den Generalstaatsanwalt – der zugleich der Exekutive angehört und in dieser Rolle erhebliche Macht über die Gerichte und einen starken Einfluss auf den Landesjustizrat ausübt – mit der uneingeschränkten Befugnis auszustatten, praktisch jede rechtskräftige gerichtliche Entscheidung anzufechten, schafft unter diesen Umständen mehr als ein bloß hypothetisches Risiko dafür, dass das Rechtsmittel, das theoretisch dazu geschaffen ist, die Grundrechte des Einzelnen zu schützen, in der Praxis zu einem Werkzeug der Exekutive zur politischen Kontrolle über Gerichtsurteile wird.

(232) Gemäß § 89 Abs 1 des Gesetzes über den Obersten Gerichtshof von 2017 kann eine außerordentliche Berufung nur erhoben werden, wenn dies »notwendig ist, um die Einhaltung der Grundsätze eines demokratischen Staats zu gewährleisten, der von der Rechtsstaatlichkeit beherrscht wird und die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit umsetzt« und wenn die fragliche rechtskräftige gerichtliche Entscheidung – die durch keine anderen, im polnischen Recht vorgesehenen außerordentlichen Rechtsmittel aufgehoben oder geändert werden kann – »die Grundsätze der in der Verfassung verankerten Rechte und Freiheiten jedes Menschen und Bürgers verletzt« und/oder »das Recht durch seine falsche Anwendung oder Auslegung grob verletzt« und/oder »ein offensichtlicher Widerspruch zwischen den entscheidenden Feststellungen des Gerichts und dem Inhalt der im Akt gesammelten Beweise besteht«.

(233) Noch bevor diese Bestimmung [...] in Kraft trat, äußerten verschiedene europäische Institutionen [insb die OSZE, die Venedig-Kommission und die Europäische Kommission] ernste Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit der Rechtsstaatlichkeit. [...]

(234) Nach dem Inkrafttreten kam weitere Kritik aus anderen Quellen [wie GRECO und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats].

(235) Der GH schließt sich diesen Ansichten an. Besondere Sorge bereiten ihm die folgenden Elemente:

Erstens besteht eine der Voraussetzungen für die Erhebung einer außerordentlichen Berufung in der Notwendigkeit, die Einhaltung der Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit zu gewährleisten. Der Begriff »soziale Gerechtigkeit« [...] ist vage und allgemeiner Natur [...]. Seine Auslegung unterliegt daher einem weiten Ermessen. Verständnis und Auslegung dieses Begriffs können [...] erheblich variieren, was zu mangelnder Klarheit über seine Bedeutung [...] führt. Ein so weites Ermessen der öffentlichen Organe, die zur Erhebung einer außerordentlichen Berufung befugt sind, und der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] leistet möglicher Willkür, einem Fehlgebrauch des Rechtsmittels und Prozessmissbrauch Vorschub. Folglich entspricht die umstrittene Bestimmung nicht den Anforderungen der Konvention an die Qualität des »Rechts« [...].

Zweitens kann die rechtskräftige Entscheidung angefochten werden, weil »ein offensichtlicher Widerspruch zwischen den entscheidenden Feststellungen des Gerichts und dem Inhalt der im Akt gesammelten Beweise besteht«. Dies bedeutet in der Praxis, dass in zivilrechtlichen Fällen selbst viele Jahre nach den Ereignissen die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] als Tatsachengericht dritter oder vierter Instanz handeln kann, obwohl die unteren Gerichte den Sachverhalt aufgrund der von ihnen direkt aufgenommenen Beweise bereits festgestellt haben. Diese Lösung untergräbt sowohl die Stabilität rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen als auch die legitime Erwartung des Einzelnen, gesetzlich vor wiederholten Rechtsstreitigkeiten in bereits endgültig entschiedenen Angelegenheiten geschützt zu werden. Dies entlarvt die außerordentliche Berufung als eine verkleidete ordentliche Berufung, mit der in Verstoß gegen das res iudicata-Prinzip eine neue Prüfung einer Rechtssache erreicht werden kann.

(236) Die allgemeine Frist für die Erhebung einer außerordentlichen Berufung beträgt [...] fünf Jahre ab dem Datum, an dem die angefochtene Entscheidung rechtskräftig wurde. [...] Allerdings gilt diese fünfjährige Frist nach der Übergangsbestimmung [...] nicht für den Generalstaatsanwalt und den Menschenrechtskommissar. Sie konnten [...] damals innerhalb von drei Jahren (und derzeit binnen sechs Jahren) ab Inkrafttreten des Gesetzes über den Obersten Gerichtshof von 2017 am 3.4.2018 – und können somit nach wie vor – eine außerordentliche Berufung gegen jede gerichtliche Entscheidung erheben, die vor Inkrafttreten des Gesetzes rechtskräftig wurde. Diese Befugnis erstreckt sich auf Entscheidungen, die ab 17.10.1997 erlassen wurden.

