JudikaturAUSL EGMR

Bsw35648/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Oktober 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Locascia ua gg Italien, Urteil vom 19.10.2023, Bsw. 35648/10.

Spruch

Art 8 EMRK - Unzureichende Maßnahmen gegen Umweltverschmutzung durch Abfallkrise in Kampanien.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 8 EMRK hinsichtlich der Organisation der Sammlung, Behandlung und Entsorgung des Mülls von 11.2.1994 bis 31.12.2009 (einstimmig).

Keine Verletzung von Art 8 EMRK hinsichtlich der Organisation der Sammlung, Behandlung und Entsorgung des Mülls ab 1.1.2010 (einstimmig).

Verletzung von Art 8 EMRK hinsichtlich des materiellen Aspekts, was die von der Deponie »Lo Uttaro« ausgehende Umweltverschmutzung angeht (einstimmig).

Keine Verletzung von Art 8 EMRK in seinem prozeduralen Aspekt, was das von den Bf behauptete Versäumnis der Behörden betrifft, Informationen über die von der Deponie »Lo Uttaro« ausgehenden Umweltrisiken zu veröffentlichen (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung ist eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden; € 5.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegende Beschwerde bezieht sich auf die Abfallkrise, die in der Region Kampanien massive Umweltverschmutzung und Gesundheitsbeeinträchtigungen mit sich brachte.

Organisation der Müllentsorgung in Kampanien

Von 11.2.1994 bis 31.12.2009 galt in der Region Kampanien aufgrund von massiven Problemen mit der Entsorgung von Hausmüll der Notstand. Diese Abfallkrise betraf auch die Gemeinden Caserta und San Nicola La Strada, in denen einige der Bf leben. Wie aus mehreren Anordnungen des Bürgermeisters von Caserta hervorgeht, herrschte dort eine »ernste Situation«, weil sich »in den Straßen Berge von Müll auftürmten«, was den Verkehr behinderte und unerträglichen Gestank mit sich brachte. Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ordnete der Bürgermeister unter anderem die Schließung der Kindergärten und Schulen und die Einrichtung temporärer Mülllagerplätze an. Ähnliche Maßnahmen wurden in San Nicola La Strada getroffen.

Ein Gesetzesdekret vom 30.12.2009 ordnete im Hinblick auf die Beendigung des Notstands dringende Maßnahmen an, die unter anderem die rasche Errichtung von Deponien und Anlagen zur thermischen Verwertung von Müll umfassten. Im Dezember 2013 sah ein weiteres Dekret unter anderem Ermittlungen in Kampanien vor, um die Gebiete zu erfassen, die von schwerer Umweltverschmutzung durch die illegale Entsorgung und Verbrennung von Abfall betroffen waren (das Gebiet der sogenannten »Tierra dei fuochi« – Land der Feuer). Auch die Gemeinden Caserta und San Nicola La Strada zählten zu den betroffenen Gebieten.

Eine zur Untersuchung der Müllkrise eingesetzte parlamentarische Kommission sprach in ihrem Bericht von einem »in der Region nicht mehr zu bewältigenden nationalen Problem« und einer Umweltverschmutzung, die »unberechenbare Schäden für zukünftige Generationen« mit sich bringen werde.

Eine auf Initiative der italienischen Regierung in zwei Phasen durchgeführte Studie, an der unter anderem die Regionale Umweltschutzagentur (Agenzia Regionale di Protezione Ambientale della Campania – ARPAC) beteiligt war, stellte in den Provinzen Neapel und Caserta ein erhöhtes Risiko fest, an bestimmten Krebserkrankungen zu sterben. In der zweiten Phase wurde ein Zusammenhang zwischen den Erkrankungen und der Belastung durch die Abfälle nachgewiesen.

Die Deponie »Lo Uttaro«

Auf der Suche nach Abhilfe inspizierten die Behörden die bis in die 1990er Jahre von einem Privatunternehmen betriebene Mülldeponie von »Lo Uttaro«. Dabei wurden erhebliche Mängel und eine »extrem schwerwiegende Umweltverschmutzung« festgestellt, die das Areal ungeeignet für eine neuerliche Nutzung machten. Nachdem im April 2005 Sanierungsmaßnahmen angeordnet worden waren, erfolgte dennoch zwei Jahre später eine erneute Inbetriebnahme der Deponie.

Auf Antrag mehrerer Anwohner*innen untersagte ein Einzelrichter des Gerichts von Neapel im Juli 2007 den weiteren Betrieb der Deponie. Nach einem Einspruch gestattete das Gericht jedoch vorläufig die Inbetriebnahme. Nachdem ein Gutachten zum Ergebnis gelangte, dass die Anlage seit den 1990er Jahren genehmigungswidrig genutzt worden war und weiterer Müll die bereits bestehenden Umweltbeeinträchtigungen – insb die Kontaminierung des Grundwassers – verschlimmern und die erforderliche Sanierung erschweren würde, wies das Gericht von Neapel das Rechtsmittel ab.

Nach einer Inspektion durch die ARPAC, die ebenfalls massive Verschmutzungen des Gebiets festgestellt hatte, beschlossen die Behörden wiederholt Maßnahmen zur Sanierung und Dekontamination. Aufgrund der hohen Belastung des Grundwassers mit Schwermetallen und anderen Toxinen wurde die Benutzung von Brunnen in der Gegend untersagt.

Nach den 2020 übermittelten Informationen der Bf und der Regierung waren die Sanierungsarbeiten noch nicht abgeschlossen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 2 (Recht auf Leben), Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung), Art 6 Abs 1 (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) und Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) sowie von Art 1 1. ZPEMRK (Recht auf Achtung des Eigentums).

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

(84) Die Bf brachten [...] vor, der Staat habe der Umwelt schwere Schäden zugefügt und ihr Leben und ihre Gesundheit sowie jene der lokalen Bevölkerung allgemein gefährdet, indem er es verabsäumte, (i) eine funktionierende Sammlung, Behandlung und Entsorgung der Abfälle zu gewährleisten und (ii) die Auswirkungen der Verschmutzung durch die »Lo Uttaro«-Deponie zu minimieren oder zu beseitigen.

(86) [...] Angesichts seiner sich auf diese Angelegenheit beziehenden Rsp ist der GH der Ansicht, dass die vorliegende Beschwerde aus dem Blickwinkel des Rechts auf Achtung der Wohnung und des Privatlebens zu prüfen ist, wie es durch Art 8 EMRK garantiert wird [...].

Zulässigkeit

(87) Die Regierung erhob zwei Unzulässigkeitseinreden, wonach es den Bf an der Opfereigenschaft fehle und die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft worden seien.

Zur Opfereigenschaft der Bf

(91) [...] Die Konvention gewährt [...] kein Recht auf eine actio popularis. Das entscheidende Element, auf das es nach der stRsp bei der Beurteilung ankommt, ob eine Umweltverschmutzung in einem konkreten Fall eines der durch Art 8 Abs 1 EMRK garantierten Rechte nachteilig beeinträchtigt hat, ist das Bestehen einer schädigenden Wirkung auf den privaten oder familiären Bereich einer Person und nicht einfach die allgemeine Verschlechterung der Umwelt. [...] In einigen Fällen, in denen der GH die Anwendbarkeit von Art 8 EMRK bejahte, war die Nähe der Wohnungen der Bf zu den Quellen der Verschmutzung einer der berücksichtigten Faktoren.

(92) [...] Die Situation, über die sich die Bf beschwerten, betraf insofern als sie sich auf die durch die schlechte Organisation der Dienste zur Sammlung, Behandlung und Entsorgung der Abfälle verursachten Umweltschäden bezog, die gesamte Bevölkerung Kampaniens, und hinsichtlich der Verschmutzung durch die Deponie »Lo Uttaro« konkreter die Einwohner*innen der nahe gelegenen Gemeinden von Caserta und San Nicola La Strada.

(93) [...] Die von den Bf vorgelegten Dokumente zeigen, dass Caserta und San Nicola La Strada von der Abfallkrise betroffen waren, die von 11.2.1994 bis 31.12.2009 dauerte. Insb bezogen sich mehrere [...] 2008 ergangene Anordnungen des Bürgermeisters von Caserta auf die »ernste Situation« aufgrund von »sich in den Straßen auftürmenden riesigen Müllbergen« [...], die zu einem öffentlichen Gesundheitsnotstand führte, der eine erhebliche Belastung und Gefährdung der Sicherheit der Bürger*innen mit sich brachte. Auch der Bürgermeister von San Nicola La Strada verwies in mehreren Anordnungen [...] auf die [...] Ansammlung von Müll »auf allen öffentlichen Straßen«, die eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit mit sich brachte.

(94) Was die Deponie »Lo Uttaro« betrifft, zeigen die von den Parteien vorgelegten Dokumente unter anderem, dass die lokalen Behörden der Bevölkerung von Caserta und San Nicola La Strada wiederholt verbieten mussten, das aus Brunnen in der Gegend rund um die Deponie gewonnene Grundwasser zu verwenden. Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass die Umweltschäden, über die sich die in diesen Gemeinden lebenden Bf beschweren, deren persönliches Wohlbefinden wahrscheinlich direkt beeinträchtigten.

(95) Allerdings stellt der GH fest, dass die Bf Nr 2–4, 7 und 15–18 nicht belegten, dass sie in dem betroffenen Gebiet wohnen. Sie haben es daher seiner Ansicht nach verabsäumt nachzuweisen, von der in Beschwerde gezogenen Situation direkt betroffen gewesen zu sein.

(96) Daher akzeptiert der GH die Einrede der Regierung betreffend die Bf Nr 2–4, 7 und 15–18 und verwirft sie im Hinblick auf die übrigen Bf. [...]

(97) Dementsprechend ist die Beschwerde, soweit sie von den Bf Nr 2–4, 7 und 15–18 erhoben wurde, iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK ratione personae unvereinbar mit der Konvention und daher gemäß Art 35 Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückzuweisen (einstimmig).

Zur Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(107) Was entschädigende Rechtsbehelfe betrifft, stellt der GH fest, dass diese theoretisch zur einer Entschädigung für betroffene Personen führen hätten können, nicht jedoch zur Entfernung des Abfalls von öffentlichen Straßen oder zur Sanierung der Deponie »Lo Uttaro«. Somit hätten sie nur teilweise Abhilfe für die von den Bf behaupteten Umweltschäden bieten können. Selbst unter der Annahme, eine Entschädigung würde eine angemessene Wiedergutmachung [...] darstellen, hat die Regierung nicht gezeigt, dass die Bf mit diesem Rechtsbehelf Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. [...] Sie legte keine Beispiele für Entscheidungen der Zivil- oder Verwaltungsgerichte vor, mit denen Bewohner*innen von durch die Ansammlung von Müll oder die Verschmutzung durch eine Deponie betroffenen Gebieten tatsächlich eine Entschädigung zugesprochen wurde.

(109) Was Rechtsbehelfe vor den Zivilgerichten betrifft, nimmt der GH zur Kenntnis, dass das Gericht von Neapel [...] die Einstellung des Betriebs der Deponie (durch den Einzelrichter) anordnete und dann (durch einen Senat) bestätigte. Diese Maßnahme verhinderte jedoch weder, dass der bereits deponierte Müll weiterhin Emissionen in die Atmosphäre ausstieß und das Grundwasser kontaminierte, noch konnte sie eine Sicherung und Sanierung des betroffenen Gebiets gewährleisten.

(110) In Bezug auf Rechtsbehelfe vor den Verwaltungsgerichten [...] verwies die Regierung auf zwei Urteile des Verwaltungsgerichts Kampanien. [...] Keines dieser Urteile trug den Behörden Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und des Privatlebens der Bf auf.

(111) Zudem bemerkt der GH, dass unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls (i) der Notstand in Kampanien ausgerufen wurde, um eine strukturelle Krise zu bewältigen, die mehr als 15 Jahre lang das gesamte regionale Abfallmanagement betraf; und (ii) den Behörden die Verschmutzung durch die Deponie »Lo Uttaro« zumindest seit 2001 bekannt war und die Arbeiten zur Sicherung des Gebiets mehrere Jahre, nachdem sie beschlossen wurden, immer noch im Gange waren und es keinen klaren Zeitplan für ihren Abschluss gab.

(112) [...] Der Regierung ist es nicht gelungen, den GH davon zu überzeugen, dass zivil- oder verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe im vorliegenden Fall vernünftige Erfolgsaussichten geboten hätten.

(113) Folglich ist die sich auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechsbehelfe beziehende Verfahrenseinrede der Regierung zu verwerfen.

(114) [...] Diese Beschwerdevorbringen sind weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(120) [...] Schwere Umweltverschmutzung kann das Wohlbefinden von Personen beeinträchtigen und sie in einer Weise daran hindern, ihre Wohnungen zu genießen, die ihr Privat- und Familienleben beeinträchtigt.

(121) [...] Die nachteiligen Wirkungen von Umweltverschmutzung müssen ein gewisses Mindestmaß erreichen, um in den Anwendungsbereich von Art 8 EMRK zu fallen. [...]

(122) Es ist oft nicht möglich, die Effekte schwerwiegender industrieller Verschmutzung in jedem Einzelfall zu quantifizieren und sie vom Einfluss anderer relevanter Faktoren wie Alter, Beruf oder Lebensstil abzugrenzen. Dasselbe gilt für eine mögliche Verschlechterung der Lebensqualität durch industrielle Verschmutzung. »Lebensqualität« ist eine subjektive Eigenschaft, die sich kaum präzise definieren lässt. Unter Berücksichtigung der damit verbundenen Beweisschwierigkeiten wird sich der GH folglich bei der Feststellung des Sachverhalts in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Ergebnisse der innerstaatlichen Gerichte und anderer zuständiger Behörden stützen.

(124) Im Kontext gefährlicher Aktivitäten haben die Staaten die Verpflichtung, an die besonderen Merkmale der fraglichen Tätigkeiten angepasste Regelungen zu erlassen, insb im Hinblick auf den Grad der potenziellen Risiken. Diese müssen sich auf die Genehmigung und Errichtung, den Betrieb, die Sicherheit und die Überwachung der Aktivität beziehen und die Betroffenen dazu verpflichten, praktische Maßnahmen zu ergreifen, um den wirksamen Schutz von Bürger*innen sicherzustellen, deren Leben durch die damit verbundenen Risiken gefährdet sein könnten.

(125) Zu den prozeduralen Verpflichtungen nach Art 8 EMRK erinnert der GH an die besondere Bedeutung [...] des Zugangs der Öffentlichkeit zu Informationen, die eine Beurteilung der Risiken ermöglicht, denen sie ausgesetzt wird. [...]

Anwendung der Grundsätze auf den vorliegenden Fall

Organisation der Sammlung, Behandlung und Entsorgung des Mülls von 11.2.1994 bis 31.12.2009

(127) Die Bf haben nicht behauptet, durch irgendwelche Krankheitsbilder betroffen gewesen zu sein, die im Zusammenhang mit der Einwirkung des Abfalls standen. Sie stützten sich jedoch auf mehrere Studien über die Umweltsituation in den Provinzen von Neapel und Caserta. Nach diesen Studien, deren Befunde die Regierung nicht bestritt, war das mit einer Reihe von Tumoren und anderen Erkrankungen verbundene Sterblichkeitsrisiko in einem Teil dieser Provinzen – der die Gemeinden von Caserta und San Nicola La Strada umfasst – höher als im Rest von Kampanien. Der GH sieht keinen Grund, den von diesen Studien nahegelegten kausalen Zusammenhang zwischen der Einwirkung des Abfalls und einem erhöhten Risiko von Erkrankungen wie Krebs oder angeborenen Fehlbildungen in Frage zu stellen [...].

(128) Das Bestehen eines Gesundheitsrisikos durch die Müllkrise wurde vom EuGH anerkannt. (Anm: EuGH 4.3.2010, C-297/08, Europäische Kommission gg Italienische Republik) [...]

(129) Außerdem gelangte die parlamentarische Kommission in ihrem Bericht vom 5.2.2013 zum Ergebnis, dass es zwar unmöglich sei, das genaue Ausmaß der Auswirkungen der durch die Müllkrise verursachten Verschmutzung auf die menschliche Gesundheit einzuschätzen, jedoch ein unberechenbarer Schaden bestehe, der zukünftige Generationen betreffen und seinen Höhepunkt in 50 Jahren erreichen werde.

(130) Auch wenn nach Ansicht des GH aufgrund des Fehlens medizinischer Belege nicht gesagt werden kann, dass die Verschmutzung durch die Müllkrise zwangsläufig die Gesundheit der Bf schädigte, ist es unter Berücksichtigung der amtlichen Berichte und der verfügbaren Beweise möglich festzustellen, dass die Bf gegenüber verschiedenen Krankheiten verwundbarer waren, weil sie in dem Gebiet lebten, das durch eine übermäßige Belastung mit Müll geprägt war, die gegen die geltenden Sicherheitsstandards verstieß.

(131) Wie der GH zudem in Erinnerung ruft, kann eine schwerwiegende Umweltverschmutzung sich auch ohne eine ernsthafte Gefährdung ihrer Gesundheit derart auf das Wohlbefinden von Personen auswirken, dass ihr Privatleben beeinträchtigt wird. Im vorliegenden Fall waren die Bf gezwungen, mehrere Monate lang in einer Umwelt zu leben, die durch Müll verschmutzt wurde, der in den Straßen liegen gelassen oder auf Deponien gelagert wurde, die eilig errichtet worden waren, um das andauernde Fehlen ausreichender Einrichtungen zur Behandlung und Entsorgung des Abfalls zu bewältigen. Die Abholung des Mülls wurde in den Gemeinden von Caserta und San Nicola La Strada von Ende 2007 bis Mai 2008 wiederholt unterbrochen. Die Ansammlung großer Mengen von Abfall entlang öffentlicher Straßen veranlasste die örtlichen Behörden dazu, Notfallmaßnahmen zu ergreifen, wie die vorübergehende Schließung von Kindergärten, Schulen, Universitäten sowie lokalen Märkten, und vorübergehende Lagerflächen in den Gemeinden einzurichten.

(132) Selbst unter der Annahme, dass die akute Phase der Krise nur fünf Monate dauerte – von Ende 2007 bis Mai 2008 – stellt der GH fest, dass die von den Bf in ihrem Alltag erlebte Umweltbelastung ihr Privatleben während der gesamten geprüften Zeitspanne nachteilig und in ausreichendem Grad beeinträchigte.

(133) Angesichts des fortdauernden Unvermögens der italienischen Behörden, für das angemessene Funktionieren der Sammlung, Behandlung und Entsorgung des Mülls zu sorgen, verabsäumten es die Behörden nach Ansicht des GH ungeachtet des dem belangten Staat zukommenden Ermessensspielraums, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um den wirksamen Schutz des Rechts der Bf auf Achtung ihrer Wohnung und ihres Privatlebens sicherzustellen.

(134) Es hat daher im Hinblick auf den Zeitraum von 11.2.1994 bis 31.12.2009 eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Organisation der Sammlung, Behandlung und Entsorgung des Mülls ab 1.1.2010

(135) Im Hinblick auf den Zeitraum nach Beendigung des Notstands mit 31.12.2009 [...] werfen die von den Parteien vorgelegten Dokumente Licht auf verschiedene Versäumnisse bei der Organisation der Müllsammlung und -entsorgung in Kampanien. Ungeachtet der seit Mai 2008 erfolgten legislativen und politischen Maßnahmen stellte der EuGH fest, dass die Behörden am 15.1.2012 immer noch rund sechs Millionen Tonnen »Öko-Pressballen« entsorgen müssten, wofür nach Errichtung der erforderlichen Infrastruktur rund 15 Jahre erforderlich wären. (Anm: EuGH 16.7.2015, C-653/13, Europäische Kommission gg Italienische Republik.) [...]

(136) Es ist nicht Aufgabe des GH, in abstracto über die Qualität der Dienste zur Sammlung, Behandlung und Entsorgung des Abfalls in Kampanien oder über die Angemessenheit der Infrastruktur [...] zu entscheiden, sondern sich in concreto zu vergewissern, wie sich diese Aktivitäten auf das Recht der Bf auf Achtung ihrer Wohnung und ihres Privatlebens [...] auswirkten. [...] Die Bf haben nicht aufgezeigt, ob und in welchen Umfang die Mängel [...] im Zeitraum nach dem Ende des Notstands einen direkten Einfluss auf ihre Wohung und ihr Privatleben hatten. Obwohl die nach wie vor vorhandenen großen Mengen an »Öko-Pressballen« das Fortbestehen einer generellen Beeinträchtigung der Umwelt in Kampanien zeigt, reicht dies alleine nicht für die Feststellung aus, dass die Situation die Bevölkerung der Gemeinden Caserta und San Nicola La Strada besonders betraf [...].

(137) Bei dieser Schlussfolgerung weist der GH darauf hin, dass sich das Vorbringen der Bf spezifisch auf die mangelhafte Organisation der Sammlung, Behandlung und Entsorgung des Abfalls durch die nationalen Behörden bezieht und nicht auf – damit im Zusammenhang stehende – Phänomene wie die als »Terra dei fuochi« bekannte allgemeine Situation der illegalen Müllentsorgung, die somit nicht Teil der vorliegenden Rechtssache ist.

(138) [...] Da die Bf nicht nachwiesen, nach dem 1.1.2010 [...] ernsthafte Auswirkungen durch die Verschmutzung durch Müll erlitten zu haben, stellt der GH [im Hinblick auf diesen Zeitraum] keine Verletzung von Art 8 EMRK fest (einstimmig).

Zur Verletzung des materiellen Aspekts von Art 8 EMRK durch die Deponie »Lo Uttaro«

(140) Es ist nicht Aufgabe des GH zu entscheiden, was genau im vorliegenden Fall getan hätte werden müssen, um die Verschmutzung effizienter anzugehen und möglicherweise zu reduzieren. Allerdings liegt es gewiss in seiner Zuständigkeit zu beurteilen, ob die Regierung dem Problem die gebotene Sorgfalt widmete und alle widerstreitenden Interessen berücksichtigte. [...] Es liegt am Staat, eine Situation, in der bestimmte Personen zugunsten der übrigen Gemeinschaft eine schwere Last tragen, unter Heranziehung detaillierter und exakter Daten zu rechtfertigen. Den gegenständlichen Fall aus dieser Perspektive betrachtend, hält der GH folgende Punkte fest.

(141) Die Unterlagen [...] zeigen das Bestehen einer schweren Umweltverschmutzung durch die Deponie »Lo Uttaro« aufgrund von rund 20 Jahren dauernder illegaler Müllentsorgung. Ab den 1980er Jahren bis zur dauerhaften Einstellung des Betriebs 2007 wurde die Deponie – in Verstoß gegen die geltenden gesetzlichen Bestimmungen und behördlichen Genehmigungen – über ihre Grenzen hinaus und in Überschreitung ihrer Kapazität betrieben und zudem für die Entsorgung gefährlicher Abfälle genutzt. Zumindest seit 2001 wussten die Behörden, dass die Deponie eine schwere Gefahr für die Umwelt darstellte. Ungeachtet der Situation [...] wurde die Wiedereröffnung der Deponie [...] genehmigt, was die Bedingungen für eine weitere Verschlimmerung der Umweltschäden schuf. [...]

(142) [...] 2008 durchgeführte Untersuchungen [...] zeigten die nach wie vor bestehenden Umweltgefahren für Grundwasser und Atmosphäre durch die damals nicht mehr betriebene Deponie [...].

(143) [...] Trotz der Versuche der Behörden, das betroffene Gebiet abzusichern, waren die vorgesehenen Projekte zum Zeitpunkt der letzten vom GH erhaltenen Stelungnahmen (7.7.2020) noch nicht vollständig umgesetzt. Auch wurden die Arbeiten nicht nach einem klaren Zeitplan durchgeführt. [...] Die Umsetzung der ersten Phase der Beurteilung der Umweltschäden in dem Gebiet fand in den Jahren 2013 und 2014 statt.

(144) Obwohl die ARPAC am 11.4.2014 anhand der gesammelten Daten mehrere Handlungsempfehlungen abgab, die (i) dringende Sicherungsmaßnahmen hinsichtlich der Kontamination des Grundwassers und (ii) die sofortige Beseitigung und Entsorgung der gefährlichen Abfälle, die Asbest enthielten, umfassten, wurden diese dringenden Maßnahmen nicht umgesetzt.

(145) [...] Die Ergebnisse der zweiten Phase der Beurteilung der Umweltschäden, die im Juni 2014 beschlossen wurde und nicht mehr als 90 Tage in Anspruch nehmen sollte, [...] wurden erst am 10.3.2016 von der ARPAC bestätigt.

(146) Bezüglich der dauerhaften Sicherung des Gebiets [...] teilte die Regierung [...] am 6.7.2020 mit, dass die Maßnahmen zur Sicherung des Grundwassers [...] noch im Gang waren und es keine klaren Fristen für ihren Abschluss gab.

(147) [...] Die bloße Schließung der Deponie hinderte den Müll nicht daran, weiterhin die Umwelt zu schädigen und die menschliche Gesundheit zu gefährden. [...] Zudem scheint das Vorgehen zur Sicherung und Säuberung des Gebiets eher unentschlossen gewesen zu sein. Inzwischen sahen sich die Gerichte und Verwaltungsbehörden aufgrund der Konzentration einiger toxischer Substanzen im Grundwasser nahe der Deponie zwischen 2013 und 2019 wiederholt dazu veranlasst, die Verwendung des Grundwassers und den Ackerbau in diesem Gebiet zu verbieten [...].

(148) Während der GH nicht beurteilen kann, in welchem Ausmaß Leben und Gesundheit der Bf durch die von der Deponie »Lo Uttaro« ausgehende Verschmutzung spezifisch bedroht wurden, zeigen die von den Parteien vorgelegten Dokumente, dass eine Situation der Umweltverschmutzung in den Gemeinden Caserta und San Nicola La Strada fortdauerte und ihre Gesundheit gefährdete.

(149) Angesichts des Vorgesagten stellt der GH fest, dass es die nationalen Behörden verabsäumten, alle zur Sicherstellung eines effektiven Schutzes des Rechts der betroffenen Personen auf Achtung ihres Privatlebens erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

(151) Daher hat eine Verletzung von Art 8 EMRK in seinem materiellen Aspekt stattgefunden (einstimmig).

Zur Verletzung des prozeduralen Aspekts von Art 8 EMRK durch die Deponie »Lo Uttaro«

(152) Was den prozeduralen Aspekt von Art 8 EMRK und das angebliche Versäumnis betrifft, Informationen zur Verfügung zu stellen, die es den Bf ermöglicht hätten, die Risiken einzuschätzen, denen sie ausgesetzt waren, bemerkt der GH, dass die Zivilschutzabteilung Studien über die Gesundheitsauswirkungen der Müllentsorgung in den Provinzen Neapel und Caserta veröffentlichte. Zudem wurde die Umweltsituation der Deponie »Lo Uttaro« 2007 und 2013 durch eine parlamentarische Kommission öffentlich gemacht. Informationen über die Untersuchungsergebnisse [...] waren in den Anordnungen der Bürgermeister [...] enthalten. Folglich haben die italienischen Behörden [...] ihre Verpflichtung erfüllt, die betroffenen Personen, einschließlich der Bf, über die möglichen Risiken zu informieren, denen sie sich aussetzten, indem sie weiterhin in Caserta und San Nicola La Strada lebten. In dieser Hinsicht hat es folglich keine Verletzung von Art 8 EMRK gegeben (einstimmig).

Zu den weiteren behaupteten Verletzungen

(153) Die Bf beschwerten sich weiters über das Fehlen effektiver Rechtsbehelfe zur Erlangung einer vollen Entschädigung für die Abgaben, die sie für die Abholung und Entsorgung ihres Hausmülls bezahlt hatten. [...] Sie stützten sich auf Art 6 und Art 13 EMRK sowie auf Art 1 1. ZPEMRK [...].

(154) Im Hinblick auf Art 6 EMRK erinnert der GH daran, dass [...] Steuerstreitigkeiten nicht in den Anwendungsbereich der »zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen« fallen [...].

(155) Folglich ist die Beschwerde unter Art 6 Abs 1 EMRK ratione materiae unvereinbar mit der Konvention.

(156) Was den Anspruch nach Art 1 1. ZPEMRK betrifft, erinnert der GH an die in Abs 2 enthaltene Regel, die es den Staaten ausdrücklich vorbehält, Gesetze zu erlassen, die sie zur Sicherung der Zahlung von Steuern für erforderlich halten.

(157) [...] Die Beschwerde unter Art 1 1. ZPEMRK ist [...] offensichtlich unbegründet, weil die Angelegenheit in den Ermessensspielraum fällt, den die Konventionsstaaten [...] auf dem Gebiet der Steuern genießen.

(159) Schließlich bekräftigt der GH, dass Art 13 EMRK nicht anwendbar ist, wenn keine vertretbare Behauptung [einer Verletzung der EMRK] vorliegt. Wie oben festgestellt, waren die Beschwerdevorbringen unter Art 6 EMRK und Art 1 1. ZPEMRK unvereinbar ratione materiae bzw offensichtlich unbegründet. Folglich haben die Bf keinen vertretbaren Anspruch nach der Konvention.

(160) Dementsprechend ist die Beschwerde unter Art 13 EMRK [...] ratione materiae unvereinbar mit den Bestimmungen der Konvention und folglich [...] zurückzuweisen.

(163) Dieser Teil der Beschwerde ist daher als unzulässig [...] zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung ist eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden; € 5.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

López Ostra/ES, 9.12.1994, 16798/90 = NL 1995, 25 = EuGRZ 1995, 530 = ÖJZ 1995, 347

Hatton ua/GB, 8.7.2003, 36022/97 (GK) = NL 2003, 193 = EuGRZ 2005, 584 = ÖJZ 2005, 642

Öneryıldız/TR, 30.11.2004, 48939/99 (GK) = NL 2004, 296

Fadeyeva/RU, 9.6.2005, 55723/00 = NL 2005, 129

Di Sarno ua/IT, 10.1.2012, 30765/08 = NLMR 2012, 5

Jugheli ua/GE, 13.7.2017, 38342/05 = NLMR 2017, 345

Cordella ua/IT, 24.1.2019, 54414/13, 54264/15

Kotov ua/RU, 11.10.2022, 6142/18 ua

Pavlov ua/RU, 11.10.2022, 31612/09

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.10.2023, Bsw. 35648/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 469) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise