Bsw56896/17 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Laurijsen ua gg die Niederlande, Urteil vom 21.11.2023, Bsw. 56896/17.
Spruch
Art 11 EMRK - Ungerechtfertigte Verhängung einer Geldstrafe wegen Teilnahme an einer Protestkundgebung.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art 11 EMRK (einstimmmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: Jeweils € 100,– an jeden Bf für materiellen und immateriellen Schaden. Jeweils € 562,– für Kosten und Auslagen für Herrn Laurijsen (Bsw 56896/17), Frau Springer (56910/17) und Frau Koenen (Bsw 56917/17). € 363,– für Frau Van Oostrum und € 419,– für Frau Segal für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf handelt es sich um fünf niederländische Staatsangehörige, die an einer Versammlung zugunsten von Hausbesetzern in Amsterdam teilnahmen.
Am 10.5.2011 verständigte die örtliche Staatsanwaltschaft die Besetzer eines für das »Scheinheiligen-Festival« (Anm: Es handelt sich dabei um eine Veranstaltung der Amsterdamer Subkultur.) genutzten Hauses (im Folgenden: das »Scheinheiligengebäude«) über eine vor oder am 5.7.2011 anvisierte Zwangsräumung. Am 1.7.2011 erging ein Aufruf an Sympathisanten, sich vor dem Gebäude zu versammeln, »um eine spektakuläre Kundgebung gegen eine leere Stadt abzugeben und einen Aufruf für Plätze zu starten, an denen die Kreativität und nicht die Macht des Geldes im Vordergrund stehen.« Ferner war zu lesen: »Die ›Mobile Einheit‹ (Anm: Das ist eine Spezialtruppe der Polizei.) wird um 06:00 Uhr eintreffen. Die Kundgebung wird so lange dauern, bis die ›Mobile Einheit‹ zur Vernunft gekommen ist.« Am nächsten Tag erging ein Aufruf zu Protesten in Form von Gedichten, Gesängen oder Tanz.
Am 5.7.2011 versammelten sich gegen 06:00 Uhr rund 150 Menschen vor dem »Scheinheiligengebäude«. Es wurden Sitze für eine Straßenblockade aufgestellt, manche Teilnehmer*innen führten auch Luftmatratzen mit sich. Laute Musik wurde vom Dach eines Hauses gespielt und es wurden Spruchbänder wie »wir hocken hier, um zu bleiben« und »Van der Laan (Anm: Gemeint ist Eberhard van der Laan, der damalige Bürgermeister von Amsterdam.) soll gehen« hochgehalten. Während der Zusammenkunft wurde getanzt und es wurden unter anderem Slogans gegen die Stadtregierung gesungen. Die meisten Leute trugen Freizeitkleidung. Manche erschienen in Kostümen oder Hochzeitskleidern, während andere Sturmhauben oder gesichtsverhüllende Kleidung trugen.
Um 06:57 Uhr ordnete der Polizeipräsident an, die Versammlung aufzulösen. Nach zwei erfolglosen Versuchen wurde die »Mobile Einheit« angewiesen, die Menge zu zerstreuen. In der Folge wurden seitens mancher Demonstranten, nicht jedoch der Bf, Gegenstände auf die Polizist*innen geworfen. Mehrere Rauchbomben wurden gezündet und es kam zu einem kleinen Feuer.
Um 08:37 Uhr informierte der Polizeipräsident die Teilnehmer*innen, dass sie alle verhaftet seien. Insgesamt 138 Personen einschließlich der Bf wurden vorläufig festgenommen. Sie wurden der Staatsanwaltschaft vorgeführt und noch am selben Tag entlassen. Sechs weitere Personen wurden verhaftet, in Polizeigewahrsam genommen und wegen des Verdachts der öffentlichen Begehung von Gewaltakten gegen Personen oder Eigentum strafrechtlich verfolgt.
Zu einem nicht näher genannten Zeitpunkt wurden die Bf einem Richter des LG Amsterdam wegen des Verdachts der Teilnahme an einer von § 2 (2) Z 1 der Allgemeinen Gemeinderechtsordnung (im Folgenden: AGRO) verbotenen Zusammenkunft vorgeladen. Mit separaten Urteilen vom 14.6.2013 hielt dieser fest, dass sich die Bf zwar polizeilichen Anordnungen, den Platz zu räumen, widersetzt hatten, jedoch nicht erwiesen sei, dass sie an einer unrechtmäßigen Versammlung iSd AGRO teilgenommen hätten. Ihr Verhalten habe daher als (rechtmäßige) Demonstration iSd Versammlungsgesetzes angesehen werden können. Die Bf wurden freigesprochen.
Mit separaten Urteilen vom 31.8.2015 hob das Amsterdamer Rechtsmittelgericht die Urteile mit der Begründung auf, Ziel der Proteste sei die Konfrontation mit der »Mobilen Einheit« gewesen und die Verhinderung einer Zwangsräumung. Aus diesem Grund könne die Versammlung nicht als Demonstration iSd Versammlungsgesetzes angesehen werden. Über die Bf wurden Geldbußen iHv jeweils € 100,– verhängt.
Dagegen legten die Bf ein Rechtsmittel beim Hoge Raad ein. Sie brachten vor, das Rechtsmittelgericht habe versäumt anzuerkennen, dass es sich bei dem Protest um eine friedliche Versammlung iSv Art 11 EMRK gehandelt habe. Mit separaten Urteilen vom 11.4.2017 wies der Hoge Raad das Rechtsmittel der Bf ab. Ergänzend fügte er hinzu, dass Art 11 EMRK Demonstrationen nicht schütze, bei denen die Veranstalter und Teilnehmer*innen gewaltsame Absichten hätten.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 11 EMRK (Versammlungsfreiheit).
Zur Verbindung der Beschwerden
(34) Angesichts des gleichartigen Inhalts der Beschwerden hält es der GH für angemessen, diese gemeinsam in einem einzigen Urteil zu untersuchen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 11 EMRK
(35) Die Bf brachten vor, dass – weil sie keine gewaltsamen Absichten gehabt hätten – die Auflösung der Versammlung vom 5.7.2011 und ihre im Anschluss erfolgte Verhaftung, Freiheitsentziehung und strafrechtliche Verurteilung einen ungerechtfertigten Eingriff in ihr von Art 11 EMRK garantiertes Recht, sich friedlich zu versammeln, dargestellt hätten.
Zulässigkeit
(36) Die Regierung ist der Ansicht, dass die Beschwerden der Bf ratione materiae unvereinbar mit der Konvention seien, da die Absichten der Veranstalter und die gemeinsamen Aktionen der Teilnehmer*innen nicht auf den friedlichen Ablauf einer Demonstration hinausgelaufen wären.
(38) Der GH findet, dass die Frage, ob Art 11 EMRK im gegenständlichen Fall anwendbar ist, eng mit den Vorbringen der Bf in der Sache verknüpft ist. Der Einwand der Regierung soll daher im Zuge der meritorischen Prüfung behandelt werden.
(39) Da die Beschwerdepunkte der Bf unter Art 11 EMRK weder offensichtlich unbegründet iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK noch aus irgendeinem anderen Grund unzulässig sind, muss sie der GH für zulässig erklären (einstimmig).
In der Sache
Zum Vorbringen der Bf
(40) Laut den Bf habe es sich bei der strittigen Kundgebung um eine »friedliche Versammlung« iSv Art 11 EMRK gehandelt. Die den gegenständlichen Ereignissen vorausgehenden Aufrufe an Sympathisanten, sich [am Versammlungsort] einzufinden und deren Verhalten während der Kundgebung habe auf eine gemeinsame Äußerung von politischen und gesellschaftlichen Ansichten über die Besetzung von Häusern sowie die Nutzung von öffentlichen Plätzen abgezielt. Insoweit es zur Anwendung von Gewalt gekommen sei, sei diese sporadisch gewesen und nicht von der Protestgruppe als Ganzes, sondern von einzelnen Personen [...] ausgegangen. [...]
(41) Laut den Bf habe [...] der Eingriff in ihre von Art 11 EMRK geschützten Rechte zudem keine gesetzliche Grundlage gehabt. [...] In Ermangelung einer Anordnung des Bürgermeisters von Amsterdam unter den einschlägigen Bestimmungen des Versammlungsgesetzes, die Demonstration zu beenden, hätte dem Einschreiten der Polizei und der anschließenden Festnahme und strafrechtlichen Verurteilung [der Bf] eine gesetzliche Basis gefehlt.
(42) Gesetzt den Fall, es sei doch eine solche vorgelegen, sind die Bf der Überzeugung, dass der Eingriff unverhältnismäßig gewesen sei.
Bewertung durch den GH
Ist Art 11 EMRK anwendbar und liegt ein Eingriff vor?
Allgemeine Grundsätze
(48) Art 11 EMRK schützt lediglich das Recht auf eine »friedliche Versammlung« – diesem Begriffsverständnis liegen keine Demonstrationen zugrunde, bei der die Veranstalter und die Teilnehmer*innen gewalttätige Absichten hatten. [...] (siehe Kudrevičius ua/LT, Rz 92).
(49) Zwecks Feststellung, ob ein Bf den Schutz des Art 11 EMRK beanspruchen kann, berücksichtigt der GH, (i) ob die Versammlung friedlich ablaufen sollte oder ob ihre Organisatoren gewaltsame Absichten hegten, (ii) ob die oder der Bf gewalttätige Absichten an den Tag legten [...] und (iii) ob die oder der Bf irgendjemandem körperlichen Schaden zufügte (siehe Shmorgunov ua/UA, Rz 491). Wenn beide Seiten – Demonstranten und die Polizei – in gewaltsamen Handlungen verwickelt waren, ist es manchmal notwendig, zu untersuchen, wer mit den Gewalttätigkeiten begann.
(50) Ein Individuum hört nicht auf, das Recht auf Freiheit zur friedlichen Versammlung zu genießen, wenn es zu von anderen Teilnehmer*innen ausgeübter sporadischer Gewalt oder anderen strafrechtlich relevanten Handlungen kam, das betreffende Individuum jedoch in seinen Absichten oder seinem Verhalten friedfertig blieb. Die Möglichkeit, dass Personen mit gewalttätigen Absichten, die nicht Mitglieder des Kundgebungsveranstalters sind, an der Demonstration teilnahmen, vermag dieses Recht als solches nicht in Frage zu stellen. Sogar wenn ein reales Risiko besteht, dass eine öffentliche Demonstration in Unruhe und Aufruhr als Folge von Entwicklungen außerhalb der Kontrolle des Veranstalters bzw der Veranstalter ausarten sollte, fällt eine solche nicht [automatisch] aus dem Anwendungsbereich von Art 11 Abs 1 EMRK. Sollte es daher zu Einschränkungen kommen, müssen diese im Einklang mit den Anforderungen des Art 11 Abs 2 EMRK stehen.
(51) Die Beweislast für die Existenz gewaltsamer Absichten seitens des Veranstalters einer Demonstration liegt bei den Behörden (siehe Christliche Demokratische Volkspartei/MD [Nr 2], Rz 23).
(52) Nach Ansicht des GH sind Verhaltensauswirkungen physischer Natur, die darauf abzielen, den Ablauf des ordnungsgemäß verlaufenden [öffentlichen] Lebens zu blockieren, um von anderen [Personen] getätigte Aktivitäten ernsthaft zu stören, im Kontext der Ausübung des Rechts auf Versammlungsfreiheit in modernen Gesellschaften nicht ungewöhnlich. Dennoch steht eine solche Angelegenheit nicht im Mittelpunkt der von Art 11 EMRK geschützten Freiheit. Dies könnte Auswirkungen auf die Beurteilung der »Notwendigkeit« iSv Art 11 Abs 2 EMRK haben.
(53) Der GH möchte allerdings in Erinnerung rufen, dass der in Art 11 Abs 2 EMRK erwähnte Begriff »Einschränkungen« vor, während oder nach einer Versammlung ergriffene Maßnahmen beispielsweise strafrechtlicher Natur umfasst (siehe Navalnyy/RU, Rz 103). Ein Eingriff [in die Versammlungsfreiheit] kann daher unter anderem dann erfolgen, wenn es zur Auflösung einer Versammlung oder zur Verhaftung der Teilnehmer*innen kommt und wenn Strafen wegen der Teilnahme an einer solchen Versammlung verhängt werden.
Anwendung dieser Grundsätze auf den gegenständlichen Fall
(54) Der GH stimmt mit der Regierung überein, dass die angekündigte Räumung des »Scheinheiligengebäudes« das vorhersehbare Resultat der bewusst herbeigeführten Aktionen der Veranstalter und Teilnehmer*innen einschließlich der Bf war. [...]
(55) Der GH vermag keinen Grund auszumachen, warum er im vorliegenden Fall von seiner einschlägigen Rsp abgehen sollte. Sogar wenn das Ziel der Versammlung über den Ausdruck von Missfallen über die Räumung des »Scheinheiligengebäudes« hinausgegangen wäre und die Bf versucht hätten, eine solche rechtmäßige Aktion [...], (die eventuell zur Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt führen konnte), zu verhindern, brachte ihre Teilnahme daran dieses Ziel nicht aus dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gemäß Art 11 EMRK. [...] Der GH möchte festhalten, dass die Frage, ob eine Versammlung innerhalb des autonomen Konzepts der »friedlichen Versammlung« iSv Art 11 Abs 1 EMRK fällt, sowie der von dieser Konventionsbestimmung gewährte Schutz unabhängig davon sind, ob die Versammlung im Einklang mit einer vom innerstaatlichen Recht vorgesehenen Prozedur – wie etwa einer Pflicht zur vorzeitigen Verständigung – stand.
(56) [...] Im vorliegenden Fall lassen sich aus den im Internet veröffentlichten Aufrufen und den gesungenen Slogans keine gewaltsamen Absichten bzw kein auf Gewalt abzielendes Verhalten ausmachen. Allem Anschein nach sollten diese vielmehr als Ausdruck von Unzufriedenheit und Protest – und nicht als bewusste und unzweideutige Gewaltaufrufe – angesehen werden. Noch können solche Absichten oder ein solches Verhalten an sich aus der Tatsache abgeleitet werden, dass mehrere Teilnehmer*innen Luftmatratzen, Sturmhauben oder andere Kleidungsstücke mit sich führten.
(57) Was nun die Frage angeht, ob irgendwelche gewaltsamen Absichten oder Aktionen auf Seiten der Teilnehmer*innen einschließlich der Bf [...] stattfanden, hat der GH in mehreren Fällen anerkannt, dass Art 11 EMRK auch offensichtlich friedlich protestierenden Personen Schutz gewährt, die an Versammlungen teilgenommen hatten, bei denen »verdeckte« Gewalt seitens anderer Protestierender ausgeübt wurde.
(58) Die Bf befanden sich nicht unter der Gruppe der Protestierenden, die verhaftet und wegen des Verdachts von öffentlich und gemeinsam begangenen Gewalttaten gegen Personen und Eigentum strafrechtlich verfolgt wurden. In diesem Zusammenhang möchte der GH in Erinnerung rufen, dass Individuen nicht für von anderen Teilnehmer*innen ausgeübte Gewalthandlungen verantwortlich gemacht werden können (siehe etwa Gün ua/TR, Rz 83). Aus dem Aktenmaterial wird nicht ersichtlich, dass die Bf – von denen angenommen werden muss, dass sie friedliche Absichten [...] hatten – Rauchbomben anzündeten, Gegenstände in Richtung der Polizei warfen oder sonstwie Rückgriff auf Gewalt nahmen oder dazu aufriefen. Das Verhalten der Bf während der Kundgebung, für das sie verantwortlich gemacht wurden, nahm ihre Teilnahme daher nicht aus dem Schutzbereich des Rechts auf Versammlungsfreiheit gemäß Art 11 EMRK.
(59) Angesichts des Vorgesagten ist der GH der Ansicht, dass die Bf berechtigt sind, die Garantien des Art 11 EMRK für sich in Anspruch zu nehmen, der somit auf den gegenständlichen Fall ratione materiae anwendbar ist. Ihre Verhaftung, strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung lief daher auf einen Eingriff in ihr Recht auf friedliche Versammlung hinaus. Der GH verwirft somit die von der Regierung erhobene Einrede.
War der Eingriff gesetzlich vorgeschrieben und verfolgte er ein legitimes Ziel?
(61) Die Parteien sind sich uneinig darüber, ob der gegenständliche Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruhte. Der GH wird sich im vorliegenden Fall jedoch einer Entscheidung über die Frage der Rechtmäßigkeit [des Eingriffs] enthalten, kann doch von diesem bereits jetzt gesagt werden, dass er in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war. [...]
(62) Besagter Eingriff diente der Verbrechensverhütung und der Aufrechterhaltung der Ordnung sowie dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer iSv Art 11 Abs 2 EMRK.
War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?
(63) Das Recht auf Versammlungsfreiheit, eines der Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft, ist einer Reihe von Ausnahmen unterworfen, die eng auszulegen sind. Die Notwendigkeit für jegliche Einschränkung dieser Freiheit muss in überzeugender Art und Weise dargelegt werden. [...]
(65) Der Hoge Raad selbst kam zu der Ansicht, dass das Rechtsmittelgericht keine Rechtsfehler begangen hatte und dieses zu Recht die Auffassung vertreten hatte, dass es zu keiner Demonstration iSd Versammlungsgesetzes gekommen war. Zweck der Versammlung sei es nämlich gewesen, die Konfrontation zu suchen und mit (physischen) Mitteln eine Räumung zu verhindern. Der Hoge Raad vertrat daher die Ansicht, dass Art 11 EMRK unanwendbar sei. In der Sache beendete er seine Beurteilung bereits an dieser Stelle und unterließ es zu prüfen, ob die Rolle der Bf bei der Versammlung tatsächlich »friedlich« iSd autonomen Bedeutung von Art 11 EMRK [...] war.
(66) Indem der Hoge Raad eine solche Position einnahm und die unter Art 11 Abs 2 EMRK erforderliche Interessenabwägung nicht durchführte, verabsäumte er es, relevante und ausreichende Gründe für den Eingriff in das Recht der Bf auf Versammlungsfreiheit anzuführen. Er erbrachte somit keinen überzeugenden Nachweis für die Notwendigkeit einer derartigen Einschränkung [...]. Mit Blick auf die oben getätigten Erwägungen findet der GH, dass die Erfordernisse des Art 11 EMRK nicht eingehalten wurden. Die Beurteilung der Anwendbarkeit dieser Konventionsbestimmung – und folglich die Bewertung der Rechtfertigung des Eingriffs – wurde somit auf der innerstaatlichen Ebene nicht in einer mit der Konvention und der Rsp des GH vereinbaren Art und Weise durchgeführt.
(67) Es kann daher nicht gesagt werden, dass der Eingriff in die Rechte der Bf »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. Es liegt somit eine Verletzung von Art 11 EMRK vor (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Schukking).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
Jeweils € 100,– an jeden Bf für materiellen und immateriellen Schaden. Jeweils € 562,– für Kosten und Auslagen für Herrn Laurijsen (Bsw 56896/17), Frau Springer (56910/17) und Frau Koenen (Bsw 56917/17). € 363,– für Frau Van Oostrum und € 419,– für Frau Segal für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Drieman ua/NO, 4.5.2000, 33678/96 (ZE)
Christliche Demokratische Volkspartei/MD (Nr 2), 2.2.2010, 25196/04
Gün ua/TR, 18.6.2013, 8029/07 = NLMR 2013, 198
Karpyuk ua/UA, 6.10.2015, 30582/04, 32152/04
Kudrevičius ua/LT, 15.10.2015, 37553/05 (GK) = NLMR 2015, 447
Navalnyy/RU, 15.11.2018, 29580/12 ua (GK) = NLMR 2018, 543
Laguna Guzman/ES, 6.10.2020, 41462/17
Shmorgunov ua/UA, 21.1.2021, 15367/14 ua = NLMR 2021, 38
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.11.2023, Bsw. 56896/17, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 583) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.