(237) Vor diesem Hintergrund [...] erachtet der GH die von der Übergangsbestimmung getroffenen Ausnahmen als unvereinbar mit den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit, insb mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit, der res iudicata und der Vorhersehbarkeit des Rechts. Aus Sicht der Rechtsstaatlichkeit ist es undenkbar, rückwirkend ein Rechtsmittel einzuführen, das die Wiederaufnahme einer Rechtssache erlaubt, die vor Inkrafttreten der neuen Bestimmungen rechtskräftig gerichtlich entschieden wurde, also [...] zur Zeit der endgültigen Entscheidung keiner weiteren gerichtlichen Überprüfung mehr unterlag. Die Möglichkeit des Generalstaatsanwalts und des Kommissars, während einer erheblichen, nach wie vor andauernden Zeitspanne die Änderung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilrechtssachen zu fordern, die mehr als 20 Jahre vor Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen wurden, ist besonders alarmierend und kann nicht durch irgendeine plausible Notwendigkeit [...] gerechtfertigt werden.

(238) Wenn einer außerordentlichen Berufung stattgegeben wird, [...] hebt die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] die angefochtene Entscheidung zur Gänze oder teilweise auf und entscheidet [...] entweder selbst in der Sache oder verweist die Sache zur neuerlichen Prüfung zurück an das zuständige Gericht [...]. Sie kann das Verfahren auch einstellen. [...]

Die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] hat damit Befugnisse, die jener eines Kassationsgerichts gleichen. Allerdings kann sie in Fällen, in denen ein erhebliches Abweichen vom Akteninhalt behauptet wird, auch als Tatsacheninstanz agieren. Angesichts der obigen Schlussfolgerungen [...] werfen die Befugnisse der Kammer [...], die es ihr praktisch erlauben, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren gänzlich zu beseitigen, ernste Bedenken im Hinblick auf das Prinzip der Rechtssicherheit auf.

(239) Wie der GH bereits [...] festgestellt hat, beeinträchtigten die Unregelmäßigkeiten bei der Bestellung ihrer Richter die Legitimität der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] derart, dass es ihr an den Merkmalen eines »unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gerichts« fehlt. Folglich ist die Prüfung eines außerordentlichen Rechtsmittels, das für die betroffene Person weitreichende, nachteilige und oft irreversible rechtliche Folgen haben kann, einschließlich der Beseitigung einer in ihrer Sache ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, und das schwere Mängel hinsichtlich des Prinzips der Rechtssicherheit aufweist, einem Spruchkörper anvertraut, der nicht als »Tribunal« iSd Konvention angesehen werden kann. Eine solche Situation, die derzeit durch die Urteile des Verfassungsgerichts vom 24.11.2021 (K 6/21) und vom 10.3.2022 (K 7/21) aufrechterhalten wird, verursacht ein allgemeines, systemisches Problem im polnischen Justizsystem, das vom belangten Staat rasche

und angemessene Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vereinbarkeit mit der Konvention verlangt.

Die im Fall des Bf erhobene außerordentliche Berufung und das Urteil der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel

(240) Der Sachverhalt im Fall des Bf veranschaulicht die oben dargelegten Defizite des Verfahrens über außerordentliche Berufungen.

(241) Zunächst machte der Generalstaatsanwalt von seiner Sonderbefugnis Gebrauch [...], die ihm die Erhebung einer außerordentlichen Berufung [...] außerhalb jeder normalerweise zulässigen Frist gestattete. [...]

(242) [...] Obwohl der Generalstaatsanwalt auf eine Verletzung der [...] Meinungsäußerungsfreiheit als übergeordnetem Grund für seine Berufung verwies, richteten sich seine Argumente in Wirklichkeit gegen die Tatsachenfeststellungen und die Beweiswürdigung durch das Appellationsgericht [...]. Zudem bestand er auf der »Wahrheit« der Behauptung von Herrn Wyszkowski, die dem Bf eine Kollaboration mit dem Geheimdienst unterstellte, und sagte, diese Tatsache sei vor Gericht bewiesen worden.

Nach Ansicht des GH deuten diese Elemente darauf hin, dass das Rechtsmittel vom Generalstaatsanwalt als eine »verkleidete ordentliche Berufung« verwendet wurde, die auf eine erneute Prüfung desselben Sachverhalts und derselben Angelegenheit in einem neuen Verfahren abzielte und dem Beklagten des ursprünglichen Verfahrens [...] noch eine Chance auf eine neue Entscheidung über seine zivilrechtliche Haftung geben sollte, nachdem er den Fall verloren hatte.

(243) Die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] erachtete ihrerseits das Urteil des Appellationsgerichts als eklatanten Verstoß gegen die [...] Meinungsäußerungsfreiheit [...]. [...]

(244) Zugleich stellte die Kammer [...] fest, dass der Bf nicht vom Schutz des Art 8 EMRK profitieren könne, da sich die Äußerungen von Herrn Wyszkowski streng genommen nicht auf sein Privatleben bezogen, sondern »auf seine Beziehungen zu den speziellen Diensten eines totalitären Staats«. [...]

(245) Für den GH bleibt zu prüfen, ob das Abweichen vom Grundsatz der res iudicata im vorliegenden Fall durch »wesentliche und zwingende Umstände« gerechtfertigt war.

(246) [...] Als der Generalstaatsanwalt seine außerordentliche Berufung erhob, war der Fall des Bf bereits seit mehr als neun Jahren durch das rechtskräftige Urteil des Appellationsgerichts Danzig vom 24.3.2011 abgeschlossen, nachdem er sechs Mal (drei Mal in erster und drei Mal in zweiter Instanz) geprüft worden war [...]. Es kann daher nicht gesagt werden, der Fall wäre nicht gründlich aus verschiedenen Blickwinkeln geprüft worden oder der Beklagte hätte [...] keine ausreichende Zeit oder Gelegenheit gehabt, seine Verfahrensrechte auszuüben, Beweise vorzubringen oder seinen Standpunkt auf andere Weise darzulegen. Es ist auch anzumerken, dass die folgenden wiederholten Versuche von Herrn Wyszkowski, das Urteil vom 24.3.2011 anzufechten, erfolglos blieben [...].

(247) Die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel berücksichtigte, dass das Urteil schwerwiegende und aus Sicht der Verfassung und des Art 10 EMRK unverhältismäßige Sanktionen über Herrn Wyszkowski verhängt hatte. Allerdings war die einzige Sanktion nach dem Urteil die Entschuldigung, zu deren Veröffentlichung er verpflichtet wurde, was er jedoch stets verweigert hatte [...]. [...]

(248) Im Kontext der Notwendigkeit [...], das Urteil des Appellationsgerichts aufzuheben, verwies die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] auch auf den vor dem GH anhängigen Fall von Herrn Wyszkowski und deutete an, ein Ausgang zu seinen Gunsten sei angesichts ihrer eigenen Feststellungen vorhersehbar. Die Regierung fügte [...] hinzu, diese Notwendigkeit resultiere aus der Verpflichtung, individuelle Maßnahmen zu setzen, um die Folgen der von ihr in Wyszkowski/PL eingeräumten Verletzung von Art 10 EMRK zu beseitigen.

(249) Der GH nimmt folgenden Ablauf der Ereignisse zur Kenntnis. Der Generalstaatsanwalt erhob seine außerordentliche Berufung am 31.1.2020. Die Regierung übermittelte ihre einseitige Erklärung am 15.1.2021. Die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...], die zumindest in einem gewissen Umfang über den Inhalt der Rechtssache Wyszkowski/PL und das Verfahren vor dem GH informiert war, gab der außerordentlichen Berufung am 21.4.2021 statt. Die Entscheidung des GH über die Streichung der Beschwerde wurde am 1.7.2021 zugestellt. Das Urteil der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel erging somit mehr als zwei Monate vor der Entscheidung des GH [...] und konnte daher nicht wie von der Regierung behauptet als Form der Umsetzung dieser Entscheidung angesehen werden, war sie doch noch gar nicht ergangen. Selbst wenn das Urteil dazu gedacht war, das von der Regierung abgegebene Zugeständnis einer Verletzung umzusetzen, war die einseitige Erklärung vom GH zu diesem Zeitpunkt noch nicht anerkannt worden.

Zudem war der GH nicht über die innerstaatlichen Entwicklungen informiert und hatte keine Kenntnis vom günstigen Ausgang des Verfahrens, über das sich Herr Wyszkowski beschwert hatte [...].

(250) In Anbetracht des Vorstehenden kann der GH keine zwingenden Umstände erkennen, die für die Anfechtung des im Fall des Bf ergangenen rechtskräftigen Urteils sprechen. Insb kann nicht gesagt werden, dass die außerordentliche Berufung dazu diente, irgendwelche grundlegenden Mängel des Verfahrens vor den unteren Gerichten zu korrigieren, wie einen Prozessmissbrauch, offenkundige Fehler bei der Anwendung des materiellen Rechts oder schwerwiegende Verstöße gegen das gerichtliche Verfahren, die zu einem Fehlurteil geführt hätten. Wie der GH an diesem Punkt betonen möchte, hat nach Art 6 EMRK keine Partei ein Recht darauf, eine Überprüfung eines endgültigen und bindenden Urteils zu verlangen, nur um eine neuerliche Behandlung und eine neue Entscheidung der Rechtssache herbeizuführen [...].

(251) Diese Schlussfolgerung würde den GH normalerweise davon befreien, die weiteren vom Bf behaupteten Mängel des Verfahrens vor der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] zu prüfen [...].

Allerdings möchte der GH im Kontext von Art 18 EMRK auf die Argumente des Bf eingehen, die sich zugleich auf die Frage beziehen, ob es wesentliche und zwingende Umstände gab, welche die außerordentliche Berufung in seinem Fall rechtfertigten. Insb behauptete er, der Generalstaatsanwalt habe die außerordentliche Berufung erhoben, um sich an ihm als politischen Gegner und lautstarken Kritiker sowohl des Generalstaatsanwalts als auch der Regierung zu rächen [...].

(252) [...] Der Fall des Bf kann tatsächlich nicht von seinem politischen Hintergrund und [...] dem langen und öffentlichen Konflikt zwischen dem Bf und der Führung der PiS [...] losgelöst werden [...]. Einer der zentralen Streitpunkte war die behauptete Kollaboration des Bf mit dem kommunistischen Sicherheitsdienst. [...] Die schwersten Anschuldigungen [...] waren von der PiS und ihren Unterstützern sowie vom Generalstaatsanwalt selbst gekommen.

(253) Wie aus dem Material hervorgeht, das dem GH vorliegt, spielte Herr Wyszkowski lange Zeit eine Schlüsselrolle bei der öffentlichen Verbreitung dieser Vorwürfe. Es ist auch offensichtlich, dass er politisch eng mit der Führung der PiS verbunden ist [...].

In seiner außerordentlichen Berufung machte der Generalstaatsanwalt seine feste Überzeugung klar, dass Herr Wyszkowski im umstrittenen Verfahren die Wahrheit seiner Behauptungen über eine Kollaboration des Bf mit dem kommunistischen Sicherheitsdienst bewiesen hatte. Selbst wenn diese Ansicht damals bestimmt kein Geheimnis war, ist es eine Sache, feste und feindselige Meinungen über einen politischen Gegner zu haben und eine andere, diese Meinungen mittels gerichtlicher Mechanismen des Staats zu verfolgen, indem man seine gesetzlichen Sonderbefugnisse nutzt, um im Fall einer politisch eng verbundenen Person die Rechtskraft eines ungünstigen Urteils anzufechten.

Aufschlussreich ist auch, dass der Generalstaatsanwalt nach dem Urteil der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel seine große Genugtuung über den Ausgang des Verfahrens zum Ausdruck brachte [...].

(254) [...] Nach der Stellungnahme der Regierung hatte der Generalstaatsanwalt [...] als eine die Rechtsstaatlichkeit verteidigende Behörde gehandelt. Die Umstände des vorliegenden Falls beweisen allerdings das Gegenteil. In Wirklichkeit zeigen sie [...] den Missbrauch des rechtlichen Verfahrens durch das staatliche Organ zur Verfolgung seiner eigenen politischen Ansichten und Motive.

(255) In Anbetracht all der vorstehenden Überlegungen sieht der GH im vorliegenden Fall keine wesentlichen und zwingenden Umstände, die ein Abgehen vom res iudicata-Prinzip rechtfertigen würden.

(256) Folglich hat eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 13 EMRK

(258) [...] Das Beschwerdevorbringen unter Art 13 EMRK stimmt im Wesentlichen mit jenem unter Art 6 Abs 1 EMRK überein. [...] Die Garantien des Art 6 Abs 1, der die gesamte Bandbreite eines gerichtlichen Verfahrens beinhaltet, sind strenger als jene des Art 13 und absorbieren diese.

(259) Folglich erachtet es der GH nicht als notwendig, die [...] Beschwerde gesondert unter Art 13 EMRK zu prüfen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

(260) Unter Berufung auf Art 8 EMRK brachte der Bf vor, die Abänderung des in seinem Fall ergangenen rechtskräftigen Urteils, die seinen guten Ruf und sein Privatleben betroffen habe, begründe einen unrechtmäßigen Eingriff in sein Privatleben. [...]

Zulässigkeit

(271) [...] Das Privatleben und folglich der gute Ruf einer Person [...] wird nicht aus dem Schutz von Art 8 EMRK ausgenommen, bloß weil sie Gegenstand oder Teilnehmer einer öffentlichen Debatte oder aus irgendeinem Grund der Öffentlichkeit bekannt ist. Dies gilt auch für einen Politiker, wenngleich dieser ein höheres Maß an Toleranz gegenüber Kritik an den Tag legen [...] und damit rechnen muss, dass seine Privatsphäre einschließlich seines Ansehens stärker der Öffentlichkeit, Kritik und Angriffen durch seine Gegner ausgesetzt ist [...]. Die Tatsache, dass es sich beim Bf um eine allgemein bekannte Person des öffentlichen Lebens handelt, kann daher für die Anwendbarkeit von Art 8 EMRK nicht ausschlaggebend sein.

(272) Entscheidend ist jedoch, ob die Folgen des umstrittenen Verfahrens ausreichend schwerwiegende Auswirkungen auf sein Recht auf Achtung seines guten Rufs hatten. Zweifellos ist der Bf eine der berühmtesten Personen der polnischen Zeitgeschichte. Er wird in Polen und weltweit wegen seiner Führung der Gewerkschaft Solidarność, antikommunistischen Aktivitäten – für die ihm 1993 der Nobelpreis verliehen wurde – und seinen Beitrag zur Überwindung des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1989–1990 anerkannt. Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass die von Herrn Wyszkowski geäußerten Anschuldigungen einer bezahlten Kollaboration mit dem kommunistischen Geheimdienst in den 1970er Jahren [...] den Kern dessen betrafen, was im Allgemeinen als sein Lebenswerk [...] angesehen wird.

Folglich war der Ausgang des Verfahrens vor der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] geeignet, den guten Ruf des Bf erheblich zu schädigen, was Art 8 EMRK ins Spiel bringt. [...]

(273) [...] Dieses Beschwerdevorbringen ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Es muss folglich für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(284) Wie oben dargelegt, wirkte sich die Änderung des Urteils des Appellationsgerichts Danzig vom 24.3.2011 in erheblichem Grad nachteilig auf das Privatleben des Bf aus. Sie stellte daher einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens dar. Ein solcher Eingriff verstößt gegen Art 8 EMRK, es sei denn, er [...] ist »gesetzlich vorgesehen«, dient einem [...] legitimen Ziel und ist »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig«, um dieses Ziel [...] zu erreichen.

(289) Das Urteil der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] beruhte auf dem Gesetz über den Obersten Gerichtshof von 2017 [...]. Auch wenn der Eingriff auf einer Grundlage im innerstaatlichen Recht beruhte, stellt sich allerdings die Frage, ob er rechtmäßig iSd Konvention war, insb ob der relevante rechtliche Rahmen in seiner Anwendung vorhersehbar und mit der Rechtsstaatlichkeit vereinbar war und ob der Entscheidungsprozess insgesamt betrachtet dem Bf ausreichende Garantien gegen Willkür bot [...].

(290) Der GH hat bereits eine Verletzung des Rechts des Bf auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 EMRK festgestellt. Erstens wurde der Fall von der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] behandelt, einem Spruchkörper, der nicht als »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« angesehen werden kann [...]. [...] Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ist eine Voraussetzung und eine fundamentale Garantie der Rechtsstaatlichkeit. [...] Die institutionellen Anforderungen von Art 6 Abs 1 EMRK zielen auf die Wahrung der fundamentalen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltentrennung ab. Damit ein Eingriff in die durch Art 8 EMRK garantierten Rechte als »gesetzlich vorgesehen« angesehen werden kann, muss er daher aufgrund des Rechtsstaatsprinzips von einem Spruchkörper ausgehen, der selbst »rechtmäßig« iSd Konvention ist. Schon alleine aus diesem Grund kann der behauptete Eingriff nicht als »gesetzlich vorgesehen« angesehen werden.

(291) Allerdings liegt noch ein weiterer Verstoß gegen die Anforderung einer gesetzlichen Grundlage vor, der sich aus der zweiten vom GH festgestellten Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ergibt. In seinen Überlegungen zu den allgemeinen Merkmalen der außerordentlichen Berufung und den Umständen des Falls des Bf stellte der GH die Unvereinbarkeit dieses Rechtsmittels mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der res iudicata fest. Insb stellte er fest, dass die Fristen für die Erhebung einer außerordentlichen Berufung durch den Generalstaatsanwalt [...] nicht nur gegen die genannten Grundsätze verstoßen, sondern auch der von der EMRK geforderten Vorhersehbarkeit des Rechts [...] nicht entsprechen. Zudem stellte er Anzeichen für einen Missbrauch der außerordentlichen Berufung [...] aus politischen Motiven [...] fest.

(292) Die vorstehenden Überlegungen reichen für den GH für die Schlussfolgerung aus, dass der umstrittene Eingriff nicht »gesetzlich vorgesehen« war [...].

(293) [...] Folglich hat eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 18 iVm Art 6 und Art 8 EMRK

(294) Zuletzt brachte der Bf unter Art 18 EMRK vor, dass die Erhebung der außerordentlichen Berufung durch den Generalstaatsanwalt [...] nicht irgendwelchen legitimen Interessen [...] gedient habe, sondern der politischen Vergeltung. [...]

(307) [...] Der GH ist der Ansicht, dass er die von der gegenständlichen Beschwerde aufgeworfenen wesentlichen Rechtsfragen geprüft hat und es [...] nicht erforderlich ist, gesondert unter Art 18 iVm Art 6 Abs 1 und Art 8 EMRK über die [...] Beschwerde zu entscheiden.

Anwendung von Art 46 EMRK

Anwendung des Piloturteilsverfahrens

(319) Der vorliegende Fall ist nach einer Reihe von Urteilen des GH zu prüfen, die sich auf die 2017 begonnene Justizreform in Polen beziehen. Wie der GH in Grzęda/PL feststellte, zeigte die gesamte Abfolge der Ereignisse lebhaft, dass die [...] Justizreformen darauf abzielten, die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit zu schwächen. [...] Im Ergebnis [...] wurde die Gerichtsbarkeit [...] dem Zugriff der exekutiven und der legislativen Gewalt ausgesetzt und erheblich geschwächt.

(320) Seit Erlass des Urteils im Fall Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL am 7.5.2021 bis zum Beschluss des vorliegenden Urteils hat der GH in zehn Urteilen [...], die sich auf verschiedene Aspekte der Justizreform in Polen bezogen, aus verschiedenen Gründen eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK festgestellt [...]. Die meisten dieser Urteile betreffen einen Verstoß gegen das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht aufgrund der Beteiligung des neuen Landesjustizrats an der Ernennung von Richtern des Obersten Gerichtshofs.

(323) Derzeit [...] sind 492 Verfahren anhängig, die sich auf die polnische Justizreform beziehen [...]. Die meisten davon betreffen eine behauptete Verletzung des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht [...] durch die Behandlung der Rechtssachen der Bf durch Richter [...], an deren Ernennung der Landesjustizrat [...] beteiligt war. Auch wenn derzeit nur wenige Beschwerden beim GH anhängig sind, die sich auf die außerordentliche Berufung beziehen, offenbart eine doppelte Verletzung von [...] Art 6 Abs 1 EMRK, wie sie oben festgestellt wurde, eine ernste systemische Situation, die fortlaufend zahlreiche Personen betreffen kann. Diese Situation besteht in mehreren miteinander verwobenen systemischen Problemen im innerstaatlichen Recht und in der Praxis. Jedes von ihnen resultiert jedoch einzeln oder in Verbindung mit einem anderen in einer Verletzung des durch Art 6 Abs 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren oder kann eine solche in der Zukunft

nach sich ziehen.

(324) Folgende systemischen Probleme liegen an der Wurzel der im gegenständlichen Fall festgestellten Verletzungen von Art 6 Abs 1 EMRK:

(a) Das primäre Problem besteht im mangelhaften Verfahren der Richterernennung unter Beteiligung des 2017 [...] eingerichteten Landesjustizrats, das die Unabhängigkeit der so bestellten Richter grundsätzlich und fortlaufend beeinträchtigt. [...]

(b) Die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...], hat die ausschließliche Kompetenz für die Behandlung jedes Antrags auf Ablehnung eines Richters [...]. Dies garantiert [...] nicht, dass die Angelegenheit objektiv behandelt wird, da die Richter dieser Kammer [...] selbst nicht über die erforderliche Unabhängigkeit verfügen. In Fällen, in denen ihre eigene Unparteilichkeit wegen ihrer mangelhaften Bestellung angefochten wird, sind sie Richter in eigener Sache, was dem grundlegenden Prinzip nemo iudex in causa sua widerspricht.

(c) Das derzeitige Verfahren der außerordentlichen Berufung [...] ist aufgrund mehrerer oben dargelegter Mängel unvereinbar mit den Standards des fairen Verfahrens und mit dem Prinzip der Rechtssicherheit [...].

(d) Die außerordentlichen Berufungen werden von der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel geprüft, der die ausschließliche Zuständigkeit dafür zukommt. Dies schafft eine Situation, in der die anfängliche Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK fortlaufend durch die nachfolgende verstärkt wird, weil die Befugnis zur Entscheidung über ein mit den Standards des fairen Verfahrens und dem Grundsatz der Rechtssicherheit [...] unvereinbares Rechtsmittel einem Spruchkörper anvertraut wurde, der kein »auf Gesetz beruhendes Gericht« iSv Art 6 Abs 1 EMRK ist [...].

Diese miteinander verwobenden systemischen Probleme bringen daher wiederholte Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltentrennung und der Unabhängigkeit der Justiz mit sich.

(325) Überdies hat das Verfassungsgericht [...] diesen Zustand der fortgesetzten Unvereinbarkeit mit der EMRK durch eine Reihe von Urteilen [...] perpetuiert, mit denen es versucht, die Umsetzung der sich auf die Unabhängigkeit der Justiz und das mangelhafte Verfahren der Richterernennungen beziehenden Urteile des GH zu untergraben und zu verhindern. Parallel dazu hat das Verfassungsgericht Urteile erlassen, mit denen der Vorrang des Unionsrechts und die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH bestritten werden [...]. Diese Urteile sind derzeit Gegenstand des von der Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens.

(326) In diesem Kontext möchte der GH auch auf die Entscheidung des Ministerkomitees [...] im Rahmen der Umsetzung der Urteile der sogenannten »Reczkowicz-Gruppe« hinweisen, in der es schwere Besorgnis darüber zum Ausdruck brachte, dass sich die polnischen Behörden hartnäckig auf das Urteil des Verfassungsgerichts vom 22.3.2022 (K 7/21) stützen, um die Nichtumsetzung von Urteilen zu rechtfertigen [...].

(327) In Anbetracht des Vorstehenden und [...] des in den letzten 18 Monaten zu beobachtenden [...] Anwachsens der Zahl an Beschwerden, die sich auf die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit in Polen beziehen und insb eine Verletzung des Rechts auf ein »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« behaupten, sowie der Ernsthaftigkeit der [...] »Rechtsstaatskrise«, von der zahlreiche bislang nicht namentlich bekannte Personen betroffen sein können, droht nach Ansicht des GH eine rasche Verschlimmerung der oben dargelegten systemischen Probleme, die daher dringend nach Abhilfe verlangen. Der GH gelangt daher zu dem Schluss, dass der vorliegende Fall für die Anwendung des Piloturteilsverfahrens geeignet ist [...].

Allgemeine Maßnahmen

(328) Der GH hat dem belangten Staat bereits in Dolińska-Ficek und Ozimek/PL gewisse Anleitungen nach Art 46 EMRK gegeben. Angesichts seiner fehlenden Reaktion darauf und seines Verhaltens bei der Umsetzung der die Unabhängigkeit der Justiz betreffenden Urteile [...] ist der GH nun aufgefordert, detailliertere Hinweise betreffend die allgemeinen Maßnahmen zu geben, die im Hinblick auf das festgestellte systemische Problem zu ergreifen sind.

(329) Was das mangelhafte Verfahren zur Ernennung von Richtern betrifft, bekräftigt der GH die dem belangten Staat vom Ministerkomitee [...] gegebenen Hinweise, mit denen es Polen unter anderem ermahnte, rasch Maßnahmen zu entwickeln, um (i) die Unabhängigkeit des Landesjustizrats durch eine Gesetzesänderung wiederherzustellen, die das Recht der [...] Gerichtsbarkeit gewährleistet, dessen richterliche Mitglieder zu wählen; (ii) sich mit dem Status aller in einem mangelhaften Verfahren unter Beteiligung des Landesjustizrats in seiner Zusammensetzung gemäß der Gesetzesänderung von 2017 ernannten Richter sowie mit sämtlichen mit deren Beteiligung getroffenen Entscheidungen zu befassen; und (iii) eine effektive gerichtliche Überprüfung der Resolutionen des Landesjustizrats sicherzustellen, mit denen dem Staatspräsidenten Richterernennungen vorgeschlagen werden [...].

(330) Was die Funktionsweise der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel [...] betrifft, bemerkt der GH, dass diese ausschließlich mit Richtern besetzt ist, die im mangelhaften Verfahren bestellt wurden. Auch wenn die Klärung ihres Status [...] zum Teil von den oben genannten allgemeinen Maßnahmen umfasst sein dürfte, sollte der belangte Staat daher zusätzlich angemessene legislative Maßnahmen treffen um sicherzustellen, dass dieser Spruchkörper den Anforderungen eines »unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gerichts« [...] entspricht. Dies ist angesichts der zentralen Bedeutung des Obersten Gerichtshofs in der polnischen Justiz und der umfassenden Kompetenzen der Kammer [...] von entscheidender Bedeutung. [...] Es versteht sich von selbst, dass Polen sicherstellen muss, dass Angelegenheiten, die sich auf die Unabhängigkeit von Richtern beziehen, von einem Gericht [...] entschieden werden, das im Licht der Konventionsstandards selbst als »unabhängiges und unparteiisches,

auf Gesetz beruhendes Gericht« angesehen werden kann.

(331) Was schließlich [...] die außerordentliche Berufung betrifft, muss der Staat angemessene legislative Maßnahmen ergreifen, um die [...] Mängel dieses [...] Rechtsmittels zu beheben. Insb muss der belangte Staat die rechtlichen Bestimmungen aufheben oder ändern, die (i) den betroffenen Organen uneingeschränktes Ermessen bei der Auslegung der Gründe für eine außerordentliche Berufung einräumen; (ii) diesen Organen die praktische Verwendung des Verfahrens der außerordentlichen Berufung als eine »verkleidete ordentliche Berufung« und dem entscheidenden Spruchkörper eine Neubewertung des Falls einschließlich der Tatsachen erlauben; und (iii) dem Generalstaatsanwalt und dem Menschenrechtskommissar Sonderfristen [...] einräumen. Zudem muss der belangte Staat (iv) Sicherstellungen gegen einen Missbrauch der [...] außerordentlichen Berufung einführen, die insb die Instrumentalisierung dieses Verfahrens für politische Zwecke ausschließen.

(332) Es ist nicht Aufgabe des GH, noch genauer darzulegen, was der angemessenste Weg zur Beendigung der oben beschriebenen systemischen Situation wäre. Nach Art 46 EMRK steht es dem Staat frei, die Mittel zu wählen, mit denen er seinen aus der Umsetzung der Urteile des GH erwachsenden Verpflichtungen nachkommt. Es wird Sache des belangten Staats sein, die gebotenen Schlussfolgerungen aus dem vorliegenden Urteil zu ziehen und die angemessenen generellen Maßnahmen zu ergreifen [...], um ähnliche Verletzungen in der Zukunft zu vermeiden.

Verfahren in Folgefällen

(335) [...] Von den 492 anhängigen Beschwerden wurden bereits 202 der belangten Regierung zur Stellungnahme übermittelt. Der größte Teil davon betrifft eine behauptete Verletzung des Rechts auf ein »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« aufgrund der Tatsache, dass die unterschiedlichen gerichtlichen Spruchkörper [...] auch mit Richtern besetzt waren, die auf Empfehlung des Landesjustizrats [...] ernannt worden waren. Es ist daher klar, dass dem polnischen Staat und dem Ministerkomitee der große Umfang des primären systemischen Problems [...] bekannt ist. [...] Nach Ansicht des GH sind ähnliche Fälle, in denen noch keine Zustellung [an die Regierung] erfolgt ist, für ein Jahr ab dem Datum [...] des vorliegenden Urteils auszusetzen [...]. Die Entscheidung über das weitere Vorgehen in diesen Fällen wird im Licht der künftigen Entwicklungen auf innerstaatlicher Ebene, sofern es zu diesen kommt, erfolgen. In jenen Rechtssachen, in denen bereits eine Zustellung erfolgt ist und die entscheidungsreif sind, wird der GH hingegen weiterhin Urteile erlassen. Auch wird er der Regierung weiterhin Beschwerden zur Stellungnahme übermitteln, die andere Angelegenheiten im Kontext der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit aufwerfen.

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 30.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Broniowski/PL, 22.6.2004, 31443/96 (GK) = NL 2004, 135 = EuGRZ 2004, 472 = ÖJZ 2006, 130

Guðmundur Andri Ástráðsson/IS, 1.12.2020, 26374/18 (GK) = NLMR 2020, 468

Gestur Jónsson und Ragnar Halldór Hall/IS, 22.12.2020, 68273/14, 68271/14 (GK) = NLMR 2020, 479

Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL, 7.5.2021, 4907/18 = NLMR 2021, 240

Broda und Bojara/PL, 29.6.2021, 26691/18, 27367/18

Reczkowicz/PL, 22.7.2021, 43447/19 = NLMR 2021, 322

Dolińska-Ficek und Ozimek/PL, 8.11.2021, 49868/19, 57511/19

Advance Pharma sp. z o.o./PL, 3.2.2022, 1469/20

Grzęda/PL, 15.3.2022, 43572/18 (GK) = NLMR 2022, 109

Juszczyszyn/PL, 6.10.2022, 35599/20

Tuleya/PL, 6.7.2023, 21181/19, 51751/20 = NLMR 2023, 339

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.11.2023, Bsw. 50849/21, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 549) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise