JudikaturAUSL EGMR

Bsw29356/19 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
21. November 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Pleshkov ua gg Russland, Urteil vom 21.11.2023, Bsw. 29356/19.

Spruch

Art 11, 35 EMRK - Untersagung einer Versammlung wegen allgemeiner Sicherheitsbedenken hinsichtlich des Abhaltungsorts.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Verletzung von Art 11 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende Entschädigung für jeglichen von den Bf erlittenen immateriellen Schaden dar (6:1 Stimmen). € 50,– in der Beschwerde 29356/19 und € 3.000,– in der Beschwerde 31119/19 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegende Rechtssache beruht auf zwei Beschwerden, denen ähnliche Sachverhalte zugrunde liegen.

Bsw 29356/19

Der Bf informierte den Präfekten des zentralen Verwaltungsbezirks von Moskau am 5.10.2018 über die von ihm geplante Mahnwache vor dem Gebäude der Staatsduma im Zentrum Moskaus gegen die Anhebung des Pensionsalters. Erwartet wurden zwanzig Teilnehmer.

Die Regierung lehnte den beantragten Ort für die Mahnwache mit dem Hinweis auf Sicherheitsbedenken ab und schlug einen anderen Standort vor. Der Bf focht diese Entscheidung an und machte geltend, dass der ursprüngliche Standort für den Zweck der Mahnwache entscheidend war. Darüber hinaus argumentierte der Bf, dass der Fußgängerweg vor dem Gebäude groß genug für die Mahnwache sei und der Fußgängerverkehr oder der Zugang zum Gebäude der Staatsduma nicht behindert würde.

Am 10.10.2018 wies das Moskauer Bezirksgericht Taganskiy die Beschwerde des Bf ab. Das Gericht erklärte, dass die Durchführung öffentlicher Veranstaltungen an diesem Ort die Sicherheit der Teilnehmer und Unbeteiligter gefährden könnte. Das Gericht stellte außerdem fest, dass dem Bf das Recht auf Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung nicht verweigert worden sei, da er einen anderen Ort wählen hätte können.

Der Bf legte gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel ein und machte geltend, dass die Behörden keine rechtliche Grundlage dafür hatten, die Genehmigung der Mahnwache zu verweigern. Das Moskauer Stadtgericht bestätigte die Entscheidung. Die weiteren Rechtsmittel des Bf blieben erfolglos.

Bsw 31119/19

Die Bf, bei denen es sich um Menschenrechtsaktivisten handelt, informierten die Moskauer Stadtregierung am 10.12.2018 über ihre Absicht, am 22.12.2018 eine öffentliche Versammlung auf dem Puschkin-Platz zu veranstalten, zu der etwa 1.000 Personen erwartet wurden. Mit der Veranstaltung sollte der Jahrestag des ersten politischen Protests der Nachkriegszeit, der 1965 an diesem Ort stattgefunden hatte, gewürdigt werden.

Am 12.12.2018 teilte die Moskauer Abteilung für Regionale Sicherheit den Bf mit, dass für dieselbe Zeit und denselben Ort eine andere öffentliche Veranstaltung geplant sei. Sie schlugen einen alternativen Ort vor, jedoch wurde von den Bf die Bedeutung des ursprünglichen Ortes betont und weitere Informationen gefordert, einschließlich eines sich nicht überschneidenden Zeitfensters für ihre geplante Veranstaltung. Sie erhielten jedoch keine Antwort von der Regierung.

Am 13.12.2018 fochten sämtliche Bf die Verweigerung der Genehmigung für die Versammlung vor dem Moskauer Bezirksgericht Twerskoj an. Sie argumentierten, dass die Regierung nicht klargestellt habe, warum die gleichzeitige Abhaltung beider Veranstaltungen nicht möglich sei. Am 20.12.2018 wies das Gericht die Beschwerde der Bf mit der Begründung ab, die Regierung sei nicht verpflichtet, Beweise dafür vorzulegen, warum die gleichzeitige Durchführung beider Veranstaltungen unmöglich sei. Es kam zu dem Schluss, dass die Regierung im Interesse der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung das Recht hat, eine Veranstaltung, die mit einer anderen zusammenfällt, zu verbieten.

Die Bf legten gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel ein. Das Moskauer Stadtgericht bestätigte das Urteil des Bezirksgerichts mit der Begründung, dass eine gleichzeitige Durchführung der beiden Veranstaltungen nicht möglich sei, so dass die Regierung den Antrag für die öffentliche Veranstaltung ablehnen konnte. Die Bf legten zwei getrennte Kassationsbeschwerden ein, die ein Richter des Moskauer Stadtgerichts nicht zur Prüfung an das Präsidium weiterleitete.

Am 15.8.2019 bzw 24.9.2019 legten die Bf beim Präsidium des Obersten Gerichtshofs Kassationsbeschwerde ein und betonten, dass die innerstaatlichen Gerichte Art 11 EMRK nicht angewandt hätten. Ein Richter des Obersten Gerichthofs der Russischen Föderation lehnte es jedoch ab, die Kassationsbeschwerden zur weiteren Prüfung vorzulegen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 11 (hier: Versammlungsfreiheit), Art 13 (hier: Recht auf eine wirksame Beschwerde), sowie Art 14 (Diskriminierungsverbot) iVm Art 10 und 11 EMRK.

Verbindung der Beschwerden

(42) Unter Berücksichtigung der ähnlichen Beschwerdegegenstände hält der GH es für angemessen, die Beschwerden gemeinsam in einer Entscheidung zu behandeln (einstimmig).

Zuständigkeit

(43) Der GH stellt fest, dass sich der Sachverhalt, der Anlass für die behauptete Konventionsverletzung war, vor dem 16.9.2022 zugetragen hat, jenem Tag an dem die Russische Föderation als Vertragspartei der Konvention ausschied. Der GH entscheidet daher, dass die gegenständliche Beschwerde in seine Zuständigkeit fällt (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 11 EMRK

(44) Die Bf beanstandeten die behördlichen Einschränkungen der Veranstaltungsorte. Sie stützten sich dabei auf Art 10 und Art 11 EMRK. Der GH wird die Beschwerde nach Art 11 EMRK prüfen, ausgelegt – wenn angemessen – im Lichte des Art 10 EMRK. [...]

(45) Die Regierung brachte vor, dass die Beschwerde 31119/19 am 25.5.2019 eingereicht wurde, bevor manche der Bf alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft haben. Daher sei die Beschwerde für unzulässig zu erklären. Sie argumentierte, den Bf seien effektive innerstaatliche Rechtsbehelfe gegen die behauptete Einschränkung in ihrem Versammlungsrecht zur Verfügung gestanden. [...]

Zulässigkeit

(49) Bevor der GH den Sachverhalt des gegenständlichen Falles beurteilen kann, muss er zunächst feststellen, ob die Bf der Beschwerde 31119/19 die Vorschrift der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs nach Art 35 Abs 1 EMRK eingehalten haben. [...]

(52) Der GH stellt fest, dass das Verwaltungsverfahrensgesetz eine gerichtliche Überprüfung von Beschwerden wegen Weigerung der Behörden, dem Veranstaltungsort, der Veranstaltungszeit oder der Art der Abhaltung stattzugeben, vorsieht. [...]

(53) Die von der Regierung im vorliegenden Fall in Anwendung des Urteils des Obersten Gerichtshofs vorgelegten Beispiele der innerstaatlichen Rsp zeigen, dass die innerstaatlichen Gerichte die Begründung der Änderung von Veranstaltungsort und -zeit durch die örtlichen Behörden überprüft haben und verlangten, dass diese Begründung durch Beweise belegt werden muss. Die Gerichte betonten die Notwendigkeit, sich auf konkrete Tatsachen zu berufen, die die Unmöglichkeit der Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung an dem gewählten Ort und zu der gewählten Zeit belegen, sowie den Veranstaltern Ausweichmöglichkeiten vorzuschlagen, die den vom GH in Art 11 EMRK festgelegten Anforderungen entsprechen. Der GH berücksichtigt auch, dass das Ministerkomitee diese Vorgehensweise anerkennt, obwohl es immer wieder Bedenken hinsichtlich des Rechtsrahmens äußert. Der GH ist damit zufrieden, dass die praktische Anwendung des bestehenden Rechtsrahmens es dem Organisator einer öffentlichen Veranstaltung ermöglichte, die Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Versammlungsfreiheit in Frage zu stellen. Hinsichtlich der Beispiele für die Rsp in Anwendung des Urteils des Obersten Gerichthofs ist der GH der Auffassung, dass die gerichtliche Überprüfung von Beschwerden über mutmaßliche Beschränkungen der Versammlungsfreiheit nach dessen Erlass ein Rechtsbehelf war, den die Organisatoren öffentlicher Veranstaltungen normalerweise hätten ausschöpfen müssen, um den Anforderungen in Art 35 Abs 1 EMRK nachzukommen.

(54) Der GH stellt fest, dass die Bf im Rahmen dieser gerichtlichen Überprüfung Beschwerden gegen die Weigerung der Behörde, den Veranstaltungsort zu bewilligen, eingereicht haben. Die Beschwerden wurden vor dem jeweiligen Abhaltungstermin der Veranstaltungen durch die erstinstanzlichen Gerichte geprüft und abgewiesen. Die Bf legten gegen die ablehnende Entscheidung auch ein Rechtsmittel beim Moskauer Stadtgericht ein und strebten zusätzlich Kassationsbeschwerdeverfahren an. Die Tatsache, dass manche der Rechtsmittelverfahren im Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung noch anhängig waren, ändert an dieser Schlussfolgerung nichts, denn obwohl sich die Prüfung der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe auf das Einreichungsdatum der Beschwerde beim GH bezieht, kann die letzte Phase eines bestimmten Rechtsbehelfs auch nach der Einreichung der Beschwerde, aber vor der Entscheidung über ihre Zulässigkeit, erreicht werden. Das ist umso mehr der Fall, wenn der GH die Einhaltung der Anforderung der Erschöpfung im Hinblick auf die Einführung eines neuen Rechtsbehelfs zu prüfen hat.

(55) Der GH stellt daher fest, dass die Bf der Beschwerde 31119/19 die Anforderung der Erschöpfung erfüllt haben, indem sie eine gerichtliche Überprüfung der mutmaßlichen Einschränkung ihrer Versammlungsfreiheit anstrebten. Dementsprechend weist der GH die Einrede der Regierung hinsichtlich der Nicht-Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Bezug auf diese Beschwerde ab. Der GH führt weiter aus, dass die Beschwerde gemäß Art 11 EMRK weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK aufgelisteten Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(56) Der GH bezieht sich auf die in seiner Rsp aufgestellten Grundsätze hinsichtlich des Rechts auf Versammlungsfreiheit. Die Versammlungsfreiheit beinhaltet das Recht, innerhalb der Grenzen des Art 11 Abs 2 EMRK den Ort, die Zeit und die Art der Abhaltung der Versammlung zu wählen. Der GH betont in diesem Zusammenhang, dass die Autonomie der Organisatoren bei der Festlegung des Ortes, der Zeit und der Art der Durchführung der Versammlung wichtige Aspekte der Versammlungsfreiheit sind. So ist der Zweck einer Versammlung oft an einen bestimmten Ort und/oder eine bestimmte Zeit gebunden, damit sie in Sicht- und Hörweite des Zielobjekts und zu einem Zeitpunkt stattfinden kann, zu dem die Botschaft die größte Wirkung entfaltet. Dementsprechend könnte in Fällen, in denen Zeit und Ort der Versammlung für die Teilnehmer wesentlich sind, ein Beschluss zur Änderung der Zeit oder des Ortes einen Eingriff in ihr Recht auf Versammlungsfreiheit darstellen.

(57) Allerdings räumt der GH ein, dass er aufgrund der Komplexität der Beurteilung von lokalen Faktoren wie Größe, Sicherheit und Verkehrsdichte nicht geeignet ist, die Entscheidungen der Behörden über die Eignung eines bestimmten Ortes für eine öffentliche Versammlung in Frage zu stellen. Den Staaten wird in solchen Fragen ein größerer Ermessensspielraum zugestanden, aber ihr Ermessen ist nicht unbegrenzt und unterliegt weiterhin der Kontrolle des GH, um sicherzustellen, dass alle Einschränkungen der Versammlungsfreiheit mit Art 10 oder Art 11 EMRK vereinbar sind. Der GH betont, dass wenn den Staaten ein weiter Ermessensspielraum zukommt, die verfahrensrechtlichen Garantien [...] eine besonders wichtige Rolle spielen. Im Speziellen muss der GH in solchen Fällen prüfen, ob der Entscheidungsprozess, der zu den Eingriffsmaßnahmen geführt hat, fair war und so durchgeführt wurde, dass die durch die Konvention geschützten Interessen des Einzelnen gebührend berücksichtigt wurden.

Anwendung der dargelegten Grundsätze auf den gegenständlichen Fall

(59) Der GH stellt fest, dass die Bf beabsichtigten, öffentliche Veranstaltungen an bestimmten Orten abzuhalten und die von der Behörde vorgeschlagene Alternative für die Zwecke der Veranstaltung als ungeeignet erachteten. Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass die Weigerung der Behörden, die Standorte für die betreffenden öffentlichen Veranstaltungen zu genehmigen, einen Eingriff in das Recht der Bf auf Versammlungsfreiheit darstellt. Ein solcher Eingriff stellt einen Verstoß gegen Art 11 EMRK dar, es sei denn, er war »gesetzlich vorgesehen«, verfolgte ein oder mehrere legitime Ziele gemäß Abs 2 und war »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig«, um diese Ziele zu erreichen.

(60) Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Eingriffs hat der GH bereits früher festgestellt, dass das innerstaatliche Recht den Exekutivbehörden einen übermäßig weiten Ermessensspielraum einräumt, wenn es darum geht, einen Wechsel des Veranstaltungsortes für öffentliche Veranstaltungen vorzuschlagen, wobei diese Befugnisse häufig in willkürlicher und diskriminierender Weise genutzt werden (vgl Lashmankin/RU, Rz 416–430 und 477). Das Urteil des Obersten Gerichtshofs brachte zwar begrüßenswerte Klarstellungen für die Justiz, jedoch werden weitere Maßnahmen erforderlich sein, um die zuvor genannten allgemeinen Probleme zu lösen. Da sich jedoch hinsichtlich der Notwendigkeit des Eingriffs ein deutlicheres Problem stellt, wird der GH seine Prüfung nach Art 11 EMRK im gegenständlichen Fall nicht nur auf die Rechtmäßigkeit des Eingriffs beschränken.

(61) Der GH ist bereit, dem Argument der Regierung zu folgen, dass der besagte Eingriff die legitimen Ziele der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer verfolgte, auch wenn im Fall von Herrn Pleshkov die Bedenken bezüglich der öffentlichen Sicherheit eher vage waren. Es bleibt zu prüfen, ob die Verweigerung der Genehmigung der von den Bf gewählten Orte für ihre öffentlichen Veranstaltungen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Der GH weist insoweit erneut darauf hin, dass das Recht, sich friedlich zu versammeln, zu den Grundlagen jeder demokratischen Gesellschaft gehört und nur überzeugende und zwingende Gründe einen Eingriff in dieses Recht rechtfertigen können.

Herr Pleshkov, Beschwerde 29356/19

(62) Im Fall von Herrn Pleshkov war der Grund für die Weigerung des stellvertretenden Präfekten, den Standort der »Mahnwache« gegen die Pensionsreform zu genehmigen, die Aussicht auf eine Störung des Gemeinschaftslebens oder eine Verletzung der Rechte und Interessen derjenigen, die nicht an der Veranstaltung teilnahmen. Die Ablehnung enthielt jedoch keine spezifische Erklärung, warum der stellvertretende Präfekt zu dieser Überzeugung gelangt war, zB einen Verweis auf den starken Fußgänger- oder Fahrzeugverkehr, eine Einschätzung der Größe des Fußgängerwegs vor dem Gebäude der Staatsduma im Vergleich zu seiner Kapazität, zwanzig Teilnehmer aufzunehmen, oder spezifische Sicherheitsbedenken.

(63) Bei der Überprüfung der Entscheidung des stellvertretenden Präfekten mussten die innerstaatlichen Gerichte die Rechte des Veranstalters, einschließlich seiner Autonomie bei der Wahl des Veranstaltungsortes, gegen die von den Behörden vorgebrachten Erwägungen des öffentlichen Interesses abwägen. In der Entscheidung des mit dem Fall befassten innerstaatlichen Gerichts bezog sich die Grundlage für die Aufrechterhaltung der Ablehnung durch den stellvertretenden Präfekten ausschließlich auf die Verkehrsproblematik. Der GH weist erneut darauf hin, dass jede Demonstration an einem öffentlichen Ort ein gewisses Maß an Störung des normalen Lebens, einschließlich der Beeinträchtigung des Verkehrs, verursachen kann. Es ist zwar nicht Aufgabe des GH festzustellen, ob die von den Behörden im vorliegenden Fall behauptete Gefahr einer Störung bestand oder nicht, doch kann er nicht übersehen, dass die innerstaatlichen Gerichte es versäumt haben, konkrete Tatsachen zu beurteilen, die es angeblich unmöglich machten, die »Mahnwache« mit zwanzig Teilnehmern an dem gewählten Ort abzuhalten, wie es das Urteil des Obersten Gerichthofs verlangt. Darüber hinaus hat der stellvertretende Präfekt aus Sicherheitsgründen einen kategorischen Ausschluss eines so hochrangigen Ortes aufgrund der fehlenden Eignung für öffentliche Veranstaltungen durchgeführt, wodurch den innerstaatlichen Behörden, einschließlich der innerstaatlichen Gerichte, eine erhebliche Rechtfertigungslast auferlegt wurde. In den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Sicherheitsbedenken die nachteiligen Auswirkungen eines solchen Ausschlusses auf die Interessen des Veranstalters eindeutig überwiegen.

(64) Darüber hinaus oblag es den innerstaatlichen Gerichten zu beurteilen, ob der Herrn Pleshkov angebotene Alternativstandort, der Lermontov-Park, geeignet war, um mit seiner »Mahnwache« eine sinnvolle Wirkung zu erzielen. Um die Autonomie des Veranstalters zu achten, sollten sich die Behörden nach Treu und Glauben darum bemühen, dass die Versammlung an einem alternativen Ort in Sicht- und Hörweite des Zielpublikums stattfinden kann. Es war wichtig, dass die von Herrn Pleshkov geplante »Mahnwache« in unmittelbarer Nähe des Gebäudes der Staatsduma stattfand, da diese eines der höchsten Repräsentationsorgane des belangten Staates ist, dessen nationale Pensionspolitik die Demonstranten kritisieren wollten. Die innerstaatlichen Gerichte schenkten der Bedeutung des vorgesehenen Veranstaltungsortes jedoch wenig Beachtung und stellten stattdessen allgemein fest, dass »[dem Bf] ein alternativer, für die Öffentlichkeit zugänglicher Ort angeboten wurde« [...]. Darüber hinaus wurde nicht geprüft, ob die Abhaltung

der »Mahnwache« im Lermontov-Park den Charakter des Protests aufgrund seiner Entfernung zur Zielgruppe grundlegend verändert hätte.

(65) In Anbetracht der genannten Versäumnisse kann nicht behauptet werden, dass die innerstaatlichen Gerichte Kriterien angewandt haben, die mit den in Art 11 EMRK verankerten Grundsätzen in Einklang stehen und einen gerechten Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen hergestellt haben.

Frau Astrakhantseva ua, Beschwerde 31119/19

(66) Für Frau Astrakhantseva und ihre Mitstreiter hatte der geplante Ort der öffentlichen Versammlung eine besondere Bedeutung, da sie den Jahrestag eines historischen Ereignisses würdigen wollten, nämlich des ersten politischen Protests der Nachkriegszeit, der am 5.12.1965 auf dem Puschkin-Platz stattgefunden hatte. Außerdem wollten sie die Behörden in ihrer Nähe dazu auffordern, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu respektieren. Die Moskauer Regierung begründete ihre Ablehnung des Antrags mit den bereits auf dem Puschkin-Platz geplanten Neujahrsfeiern, ohne nähere Angaben zu machen, etwa zur erwarteten Teilnehmerzahl oder zur Art der Vorkehrungen, wie zB Anlagen, die den verfügbaren Platz hätten einschränken können. Die innerstaatlichen Gerichte bestätigten die Entscheidung der Moskauer Regierung, indem sie auf konkrete Tatsachen verwiesen, »die es unmöglich machen, die öffentliche Veranstaltung an dem gewählten Ort oder zu der gewählten Zeit abzuhalten«, wie es der Oberste Gerichtshof

in seinem Urteil forderte. Zu diesen Tatsachen gehörten Informationen wie der Name, das Datum und die Uhrzeit einer anderen Veranstaltung, die auf dem Puschkin-Platz stattfinden sollte, sowie der räumliche Umfang dieser Veranstaltung. Auf der Grundlage dieser Erwägungen kamen die Gerichte zu dem Schluss, dass die gleichzeitige Durchführung von zwei Veranstaltungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Bürger dargestellt hätte.

(67) Der GH weist darauf hin, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass staatliche Behörden in verschiedenen Ländern Beschränkungen in Bezug auf den Ort, das Datum, die Zeit, die Form oder die Art und Weise der Durchführung einer geplanten öffentlichen Versammlung erlassen, da eine Ballung von Menschen während einer öffentlichen Veranstaltung mit Gefahren verbunden ist. Diese Überlegung trägt besondere Relevanz bei zeit- und ortsgleichen Versammlungen. Sie sollte jedoch nicht als Rechtfertigung für ein pauschales Verbot, mehr als eine Versammlung am selben Ort und zur selben Zeit abzuhalten, herangezogen werden, sofern diese friedlich bleiben und keine unmittelbare Gewaltandrohung oder ernsthafte Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Der GH stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte im vorliegenden Fall der Einschätzung der Moskauer Regierung hinsichtlich der Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit zustimmten, ohne jedoch die erwartete Teilnehmerzahl für die Neujahrsfeierlichkeiten zu nennen [...] oder die Gesamtkapazität des Veranstaltungsortes anzugeben. Auch wenn mit einer großen Zahl von Teilnehmern an den Feierlichkeiten gerechnet wurde, oblag es den Behörden, zumindest eine Lösung in Betracht zu ziehen, die einen friedlichen Verlauf beider Veranstaltungen ermöglicht hätte, zB indem sie den Bf eine Abhaltungszeit außerhalb der Stoßzeiten für ihre Versammlung angeboten hätten. Es sei angemerkt, dass die Bf in der Tat ein alternatives Zeitfenster beantragten, das sich nicht mit der gleichzeitig stattfindenden Veranstaltung überschnitten hätte. Die Behörden nahmen jedoch eine formalistische Haltung ein und unternahmen keine konkreten Bemühungen, um zeitgerecht mögliche Lösungen für die Unterbringung der Versammlung der Bf an einem geeigneten Ort zu finden.

(68) Der GH stellt zudem fest, dass die Behörden, falls die Durchführung von zwei zeit- und ortsgleichen Veranstaltungen nicht möglich ist, sich um einen geeigneten alternativen Abhaltungsort bemühen sollten, bei der die Zielgruppe der Botschaft berücksichtigt wird. [...] Die Bedeutung ihrer Veranstaltung war eng mit dem gewählten Schauplatz verbunden, wie die Bf vor den innerstaatlichen Gerichten betonten. Die Botschaft der Bf richtete sich auch an die Behörden in der Nähe des Puschkin-Platzes. Der GH hat zwar nicht die Aufgabe, die Auffassung der innerstaatlichen Gerichte durch seine eigene zu ersetzen, ist aber nicht davon überzeugt, dass der vom Puschkin-Platz acht Kilometer entfernte Sokolniki-Park ein geeigneter Ort war, um die Botschaft der Versammlung der Bf wirksam zu vermitteln. Es handelte sich nicht nur um einen weniger frequentierten Ort, er ist auch weit entfernt von den Sitzen der Behörden, an die sich die beabsichtigte Botschaft der Veranstaltung richtete.

(69) Der GH ist daher der Ansicht, dass die Behörden, einschließlich der innerstaatlichen Gerichte, es versäumt haben, den Bf eine angemessene alternative Lösung vorzuschlagen, wie zB eine Zeit außerhalb der Hauptverkehrszeiten oder einen anderen Ort, der für die Übermittlung der Botschaft geeignet gewesen wäre. Sie haben somit keine »stichhaltigen und ausreichenden Gründe« angeführt, um die Beschränkungen zu rechtfertigen, die den Bf bei der Ausübung ihres Rechts auf Versammlungsfreiheit auferlegt wurden. Unter diesen Umständen kann nicht behauptet werden, dass diese Beschränkungen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen wären.

Schlussfolgerung

(70) In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen kommt der GH zu dem Schluss, dass in Bezug auf jeden Bf in den Beschwerden 29356/19 und 31119/19 eine Verletzung von Art 11 EMRK vorliegt (einstimmig).

Zu den verbleibenden Beschwerden

(71) Die Bf beanstandeten außerdem gemäß Art 13 EMRK, dass ihnen kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf für ihre Beschwerden über Beschränkungen des Rechts auf Versammlungsfreiheit zur Verfügung stand. Der Bf der Beschwerde 29356/19 rügte zudem gemäß Art 14 iVm Art 10 und 11 EMRK, dass er aufgrund seiner politischen Meinung diskriminiert worden sei.

(72) In Anbetracht seiner Feststellungen zu Art 11 EMRK beschließt der GH, auf die Prüfung der Beschwerden nach Art 13 und Art 14 iVm Art 10 und 11 EMRK zu verzichten (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende Entschädigung für jeglichen von den Bf erlittenen immateriellen Schaden dar (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Serghides). € 50,– in der Beschwerde 29356/19 und € 3.000,– in der Beschwerde 31119/19 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Berladir ua/RU, 10.7.2012, 34202/06

Primov ua/RU, 12.6.2014, 17391/06

Kudrevičius ua/LT, 15.10.2015, 37553/05 (GK) = NLMR 2015, 447

Lashmankin ua/RU, 7.2.2017, 57818/09 ua

Navalnyy/RU, 15.11.2018, 29580/12 ua (GK) = NLMR 2018, 543

Kablis/RU, 30.4.2019, 48310/16, 59663/17

Yüksel Yalçınkaya/TR, 26.9.2023, 15669/20 (GK) = NLMR 2023, 443

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.11.2023, Bsw. 29356/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 578) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise