Bsw27753/19 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache El-Asmar gg Dänemark, Urteil vom 03.10.2023, Bsw. 27753/19.
Spruch
Art 3 EMRK - Anwendung von Pfefferspray ohne Vorwarnung im geschlossenen Raum.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art 3 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt (einstimmig).
Verletzung von Art 3 EMRK in seinem materiellen Teil (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden; € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf wurde am 24.3.2017 wegen Verstoßes gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz festgenommen und in einem örtlichen Gefängnis in Untersuchungshaft genommen. Am 30.3.2017 wurde er in eine Justizvollzugsanstalt verlegt, wo er wegen seines aggressiven und bedrohlichen Verhaltens wiederholt in Beobachtungs- und Sicherheitszellen untergebracht wurde.
Am 4.4.2017 wurde der Bf in seiner Beobachtungszelle von den Gefängniswärtern M1 und D1 mit Pfefferspray besprüht. Nach dem Protokoll hatte er zuvor gedroht, die Zelle zu zerstören und die Gefängnisbediensteten zu töten, wenn er keinen Fernseher und keine Zigaretten erhalte. Um 16:00 Uhr sei festgestellt worden, dass der Bf sein Essen gegen das Fenster geschleudert, unter die Tür uriniert, seine Matratze zerstört und die einzelnen Stücke in der Zelle verteilt hatte. Er habe auch mehrmals gegen die Tür getreten und gedroht, dass er alle [die Gefängniswärter] umbringen werde. Als die Gefängniswärter die Tür öffneten, sei der Bf auf den Justizvollzugsbeamten D1 zugestürmt und habe versucht, ihn im Bereich des Kopfes zu schlagen. Im selben Moment habe der Justizvollzugsbeamte M1 mit seinem Pfefferspray auf den Bf gesprüht. Der Bf warf sich auf den Boden, beruhigte sich jedoch nicht und leistete starken Widerstand, ehe ihm von einem der insgesamt sechs Gefängniswärter Handschellen angelegt werden konnten.
Der Gefängnisarzt, welcher von D1 telefonisch kontaktiert worden war, habe es nicht als notwendig erachtet, den Bf zu behandeln. Schließlich sei der Bf darauf hingewiesen worden, dass er betreffend den Vorfall eine Beschwerde erheben könne.
Am 26.4.2017 wurde vom Bf Beschwerde erhoben und insb vorgebracht, dass er mit Pfefferspray besprüht, in einer Sicherheitszelle untergebracht und schließlich an ein Bett gefesselt worden war. Die Abteilung für Strafvollzug und Bewährungshilfe stellte fest, dass die Vorgehensweise der Justizvollzugsbeamten gerechtfertigt gewesen sei, denn die Gewaltanwendung sei notwendig gewesen und iSd Strafvollzugsgesetzes behutsam durchgeführt worden.
Gegen D1 und M1 wurde in weiterer Folge kein Strafverfahren eingeleitet. Der Bf beschwerte sich am 23.2.2018 über diese Entscheidung und brachte unter anderem vor, dass die Ermittlungen unwirksam gewesen seien, keine Videoaufnahmen von den Gefängnisgängen sichergestellt worden seien und er nicht von einem vom Gefängnis unabhängigen Arzt behandelt worden sei. Insgesamt blieben die Rechtsbehelfe des Bf erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf behauptete eine Verletzung – sowohl aus materieller als auch aus verfahrensrechtlicher Sicht – des Art 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung).
Zur behaupteten Verletzung von Art 3 EMRK
Zulässigkeit
(39) [...] Der GH bekräftigt, dass im Bereich der rechtswidrigen Anwendung von Gewalt durch staatliche Bedienstete – und nicht bloßer Fehler, Unterlassung oder Fahrlässigkeit – zivil- oder verwaltungsrechtliche Verfahren, die lediglich auf die Zuerkennung von Schadenersatz und nicht auf die Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen abzielen,keine angemessenen und wirksamen Rechtsbehelfe darstellen, die geeignet sind, im Hinblick auf Beschwerden, die sich auf den materiellen Aspekt der Art 2 und 3 EMRK stützen, Abhilfe zu verschaffen [...].
(40) Der GH weist auch darauf hin, dass die innerstaatlichen Gerichte in Verfahren nach Art 63 der Verfassung nicht ermächtigt sind, eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft, ob in einer Strafsache Anklage erhoben wird oder nicht, zu prüfen [...]. Daher kann [...] ein solches Verfahren nicht als wirksamer Rechtsbehelf in einem Fall betreffend den angeblichen rechtswidrigen Einsatz von Pfefferspray durch staatliche Bedienstete angesehen werden [...].
(41) [...] Der GH stellt in weiterer Folge fest, dass das Vorbringen weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig ist. Es ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
(42) [...] Der Bf brachte vor, er sei in einer Beobachtungszelle eingesperrt gewesen und habe sich daher bereits unter der vollständigen Kontrolle der Gefängniswärter befunden, die nicht versucht hätten, weniger einschneidende Maßnahmen als den Einsatz von Pfefferspray anzuwenden. Er verwies auf die Empfehlungen von Gremien wie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) und dem Ausschuss der Vereinten Nationen gegen Folter (UNCAT) [...] und machte geltend, dass Pfefferspray niemals in geschlossenen Räumen eingesetzt werden sollte.
(46) Der GH wiederholt, dass »jedes Verhalten von Strafvollzugsbeamten gegenüber einer Person, welches die Menschenwürde herabsetzt, eine Verletzung von Art 3 EMRK darstellt« und dass dies »insb für die Anwendung von körperlicher Gewalt gegen eine Person gilt, wenn sie durch deren Verhalten nicht unbedingt erforderlich ist, unabhängig von den Auswirkungen auf die betreffende Person« [...].
(47) Fallen die fraglichen Ereignisse ganz oder größtenteils in den ausschließlichen Kenntnisbereich der Behörden, wie bei Personen, die sich unter ihrer Kontrolle in Gewahrsam befinden, entstehen starke Tatsachenvermutungen in Bezug auf Verletzungen, die während einer solchen Inhaftierung auftreten. Die Beweislast liegt dann bei der Regierung, die eine zufriedenstellende und überzeugende Erklärung liefern muss [...]. In Ermangelung einer solchen Erklärung kann der GH Schlussfolgerungen ziehen, die für die Regierung ungünstig sein können. Dies ist durch die Tatsache gerechtfertigt, dass sich Personen in Gewahrsam in einer vulnerablen Position befinden und die Behörden verpflichtet sind, sie zu schützen [...].
(48) Zum Einsatz von Pfefferspray hat der GH festgestellt, dass ein solcher »zum Zweck der Strafverfolgung zulässig ist« [...]. Er hat sich aber sowohl den Bedenken des CPT, dass »Pfefferspray eine potenziell gefährliche Substanz ist und nicht in geschlossenen Räumen verwendet werden sollte«, als auch dessen Schlussfolgerung, dass »Pfefferspray niemals gegen einen Gefangenen eingesetzt werden sollte, der bereits unter Kontrolle gebracht wurde«, angeschlossen [...].
(49) [...] Eine wirksame Untersuchung [iSd aus Art 3 EMRK ableitbaren verfahrensrechtlichen Komponente] muss geeignet sein, zur Identifizierung und gegebenenfalls zur Bestrafung der Verantwortlichen zu führen. Das Erfordernis der Unverzüglichkeit [...] ist in diesem Zusammenhang implizit. Es kann allgemein als notwendig angesehen werden, dass die für die Untersuchung verantwortlichen Personen von den an den Ereignissen Beteiligten unabhängig sind [...]. Die Untersuchung sollte auch so umfassend sein, dass die Ermittlungsbehörden nicht nur die Handlungen der staatlichen Bediensteten, die unmittelbar Gewalt angewendet haben, sondern auch alle Begleitumstände berücksichtigen können. [...]
Zum verfahrensrechtlichen Aspekt
(50) Im gegenständlichen Fall ist unbestritten, dass gegen den Bf während seiner Unterbringung in der Beobachtungszelle Pfefferspray eingesetzt wurde. Umstritten sind bloß die Umstände.
(54) Der GH stellte fest, dass der regionale Staatsanwalt [...] unabhängig war, nicht nur aufgrund einer fehlenden hierarchischen oder institutionellen Verbindung, sondern auch aufgrund seiner praktischen Unabhängigkeit [...].
(55) Die Strafverfolgungsbehörden holten [...] Aussagen des Bf und der beiden unmittelbar beteiligten Gefängniswärter ein. Sie überprüften die Aufzeichnungen des Gefängnistagebuchs zu Datum, Uhrzeit und Ort der Gewaltanwendung und der Verlegung des Bf von der Beobachtungs- in die Sicherheitszelle. Sie versuchten vergeblich, medizinische Informationen und Videoüberwachungsmaterial zu erhalten.
(56) Die Strafverfolgungsbehörden [...] stimmten mit dem Bf darin überein, dass die Verfahrensdauer lang war [...], da in den ersten sieben Monaten keine Ermittlungen durchgeführt wurden. Sie stellten jedoch nicht fest, dass die Ermittlungen aus diesem Grund unwirksam oder unzureichend gewesen seien, da ihrer Ansicht nach alle relevanten Beweise gesammelt worden und keine Beweise wegen des Zeitablaufs verloren gegangen seien.
(57) Die Kritik [...] der innerstaatlichen Behörden bezog sich auf die sieben Monate, die nach der Anzeige des Vorfalls durch den Bf bis zu seiner ersten polizeilichen Vernehmung [...] verstrichen waren. Es dauerte weitere zwei Monate, bis die betreffenden Gefängniswärter befragt wurden [...]. Nach Ansicht des GH kann die Untersuchung wegen der verstrichenen Zeitspanne bis zu ihrer Einleitung nicht als »zügig« bezeichnet werden. In weiterer Folge wurde sie jedoch mit angemessener Eile durchgeführt.
(58) In diesem Fall wurde jedoch die Identität der betreffenden Gefängniswärter aufgezeichnet [...] und die Beschreibung des Sachverhalts im Gefängnistagebuch von D1 bezüglich der Unterbringung des Bf in der Sicherheitszelle entsprach den Angaben, die später von ihm und M1 gemacht wurden. Unter diesen besonderen Umständen kann der GH zustimmen, dass die Verzögerung in der Anfangsphase der Untersuchung per se nicht zu der Feststellung führen kann, dass die Untersuchung unwirksam war.
(59) [...] Die von den Strafverfolgungsbehörden durchgeführten Ermittlungen zielten darauf ab, zu entscheiden, ob Anklage gegen D1 und M1 erhoben werden sollte oder nicht. Zudem war zu entscheiden, ob auf die vier spezifischen Beschwerden des Bf über die Ermittlungen eingegangen wird. Der GH stellt jedoch fest, dass der Gegenstand der Ermittlungen dadurch ziemlich eng wurde und keine Beurteilung der Frage beinhaltete, ob [...] der Einsatz von Pfefferspray gegen den Bf in der Beobachtungszelle »durch sein Verhalten unbedingt erforderlich« war [...].
(60) Die Strafverfolgungsbehörden stellten insb fest, dass die Berichte über die Ereignisse widersprüchlich waren [...]. Doch selbst wenn es sich um einen gewalttätigen Angriff des Bf handelte, der den Einsatz des Pfeffersprays auslöste, scheinen die Strafverfolgungsbehörden den Vorfall nicht im Zusammenhang mit den Begleitumständen bewertet zu haben, einschließlich des früheren Verhaltens und der Drohungen des Bf oder der Fähigkeit der Strafvollzugsbehörden, auf frühere Angriffe zu reagieren, ohne Pfefferspray einsetzen zu müssen [...]. Sie untersuchten nicht [...] den Grund für das Betreten der Beobachtungszelle, die Vorbereitung (falls vorhanden) der Maßnahme oder die Frage, ob die im innerstaatlichen Recht festgelegten rechtlichen Vorgaben für den Einsatz von Pfefferspray eingehalten worden waren.
(61) Der GH stellt auch fest, dass die Beschreibungen der Ereignisse und des Zeitablaufs in den Gefängnistagebüchern widersprüchlich waren [...].
(62) Laut den Aufzeichnungen des Gefängnistagebuchs über die Unterbringung des Bf in der Beobachtungszelle am 4.4.2017 [...] wurde er dort um 8:54 Uhr untergebracht. Um 10:00 Uhr habe er geschrien und Drohungen ausgesprochen, um 15:00 Uhr erneut geschrien und Drohungen ausgesprochen, um 16:00 Uhr habe er sein Essen gegen das Fenster geworfen, unter die Tür uriniert, seine Matratze zerstört und geschrien, dass er die Gefängniswärter umbringen würde. Um 16:20 Uhr, kurz bevor die Wärter die Zelle betraten, habe er gegen die Tür getreten und erneut geschrien, er wolle sie umbringen.
(63) Diese Schilderung der Ereignisse scheint die Justizvollzugsanstalt dazu veranlasst zu haben, in ihrer Stellungnahme vom 2.6.2017 an die Abteilung für Strafvollzug und Bewährungshilfe festzustellen, dass »das Gefängnispersonal beschloss, die Tür der Beobachtungszelle zu öffnen, weil [der Bf] gewaltsam gegen die Tür getreten hatte, ein Verhalten, das die Gefahr einer Selbstverletzung mit sich bringt« [...].
(64) Laut den Aufzeichnungen des Gefängnistagebuchs über die Unterbringung des Bf in der Sicherheitszelle »bemerkte das Personal um 16:25 Uhr, dass [der Bf] unter die Tür [uriniert] und seine Matratze zerstört hatte. Der Bf trat gegen die Tür und schrie, er wolle sie alle umbringen« [...].
(65) Diese Schilderung der Ereignisse wurde durch die Erklärungen von D1 und M1 bei ihrer späteren Befragung durch die Strafverfolgungsbehörden bestätigt. Die beiden Gefängniswärter fügten hinzu, dass der Bf versucht habe, das Fenster in der Zellentür einzuschlagen, und dass sie danach in die Zelle eingedrungen seien, jedoch hauptsächlich, um die Matratze zu entfernen [...].
(66) Der GH stellt somit fest, dass die Strafverfolgungsbehörden keinen angemessenen Versuch unternommen haben, zu klären, ob die Gefängniswärter die Beobachtungszelle betraten, um den Bf vor Selbstverletzungen zu schützen oder um eine offenbar bereits zerstörte Matratze zu entfernen, oder aus anderen Gründen, und somit nicht in der Lage waren, festzustellen, ob das Betreten der Beobachtungszelle zwingend und dringend erforderlich war, ob es notwendig, aber nicht besonders dringend war oder ob es überhaupt notwendig war.
(67) [...] Es scheint, dass die Strafverfolgungsbehörden ohne weitere Prüfung die von der Justizvollzugsanstalt an die Abteilung für Strafvollzug und Bewährung übermittelte Einschätzung vom 2.6.2017 [...] akzeptiert haben, dass es in der konkreten Situation »aufgrund der Intensität des Angriffs des Bf auf das Personal« nicht möglich gewesen sei, den Bf vor dem Einsatz von Pfefferspray zu warnen. Der GH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass [...] die Gefängnisbehörden im Allgemeinen und die an den Ereignissen vom 4.4.2017 beteiligten Gefängniswärter im Besonderen wussten, dass der Bf ein gewalttätiger und aggressiver Gefangener war, der sie täglich bedrohte und mehrmals in Beobachtungs- und Sicherheitszellen untergebracht worden war und der sie erst am Vortag körperlich angegriffen hatte [...]. Am betreffenden Tag war er erneut aggressiv und drohte mindestens zweimal, um 10:00 Uhr und um 15:00 Uhr, die Gefängniswärter zu töten oder zu »zerschlagen«. Offenbar hatte er um 16:00 Uhr, etwa zwanzig Minuten vor dem Betreten der Zelle durch die Gefängniswärter, Gegenstände in der Beobachtungszelle zerstört [...] und geschrien, er wolle sie alle umbringen. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass die Ermittlungsbehörden geprüft haben, ob die Gefängniswärter vorhersehen konnten bzw vorhersehen hätten müssen, dass das Betreten der Zelle das Risiko mit sich bringen könnte, dass der Bf ihnen gegenüber gewalttätig wird, oder ob sie dieses Risiko durch besondere Vorbereitungen vor dem Betreten der Zelle hätten abwenden können. Eine Prüfung der Vorbereitung des Einsatzes hätte Aufschluss darüber geben können, ob der Bf wie bei früheren Gelegenheiten mit weniger einschneidenden Mitteln unter Kontrolle gebracht werden konnte, ohne dass der Einsatz von Pfefferspray erforderlich gewesen wäre [...], und ob die Verwendung anderer spezieller Ausrüstungsgegenstände als Pfefferspray ausgereicht hätte [...].
(68) Schließlich wäre es sachdienlich gewesen, genauer zu hinterfragen, warum die Gefängniswärter im Rahmen der Vorbereitung trotz ihrer Vorkenntnisse und des Zeitraums von etwa 20 Minuten zwischen der ersten Aufzeichnung des Verhaltens des Bf und dem Betreten seiner Zelle den Bf nicht vor dem Betreten der Beobachtungszelle darauf hinweisen konnten, dass gegen ihn Pfefferspray eingesetzt werden würde, wenn er den Anweisungen nicht Folge leisten würde, oder warum sie beispielsweise seine Zelle nicht mit sichtbar gezücktem und einsatzbereitem Pfefferspray betraten. Betreffend [...] die Anwendung von Gewalt gegen Insassen in Gefängnissen [...] muss gemäß dem entsprechenden Erlass [...] »vor dem Einsatz von Pfefferspray [...] der betreffende Insasse nach Möglichkeit darauf hingewiesen werden, dass Pfefferspray [...] eingesetzt wird, wenn er den Anweisungen des Personals nicht Folge leistet. Es muss, wenn möglich, sichergestellt werden, dass es dem Insassen möglich ist, die Anweisung zu befolgen« [...]. In diesem Zusammenhang hätte auch geprüft werden können, ob bei der Vorbereitung des Eindringens in die Zelle ausreichend »Unterstützung« zur Verfügung stand [...] und ob Vorkehrungen getroffen werden konnten oder sollten, um konkrete Beweise über den Einsatz zu sammeln.
(69) Schließlich scheinen die Strafverfolgungsbehörden – ohne sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen – davon ausgegangen zu sein, dass die übrigen nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen rechtlichen Garantien für den Einsatz von Pfefferspray eingehalten wurden.
(70) Zudem ist [...] unter anderem vorgesehen, dass dem Insassen die erforderliche Linderung der durch den Einsatz von Pfefferspray verursachten Symptome angeboten werden muss [...], dass die Anwendung von Gewalt so schnell wie möglich in das entsprechende Modul des Systems eingegeben werden muss und dass der Insasse über die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs informiert werden muss [...].
(71) In diesem Zusammenhang wiederholt der GH die von internationalen Gremien geäußerte Besorgnis über den Einsatz von Pfefferspray durch Strafvollzugsbehörden in geschlossenen Räumen, insb die vom CPT und der UNCAT geäußerte Besorgnis, dass Pfefferspray eine potenziell gefährliche Substanz ist, die nicht in geschlossenen Räumen verwendet werden sollte und niemals gegen einen Gefangenen eingesetzt werden sollte, der bereits unter Kontrolle gebracht wurde [...]. In seinem Bericht an die dänische Regierung aus dem Jahr 2019 (CPT/Inf [2019] 35) [...] stellte das CPT außerdem fest, dass seit seinem Besuch im Jahr 2014 eine Reihe von Instrumenten verabschiedet oder geändert wurden, um die Sicherheitsvorkehrungen im Zusammenhang mit dem Einsatz von Pfefferspray zu verstärken. Darunter auch die Warnung an Gefangene, dass Pfefferspray eingesetzt wird, wenn sie den Anweisungen des Personals nicht Folge leisten. [...] Der GH [...] ist der Auffassung, dass bei der Untersuchung sorgfältig hätte geprüft werden müssen, ob die im innerstaatlichen Recht [...] vorgesehenen Verfahrensgarantien eingehalten wurden, da diese Elemente bei der Beurteilung der Frage, ob der Einsatz von Pfefferspray im vorliegenden Fall eine gegen Art 3 EMRK verstoßende Misshandlung darstellte, zu berücksichtigen wären.
(72) Es scheint, dass die Ermittlungsbehörden es als erwiesen ansahen, dass die Gefängniswärter dem Bf unmittelbar nach dem Vorfall und erneut eine Stunde später Wasser anboten und den Gefängnisarzt riefen [...], und dass der Bf, obwohl er zu diesem Zeitpunkt möglicherweise jede Behandlung ablehnte, nicht unmittelbar nach dem Einsatz von Pfefferspray von einem Gefängnisarzt behandelt wurde. Es ist jedoch nicht klar, ob sie es unter diesen Umständen als erwiesen ansahen, dass dem Bf die notwendige Linderung der durch den Einsatz von Pfefferspray verursachten Symptome angeboten wurde [...]. Es scheint auch nicht geprüft worden zu sein, ob die offensichtlich abweisende Antwort des Arztes, die zu Protokoll gegeben wurde, dass, »wenn der Häftling nur Pfefferspray ausgesetzt worden sei, keine Notwendigkeit bestehe, den Häftling zu behandeln«, angemessen war.
(73) Aus den Aufzeichnungen des Gefängnistagebuchs über die Unterbringung des Bf in den Beobachtungs- und Sicherheitszellen geht hervor, dass der Einsatz von Pfefferspray registriert und beschrieben wurde und dass der Bf darauf hingewiesen wurde, dass er gegen die Entscheidung über den Einsatz von Pfefferspray bei der Abteilung für Strafvollzug und Bewährungshilfe Beschwerde einlegen könne. Es gibt jedoch keine Informationen darüber, ob der Vorfall auch in ein spezielles Register eingetragen und der Abteilung für Strafvollzug und Bewährung gemeldet wurde [...].
(74) In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist der GH der Ansicht, dass es die Behörden des belangten Staats verabsäumt haben, eine wirksame Untersuchung der Misshandlungsvorwürfe des Bf durchzuführen, um festzustellen, ob der Einsatz von Pfefferspray unter den Umständen des vorliegenden Falles »durch das Verhalten des Bf unbedingt erforderlich« war, wie es Art 3 EMRK verlangt [...]. Folglich liegt eine Verletzung von Art 3 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt vor (einstimmig).
Zum materiellen Aspekt
(75) [...] Der GH anerkennt die Schwierigkeiten, mit denen die Staaten bei der Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin in Strafvollzugsanstalten konfrontiert sein können. Dies gilt insb in Fällen von widerspenstigem Verhalten gefährlicher Gefangener. In einer solchen Situation ist es wichtig, ein Gleichgewicht zwischen den Rechten der verschiedenen Gefangenen oder zwischen den Rechten der Gefangenen und der Sicherheit der Strafvollzugsbeamten zu finden [...].
(76) Während die regionale Staatsanwaltschaft feststellte, dass die Beschreibungen der Ereignisse widersprüchlich waren, und beschloss, keine Anklage gegen D1 und M1 zu erheben, stellt der GH jedoch fest, dass die regionale Staatsanwaltschaft die Formulierung verwendete, dass »nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Anwendung von Gewalt rechtmäßig gewesen sei« [...]. Die von den Strafverfolgungsbehörden durchgeführten Ermittlungen [...] zielten eindeutig darauf ab, zu entscheiden, ob gegen D1 und M1 Strafanzeige erstattet werden sollte oder nicht, und nicht darauf, sich dazu zu äußern, ob ein Verstoß gegen Art 3 EMRK als solcher vorlag und ob überzeugend nachgewiesen wurde, dass die Gewaltanwendung »durch das Verhalten des Bf unbedingt erforderlich war«. Dies ist der Standard der EMRK für die Feststellung einer solchen Angelegenheit, wobei die Beweislast bei der Regierung liegt [...].
(77) Darüber hinaus bleiben aufgrund der oben festgestellten Ermittlungsmängel mehrere wichtige Fragen unbeantwortet, die von den zuständigen inländischen Behörden hätten beantwortet werden können und müssen, um zu zeigen, dass der Einsatz von Pfefferspray in diesem Fall »durch das Verhalten des Bf unbedingt erforderlich« war.
(78) Insb haben es die Strafverfolgungsbehörden verabsäumt zu prüfen, ob trotz ihrer vorherigen Kenntnis von den wiederholten Drohungen und körperlichen Angriffen des Bf auf die Gefängniswärter und trotz des Zeitraums von etwa 20 Minuten zwischen der ersten Aufzeichnung des Verhaltens des Bf und dem Betreten seiner Zelle durch die Gefängniswärter deren Handlungen und insb der Einsatz von Pfefferspray ohne vorherige Warnung unbedingt erforderlich waren und ob der Einsatz unter diesen Umständen angemessen und in Übereinstimmung mit der Durchführungsverordnung und den Empfehlungen des CPT vorbereitet worden war [...].
(79) In Anbetracht des Vorstehenden und insb des Fehlens jeglicher Vorwarnung kann der GH nur zu dem Schluss kommen, dass die Regierung nicht nachgewiesen hat, dass die Anwendung von Gewalt »durch das Verhalten des Bf unbedingt erforderlich war«.
(80) Daraus folgt, dass auch eine Verletzung des materiellen Teils von Art 3 EMRK erfolgte (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 10.000,– für immateriellen Schaden; € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Labita/IT, 6.4.2000, 26772/95 (GK)
Ali Güneş/TR, 10.4.2012, 9829/07
Pranjić-M-Lukić/BA, 2.6.2013, 4938/16
Tali/EE, 13.2.2014, 66393/10 = NLMR 2014, 105
Ibrahimov und Mammadov/AZ, 13.2.2020, 63571/16 ua
Baranin und Vukčević/ME, 11.3.2021, 24655/18, 24656/18
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.10.2023, Bsw. 27753/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 434) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.