JudikaturAUSL EGMR

Bsw9602/18 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
31. Oktober 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Bild GmbH Co. KG gg Deutschland, Urteil vom 31.10.2023, Bsw. 9602/18.

Spruch

Art 10 EMRK - Verpflichtung zur Unkenntlichmachung des Gesichts eines Beamten in Video von Polizeieinsatz.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 12.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Das bf Unternehmen betreibt die Internet-Nachrichtenseite »bild.de«. Am 10.7.2013 erschien auf dieser Website unter der Überschrift »Hier verprügelte die Polizei D. (28)« ein Artikel über einen Polizeieinsatz in einer Bremer Diskothek. Die Polizei war gerufen worden, nachdem sich D. gegenüber einem Mitarbeiter aggressiv verhalten hatte. Zugleich wurden auf der Website Aufzeichnungen der Überwachungskamera veröffentlicht, die »Bild« von der Diskothek zugespielt worden waren. Darauf waren mehrere Polizisten zu sehen, die D. umringten und zu Boden brachten. Einer der Beamten schlug mit einem Schlagstock auf den am Boden liegenden D. ein und verpasste ihm einen Fußtritt. Im Audiokommentar wurde die Brutalität der Polizei angeprangert. Zwei Tage später erschien ein zweiter Artikel (»Protokoll der Prügel-Nacht«), begleitet von einem weiteren Video, auf dem das aggressive Verhalten von D. zu sehen war, das den Polizeieinsatz veranlasst hatte.

Auf dem ersten Video war das Gesicht des Polizisten P. mehrere Sekunden lang zu erkennen. P. ist dabei zu sehen, wie er seinen Kollegen dabei hilft, D. zu Boden zu bringen. Anzeichen für besondere Brutalität durch P. sind nicht auszumachen.

Aufgrund einer von P. erhobenen Unterlassungsklage untersagte das Landgericht Oldenburg am 14.5.2014 die weitere Veröffentlichung des Überwachungsvideos ohne Unkenntlichmachung des Gesichts des Beamten.

Das OLG Oldenburg bestätigte dieses Urteil am 27.5.2015. Zwar zeigten die Aufnahmen P. in seiner Eigenschaft als Polizist und somit ein zeitgeschichtlich relevantes Geschehen, doch sei die unverpixelte Darstellung mit den Persönlichkeitsrechten des Klägers unvereinbar und somit unzulässig, wenn keine Einwilligung vorliege.

Die vom bf Unternehmen erhobene Beschwerde wurde vom BVerfG am 3.8.2017 nicht zur Entscheidung angenommen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Das bf Unternehmen behauptete eine Verletzung von Art 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK

(20) Das bf Unternehmen brachte vor, die Verurteilung zur Unterlassung der Veröffentlichung der Videoaufzeichnungen ohne Verpixelung des Gesichts von P. habe sie in ihrem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit verletzt [...].

Zulässigkeit

(21) Der GH stellt fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] ist. Sie ist auch nicht aus einem sonstigen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(25) Keine der Parteien bestritt, dass die Anordnung der Unterlassung der Veröffentlichung der nicht bearbeiteten Aufnahmen der Überwachungskamera einen staatlichen Eingriff in das Recht des bf Unternehmens auf Meinungsäußerungsfreiheit begründete. Der GH stellt zudem fest, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war – nämlich in §§ 823 und 1004 BGB – und das legitime Ziel des Schutzes der Rechte anderer verfolgte.

(26) Es bleibt daher zu bestimmen, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

Beitrag der Veröffentlichungen zu einer Debatte von öffentlichem Interesse

(31) [...] Das Landgericht stellte fest, dass die Videoaufzeichnungen ein zeitgeschichtlich relevantes Geschehens zeigten und anerkannte ausdrücklich die Bedeutung [...] der Berichterstattung über polizeiliche Gewaltanwendung. Es erkannte, dass der Einsatz von Gewalt durch staatliche Beamte als solcher eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse sei. Das OLG bestätigte diese Feststellung [...]. Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinsichtlich der Erkennbarkeit von P. in dem Video bemerkte das Landgericht, dass sich das öffentliche Interesse in erster Linie auf die Handlungen der Polizei als Institution bezog und nicht auf P. persönlich. Da sich die Entscheidung des Gerichts spezifisch auf das Unkenntlichmachen des Gesichts von P. bezog und diesem nicht vorgeworfen wurde, seine Amtsgewalt missbraucht oder ein anderes rechtswidriges Fehlverhalten gesetzt zu haben, akzeptiert der GH die diesbezüglichen Feststellungen des Landgerichts.

Bekanntheitsgrad der betroffenen Person

(32) [...] Da P. in seiner Eigenschaft als Polizist handelte und nicht die öffentliche Aufmerksamkeit suchte, [...] kann er nicht als Person des öffentlichen Lebens angesehen werden.

(33) [...] Es kann nicht gesagt werden, dass Beamte sich bewusst einer so genauen Prüfung ihrer Worte und Taten aussetzen wie Politiker, und sie daher bei Kritik an ihrem Handeln mit diesen gleichgesetzt werden sollten. Allerdings hat der GH anerkannt, dass die Grenzen der hinzunehmenden Kritik an Beamten, die in Ausübung ihres Amts handeln, unter bestimmten Umständen weiter sind als bei Privatpersonen. Dies gilt zB im Fall eines behaupteten Fehlverhaltens.

(34) [...] Das vom bf Unternehmen veröffentlichte Videomaterial zeigte P. in seiner amtlichen Eigenschaft als Polizist während eines Einsatzes, der die Anwendung von Gewalt mit sich brachte. Dem GH ist zwar bewusst, dass Polizeibrutalität ein ernsthaftes öffentliches Anliegen ist und die Presse ein erhebliches Interesse daran hat, die Öffentlichkeit auf solche Vorwürfe aufmerksam zu machen [...], doch behauptete das bf Unternehmen [...] nicht, dass P. an irgendeinem Fehlverhalten beteiligt gewesen wäre.

(35) [...] Während die Grenzen hinzunehmender Kritik an Beamten unter manchen Umständen weiter sein können als bei gewöhnlichen Bürger*innen, wird ihnen – wenn ihnen kein früheres Fehlverhalten vorgeworfen wird – nicht ihr legitimes Interesse daran genommen, ihr Privatleben unter anderem davor zu schützen, fälschlicherweise als ihr Amt missbrauchend dargestellt zu werden. Dies gilt auch für Polizisten. Der GH stellt zudem fest, dass zwar Art 8 EMRK [...] nicht verlangt, dass Polizisten in Veröffentlichungen der Medien generell nicht erkennbar sein dürfen, es aber Umstände geben kann, unter denen das Interesse des einzelnen Beamten am Schutz seines Privatlebens vorgeht. Dies wäre zB der Fall, wenn die Veröffentlichung eines Bildes eines erkennbaren Beamten, unabhängig von einem etwaigen Fehlverhalten, zu konkreten nachteiligen Folgen für sein Privat- oder Familienleben führen könnte. Daher sind die innerstaatlichen Gerichte aufgerufen, die widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung der Umstände

des Einzelfalls abzuwägen, einschließlich des Inhalts der Berichterstattung und ihrer Folgen für die betroffene Person.

Methode der Erlangung der Informationen

(36) Das bf Unternehmen hatte die Aufzeichnungen der Überwachungskamera vom Besitzer der Diskothek erhalten. [...] Die Videos waren an einem öffentlichen Ort aufgenommen worden und ihre Echtheit wurde nie in Frage gestellt. [...]

Inhalt und Form der Veröffentlichung

(37) Die innerstaatlichen Gerichte maßen [...] der redaktionellen Darstellung des Videomaterials besondere Bedeutung bei. [...] Das Landgericht betonte, dass der Audiokommentar P. als gewalttätigen Schläger [...] darstellte [...]. Zudem betonten die Gerichte, dass das zunächst veröffentlichte Video nur den Polizeieinsatz gezeigt, aber die Handlungen von D. ausgelassen hatte, aufgrund derer die Polizei gerufen worden war. Dies sei in der Absicht geschehen, bei den Zusehern den Eindruck einer unnötigen Gewaltanwendung durch die Polizei zu verstärken.

(38) [...] Umfang und Technik einer Berichterstattung [...] sind Angelegenheiten der journalistischen Freiheit. [...] Diese Freiheit ist jedoch nicht frei von Verantwortung. Die von Journalisten in dieser Hinsicht getroffenen Entscheidungen müssen auf den ethischen Regeln und Verhaltensvorschriften ihres Berufs beruhen. [...] Das Recht auf Privatleben [...] kann es erfordern, Presseorganen die Verpflichtung aufzuerlegen, das Bild einer in ihrer Veröffentlichung abgebildeten Person unkenntlich zu machen.

(39) Der GH kann jedoch dem Ausgangspunkt der innerstaatlichen Gerichte zustimmen, wonach die Auslassung bestimmter Teile der Überwachungsvideos und der Inhalt des Audiokommentars [...] bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen [...] zu berücksichtigen waren.

(40) Allerdings gilt das Argument betreffend die gekürzte Fassung des Videomaterials nur für die erste Veröffentlichung. Das zwei Tage später mit dem zweiten Artikel veröffentlichte Video war länger und zeigte das aggressive Verhalten von D. gegenüber dem Personal der Diskothek.

(41) [...] Entscheidend ist einerseits, dass sich die Unterlassungsverfügung nicht nur auf beide früheren Veröffentlichungen bezog, sondern auch auf jedes zukünftige Zugänglichmachen der unverpixelten Videoaufnahmen, und andererseits, dass die sich auf den Audiokommentar beziehenden Argumente nicht geeignet sind, die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte zu stützen, mit denen dem bf Unternehmen aufgetragen wurde, die Veröffentlichung der nicht bearbeiteten Aufzeichnungen unabhängig von der begleitenden Berichterstattung zu unterlassen.

(42) [...] Das OLG erklärte die Anordnung der Unterlassung jeder künftigen Veröffentlichung des unbearbeiteten Videomaterials mit einem Verweis auf die Erforderlichkeit der vorherigen Einwilligung von P. gemäß § 22 Abs 1 KunstUrhG, die auch im Fall einer positiveren Darstellung notwendig sei. Bei einer positiven Darstellung könne nicht mehr davon ausgegangen werden, dass ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte vorliegt. Der GH kann eine solch allgemeine Begründung nicht akzeptieren. Die bloße Tatsache, dass eine Gewaltanwendung durch die Polizei nicht negativ dargestellt wird, bedeutet nicht, dass die mediale Berichterstattung darüber keinerlei Schutz mehr genießen sollte. Unter Berücksichtigung des öffentlichen Interesses an der Berichterstattung über die Anwendung von Gewalt durch staatliche Organe und des potenziell abschreckenden Effekts, den die Verpflichtung zur Unkenntlichmachung der Bilder von am Einsatz beteiligten Polizisten auf die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit des bf Unternehmens haben würde, besteht eine Notwendigkeit, die betroffenen widerstreitenden Interessen abzuwägen, was die innerstaatlichen Gerichte im gegenständlichen Fall hinsichtlich einer zukünftigen Verwendung von unbearbeitetem Videomaterial unterlassen haben.

Konsequenzen der Veröffentlichung

(43) [...] Die Gefahr einer Schädigung der Ausübung und des Genusses der Menschenrechte, insb des Rechts auf Achtung des Privatlebens, durch den Inhalt und durch Kommunikation im Internet ist bestimmt größer als jene, die von der Presse ausgeht. [...] Das Landgericht rechtfertigte die Unterlassungsverfügung [...] auch anhand der von P. vorgebrachten persönlichen Konsequenzen der Veröffentlichung. Der GH anerkennt, dass P. [...] angab, mit kritischen Kommentaren über den dokumentierten Vorfall [...] konfrontiert gewesen zu sein. Diese betrafen jedoch die früheren Veröffentlichungen und die innerstaatlichen Gerichte verabsäumten es zu prüfen, inwiefern eine zukünftige Veröffentlichung der nicht bearbeiteten Videoaufzeichnungen – unabhängig von der begleitenden Berichterstattung – ähnliche negative Folgen haben würde, die eine Verpflichtung rechtfertigten, das Bildnis von P. zu verpixeln.

Strenge der verhängten Einschränkung

(44) [...] Dem bf Unternehmen wurde nicht untersagt, über den fraglichen Polizeieinsatz zu berichten und es konnte die bearbeiteten Videoaufnahmen verwenden [...], solange es sich an die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte hielt. Zwar bedeutete diese Anordnung keine besonders strenge Einschränkung, der GH ist aber dennoch der Ansicht, dass sie nicht als gerechtfertigt betrachtet werden kann, weil ihre Verhängung, [...] wie oben dargelegt, ohne die erforderliche Interessenabwägung [...] erfolgte.

Schlussfolgerung

(45) Im Licht des Vorgesagten ist der GH der Ansicht, dass die innerstaatlichen Gerichte [...] die in seiner Rsp dargelegten Kriterien im Kontext der Abwägung der widerstreitenden Interessen nach Art 8 und Art 10 EMRK im Hinblick auf die erste Veröffentlichung [...] gebührend beachtet haben. Er sieht daher keinen Grund, die Meinung der nationalen Gerichte diesbezüglich durch seine eigene zu ersetzen. Allerdings war die Abwägung der innerstaatlichen Gerichte im Hinblick auf die zweite und jede künftige Veröffentlichung in zwei Punkten unzureichend. Erstens bezog sich die primäre Beurteilung des Landgerichts nur auf die redaktionelle Aufbereitung der ersten Veröffentlichung. Zweitens [...] verabsäumte es das OLG, eine Abwägung der konkurrierenden Interessen im Hinblick auf eine künftige Veröffentlichung vorzunehmen. Ohne zu beurteilen, inwieweit die Veröffentlichung des Bildes zu einer öffentlichen Debatte beitragen konnte, stellte es in einer allgemeinen Begründung fest, dass selbst eine unverpixelte

Berichterstattung, welche die tatsächlichen Umstände des Polizeieinsatzes widerspiegelt, ohne den Polizisten in negativer Weise darzustellen, nicht als Darstellung eines zeitgeschichtlich relevanten Geschehens angesehen werden könnte und somit rechtswidrig wäre. Dies könnte zu einem Verbot jeder künftigen Veröffentlichung von unbearbeiteten Bildern von Polizisten bei der Ausübung ihrer Pflichten ohne die Einwilligung der Betroffenen führen, das wegen seiner – ungeachtet des öffentlichen Interesses an der Anwendung von Gewalt durch die Polizei – derart allgemein gehaltenen Formulierung inakzeptabel ist. In diesen zwei Punkten verabsäumten es die Entscheidungen der nationalen Gerichte, die erforderliche Interessenabwägung durchzuführen, um die »Notwendigkeit« der Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit [...] zu rechtfertigen. [...] Folglich hat eine Verletzung von Art 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 12.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Wirtschafts-Trend Zeitschriften-Verlags GmbH (Nr 3)/AT, 13.12.2005, 66298/01, 15653/02 = NL 2005, 298 = ÖJZ 2006, 693

Axel Springer AG/DE, 7.2.2012, 39954/08 = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294

Haldimann ua/CH, 24.2.2015, 21830/09 = NLMR 2015, 57

Couderc und Hachette Filipacchi Associés/FR, 10.11.2015, 40454/07 (GK) = NLMR 2015, 537

M. L. und W. W./DE, 28.6.2018, 60798/10, 65599/10 = NLMR 2018, 257

Lopez Ribalda ua/ES, 17.10.2019, 1874/13, 8567/13 (GK) = NLMR 2019, 403

I. V. Ț./RO, 1.3.2022, 35582/15 = NLMR 2022, 137

NIT S.R.L./MD, 5.4.2022, 28470/12 (GK) = NLMR 2022, 148

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 31.10.2023, Bsw. 9602/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 477) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.