Bsw56417/19 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache S. S. ua gg Ungarn, Urteil vom 12.10.2023, Bsw. 56417/19.
Spruch
Art 3 EMRK, Art 4 4. ZPEMRK - Sofortige Abschiebung am Flughafen Budapest gelandeter Flüchtlinge nach Serbien.
Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).
Verletzung von Art 4 4. ZPEMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 3 EMRK in seinem prozeduralen Aspekt (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 10.000,– an die ersten sieben Bf gemeinsam sowie € 7.000,– an die übrigen Bf gemeinsam für immateriellen Schaden; € 3.000,– an alle Bf gemeinsam für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Das vorliegende Urteil bezieht sich auf zwei Beschwerden, die von einer Familie aus dem Jemen und einer Familie aus Afghanistan erhoben wurden.
Die erste Beschwerde betrifft eine Mutter und ihre fünf Kinder (zwei davon minderjährig) sowie einen weiteren Verwandten. Die Familie landete am 21.4.2019 via Istanbul vom Jemen kommend am Flughafen Budapest. Nachdem die Grenzpolizei entdeckt hatte, dass ihre Reisedokumente gefälscht waren, verhaftete sie die Bf. Noch am selben Tag ergingen Entscheidungen, mit denen ihnen die Einreise nach Ungarn verweigert und ihre Abschiebung in die Türkei angeordnet wurde. Nachdem sie am folgenden Tag mündlich und schriftlich um Asyl ersucht hatten, wurde ihre bereits geplante Abschiebung nach Istanbul abgesagt. Noch am selben Abend wurden die Bf zur Grenze zu Serbien gebracht und dort um circa 1:30 Uhr aufgefordert, sich durch ein Tor im Grenzzaun nach Serbien zu begeben, wo sie in der ungarischen Transitzone Asyl beantragen könnten. (Anm: Gemäß § 80/J Abs 1 des ungarischen Asylgesetzes kann ein Asylantrag nur persönlich in einer der beiden Transitzonen an der Landgrenze gestellt werden. Nach § 80/J Abs 3 leg cit hat die Polizei rechtswidrig in Ungarn aufhältige Fremde, die ihre Absicht äußern, einen Asylantrag zu stellen, zu einem Tor im Grenzzaun zu eskortieren.)
Die zweite Familie, bestehend aus einer Mutter und ihren beiden volljährigen Töchtern, landete am 20.12.2019 in Budapest. Sie kamen via Dubai aus Afghanistan. Auch diese drei Bf wurden wegen der Verwendung gefälschter Reisedokumente verhaftet. Nachdem sie um Asyl ersucht hatten, wurden die drei Frauen noch am selben Tag zum Grenzzaun gebracht und dort aufgefordert, nach Serbien zu gehen.
In beiden Fällen beruhten die Abschiebungen auf § 5 Abs 1b des ungarischen Grenzgesetzes. Dieser ermächtigt die Polizei dazu, unrechtmäßig aufhältige Fremde sofort zur Außenseite des Grenzzauns zu Serbien zu bringen. Mit den serbischen Behörden hatten die ungarischen Beamten die Abschiebungen der Bf nicht abgesprochen.
Beiden Familien gelang es letztendlich, in Österreich bzw Deutschland als Asylberechtigte anerkannt zu werden.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 4 4. ZPEMRK (Verbot der Kollektivausweisung) und von Art 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung).
Verbindung der Beschwerden
(36) Angesichts des ähnlichen Gegenstands der Beschwerden beschließt der GH, sie in einem einzigen Urteil zu behandeln [...].
Zur behaupteten Verletzung von Art 4 4. ZPEMRK
(37) Die Bf brachten vor, sie wären in Verstoß gegen Art 4 4. ZPEMRK einer Kollektivausweisung unterworfen worden [...].
Zulässigkeit
(38) Die Regierung wandte ein, die Bf hätten im Verfahren über ihre Abschiebung keine Beschwerden vorgebracht. Sofern dies als Unzulässigkeitseinrede verstanden werden kann, verweist der GH auf sein Urteil Shahzad/HU, in dem er feststellte, dass die Wirksamkeit einer Beschwerde gegen die fragliche Polizeimaßnahme im Hinblick auf eine behauptete Verletzung von Art 4 4. ZPEMRK nicht erwiesen sei. Der GH sieht keinen Grund dafür, im vorliegenden Fall zu einer anderen Schlussfolgerung zu gelangen. Er stellt fest, dass dieser Teil der Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig ist. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(45) [...] Wie der Bf in Shahzad/HU wurden die Bf im gegenständlichen Fall zur äußeren Seite des Grenzzauns zu Serbien gebracht. Der Grenzzaun, den die Bf überqueren mussten, wurde eindeutig errichtet, um die Grenze zwischen Ungarn und Serbien zu sichern. Angesichts der Überlegungen im genannten Urteil stellt der GH fest, dass die Entfernung der Bf eine Ausweisung iSv Art 4 4. ZPEMRK darstellte. Er muss sich daher vergewissern, ob die Ausweisung ihrer Art nach »kollektiv« war.
(46) Das entscheidende Kriterium für die Einordnung einer Ausweisung als »kollektiv« besteht im Fehlen einer »vernünftigen und sachlichen Prüfung des spezifischen Falls jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe«. Ausnahmen von dieser Regel wurden in Fällen angewandt, in denen das Fehlen einer individuellen Prüfung auf das eigene Verhalten des Bf zurückzuführen war.
(49) Es steht außer Streit, dass die Bf ihren Wunsch äußerten, in Ungarn um Asyl anzusuchen, und dass sie bei ihrer Festnahme mit den Behörden kooperierten. Anstatt die Argumente der Bf und die Bedürfnisse der bf Kinder, die sich in einer besonders vulnerablen Situation befanden, zu prüfen, schritten die ungarischen Behörden zu ihrer sofortigen Abschiebung nach Serbien. Nach Ansicht des GH konnte das Verhalten der Behörden nicht unter Art 4 4. ZPEMRK gerechtfertigt werden. [...] Die Bf kamen an einer offiziellen Grenzübertrittstelle am Flughafen Budapest an, wo sie sich an die Grenzkontrollbeamten wandten. Sie wurden in ein Land abgeschoben, aus dem sie nicht gekommen waren. Die Situation des vorliegenden Falls muss daher von einer Situation unterschieden werden, in der sich Fremde, die einen tatsächlichen und effektiven Zugang zu bestehenden Grenzübergängen hatten, dazu entschieden, eine Landgrenze an einer anderen Stelle unrechtmäßig zu überschreiten und dann in das Land zurückgeschickt wurden, aus dem sie gekommen waren.
(50) Während die Bf für ihre Reise unbestrittenermaßen gefälschte Dokumente benutzten und versuchten, unter Verwendung derselben nach Ungarn einzureisen, konnte dies nicht als jene Art von Verhalten qualifiziert werden, das die Behörden von ihrer Verpflichtung nach Art 4 4. ZPEMRK befreit. Wie der GH bereits in der Vergangenheit betont hat, kann der Schutz der Konvention nicht von formalen Überlegungen abhängen, wie etwa davon, ob den zu schützenden Personen entsprechend einer konkreten, auf die fragliche Situation anwendbaren Bestimmung des nationalen Rechts oder des Unionsrechts der Zutritt zum Territorium eines Mitgliedstaats gewährt wurde. Der gegenteilige Zugang würde insofern das Risiko von Willkür mit sich bringen, als Personen, die einen Anspruch auf Schutz durch die Konvention haben, aufgrund von rein formalen Überlegungen dieses Schutzes beraubt werden könnten [...]. Das berechtigte Anliegen der Staaten, die zunehmend häufigeren Versuche einer Umgehung der Einwanderungsbeschränkungen zu vereiteln,
kann nicht so weit gehen, dass dadurch der durch die EMRK gewährte Schutz unwirksam gemacht wird. Auch kann der GH die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass Personen, die internationalen Schutz suchen, oft gezwungen sind, ohne angemessene Reisedokumente zu reisen und sie folglich unter gewissen Umständen auf falsche oder gefälschte Papiere zurückgreifen können, insb wenn sie mit dem Flugzeug unterwegs sind. Jedenfalls scheint im vorliegenden Fall die Verwendung gefälschter Reisedokumente nicht der Grund für die Abschiebung der Bf gewesen zu sein. Die Regierung bestätigte, dass keine Ausweisungsentscheidung gegen die Bf erlassen wurde und ihre Abschiebung nach Serbien aufgrund der in § 5 Abs 1b des Grenzgesetzes vorgesehenen generellen Maßnahme erfolgte.
(51) Angesichts dessen stellt der GH fest, dass die Bf nach Serbien abgeschoben wurden, ohne dass ihnen eine wirksame Gelegenheit eingeräumt wurde, Argumente dagegen vorzubringen. Ihre Ausweisung hatte somit kollektiven Charakter. [...]
(52) Es hat folglich eine Verletzung von Art 4 4. ZPEMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 3 EMRK
(53) Die Bf beschwerten sich unter Art 3 EMRK darüber, nach Serbien ausgewiesen worden zu sein, wo kein angemessenes Asylverfahren verfügbar gewesen sei. Es habe keine Einschätzung der Konsequenzen ihrer Abschiebung hinsichtlich ihrer Rechte nach Art 3 EMRK stattgefunden, was gegen die aus dieser Bestimmung erwachsenden prozeduralen Verpflichtungen verstoßen habe.
Zulässigkeit
(54) [...] Diese Beschwerdevorbringen sind weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(61) Der GH hat stets die Bedeutung des Grundsatzes des Refoulementverbots betont. Er bekräftigt, dass die Ausweisung eines Fremden durch einen Mitgliedstaat [...] die Verantwortlichkeit dieses Staats nach Art 3 EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme dargelegt wurden, die betroffene Person würde im Fall ihrer Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt, im Zielstaat einer gegen Art 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterworfen zu werden. [...] Wenn ein Mitgliedstaat einen Asylwerber in einen Drittstaat abschieben will, ohne den Asylantrag in der Sache zu prüfen, ist die von den ausweisenden Behörden zu prüfende Hauptfrage, ob die Person in diesem Drittstaat Zugang zu einem angemessenen Asylverfahren haben wird.
(62) Im vorliegenden Fall hat der GH im Kontext von Art 4 4. ZPEMRK festgestellt, dass die ungarischen Behörden die Bf nach Serbien abschoben. Es wurde zudem nicht bestritten, dass die Bf vor ihrer Abschiebung bei den ungarischen Behörden internationalen Schutz beantragt hatten. [...] Um ihre Anträge auf internationalen Schutz zu untermauern, verwiesen sie auf die Risiken, die ihnen im Jemen bzw in Afghanistan drohen würden.
(63) Anstatt den Zugang der Bf zum Asylverfahren durch die Weiterleitung ihrer Asylanträge an die zuständigen Behörden und die Erteilung der Erlaubnis, bis zur Entscheidung in Ungarn zu bleiben, zu erleichtern, schob die Polizei die Bf nach Serbien ab. Die Abschiebung beruhte einzig auf der Tatsache, dass der Aufenthalt der Bf in Ungarn als rechtswidrig angesehen wurde und sie ihren Wunsch geäußert hatten, Asyl zu beantragen, was nach dem geltenden Recht nur in einer der ungarischen Transitzonen an der Grenze zu Serbien möglich war. Die Entscheidung der ungarischen Behörden, die Bf abzuschieben, hatte folglich nichts mit der Berechtigung ihrer Asylanträge zu tun und es ist daher nicht die Aufgabe des GH zu prüfen, ob den Bf in ihren Herkunftsländern Verfolgung drohte. Stattdessen muss er prüfen, ob ihre Abschiebung nach Serbien mit den prozeduralen Verpflichtungen des belangten Staats vereinbar war.
(64) [...] Wann immer ein Asylwerber von einem Mitgliedstaat ohne Prüfung des Asylantrags in der Sache in einen Drittstaat abgeschoben wird [...], ist es die Pflicht des abschiebenden Staats, genau zu prüfen, ob dem Asylwerber im Drittstaat eine reale Gefahr einer Verweigerung des Zugangs zu einem angemessenen Asylverfahren droht, das ihn vor Refoulement schützt. Wenn festgestellt wird, dass die bestehenden Garantien in dieser Hinsicht unzureichend sind, ergibt sich aus Art 3 EMRK eine Verpflichtung, den Asylwerber nicht in den betreffenden Drittstaat abzuschieben.
(65) Im vorliegenden Fall scheinen die Bf keine Verbindung zu Serbien gehabt zu haben und weder die Behörden [...] noch die Regierung [...] bezeichneten Serbien als sicheren Drittstaat [...]. In jedem Fall wurde nichts vorgebracht um zu belegen, dass die Abschiebung der Bf durch irgendeine – geschweige denn eine gebührende – Beurteilung des Zugangs zum Asylverfahren in Serbien und der Angemessenheit dieses Verfahrens untermauert wurde, und dies trotz der besorgniserregenden Berichte über diese Angelegenheit. Eine solche Beurteilung hätte von den ungarischen Behörden von Amts wegen und anhand aller relevanten und aktuellen Informationen durchgeführt werden müssen.
(66) Wie der GH in diesem Kontext feststellt, beruhte die Abschiebung der Bf offenbar auf der Annahme, sie könnten nach der Durchquerung von serbischem Staatsgebiet in der ungarischen Transitzone Asyl beantragen. Allerdings [...] deutet nichts darauf hin, dass die innerstaatlichen Behörden sich davon überzeugt haben, dass die Bf in der Lage sein würden, in der Transitzone wirksamen Zugang zum Asylverfahren zu erhalten. Die Regierung, der die Feststellung des GH, wonach Transitzonen kein wirksames Mittel für die rechtmäßige Einreise nach Ungarn darstellten (siehe Shahzad/HU, Rz 65), ebenso bekannt sein musste wie die Behauptung der Bf, der Zugang zum Asylverfahren über die Transitzone sei seit diesem Urteil noch stärker eingeschränkt worden, brachte diesbezüglich keine Argumente vor.
(67) Außerdem muss hervorgeboben werden, dass die Bf nicht zur Transitzone gebracht, sondern aus dem Hoheitsgebiet des belangten Staats entfernt wurden. Sie wurden dazu veranlasst, rechtswidrig nach Serbien einzureisen [...] und waren mit der Problematik eines solchen unrechtmäßigen Aufenthalts konfrontiert. Wie oben angemerkt, wurde zudem vorab nicht beurteilt, ob das serbische Asylverfahren ausreichende Garantien bot, um ihre direkte oder indirekte Abschiebung in ihre Herkunftsländer ohne angemessene Einschätzung der ihnen dort drohenden Risiken [...] zu verhindern.
(68) Wie der GH bekräftigt, kann ein Mitgliedstaat aus der Perspektive des Art 3 EMRK einem Asylwerber selbst unter der Annahme, dass er in der Lage sein könnte, auf einem anderem Einreiseweg zurückzukehren, den Zugang zu seinem Staatsgebiet nicht verwehren oder ihn abschieben, ohne eine gebührende Einschätzung der damit [...] verbundenen Risiken für seine durch die EMRK geschützten Rechte vorzunehmen.
(69) [...] Der GH gelangt daher zu dem Schluss, dass es der belangte Staat verabsäumte, entsprechend seinen prozeduralen Verpflichtungen nach Art 3 EMRK zu prüfen, ob die Bf in Serbien [...] Zugang zu einem angemessenen Asylverfahren haben würden. [...]
(70) Folglich hat eine Verletzung von Art 3 EMRK in seinem prozeduralen Aspekt stattgefunden (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 10.000,– an die ersten sieben Bf gemeinsam sowie € 7.000,– an die übrigen Bf gemeinsam für immateriellen Schaden; € 3.000,– an alle Bf gemeinsam für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Khlaifia ua/IT, 15.12.2016, 16483/12 (GK) = NLMR 2016, 511
Ilias und Ahmed/HU, 21.11.2019, 47287/15 (GK) = NLMR 2019, 474
N. D. und N. T./ES, 13.2.2020, 8675/15, 8697/15 (GK) = NLMR 2020, 53
Asady ua/SK, 24.3.2020, 24917/15 = NLMR 2020, 129
M. K. ua/PL, 23.7.2020, 40503/17 ua = NLMR 2020, 260
Shahzad/HU, 8.7.2021, 12625/17 = NLMR 2021, 365
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.10.2023, Bsw. 56417/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 495) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.