Bsw56928/19 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Valiullina ua gg Lettland, Urteil vom 14.9.2023, Bsw. 56928/19.
Spruch
Art 8, 14 EMRK, Art 2 1. ZPEMRK - Reduktion von Russisch als Unterrichtssprache und Mehrgebrauch des Lettischen war nicht diskriminierend.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 14 iVm Art 2 1. ZPEMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 8 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 2 1. ZPEMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 14 iVm Art 2 1. ZPEMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf handelt es sich um fünf Elternteile mit ihren Kindern, die der russischsprechenden Minderheit angehören. Die Eltern sind in Lettland dauerhaft niedergelassene Nicht-Staatsangehörige, während ihre Kinder die lettische Staatsangehörigkeit besitzen.
Sie sind alle unmittelbar betroffen von der im Gefolge der lettischen Unabhängigkeitserklärung erfolgten Unterrichtsreform. Diese hatte zum Ziel, den Gebrauch des Lettischen als offizielle Landessprache zu fördern. Beginnend mit 1991 wurde der Anteil des Lettischen als Unterrichtssprache für Minderheiten wie etwa die russische Volksgruppe schrittweise erhöht.
Die vorliegenden Beschwerden wenden sich gegen die Gesetzesreform aus 2018 (im Folgenden: Gesetzesreform), mit welcher der Anteil der in der Landessprache (also Lettisch) abzuhaltenden Unterrichtsfächer an öffentlichen Schulen angehoben wurde, was gleichzeitig zu einer Abnahme der »Unterrichtszeit« auf Russisch führte.
Diese Gesetzesreform wurde von 20 Mitgliedern des Parlaments beim lettischen Verfassungsgericht angefochten. Mit Urteil vom 23.4.2019 kam dieses zu dem Ergebnis, dass die Gesetzesreform mit den Art 112 (Recht auf Erziehung und Unterricht), Art 91 Satz 2 (Nichtdiskriminierung) und Art 114 (Minderheitenschutz) der lettischen Verfassung vereinbar sei. Begründend führte es unter anderem aus, das Recht auf Erziehung und Unterricht umfasse nicht das Recht von Schüler*innen und deren Eltern auf freie Wahl der Unterrichtssprache an öffentlichen Schulen, da dies im Widerspruch zum Prinzip der Einheitlichkeit des Unterrichtssystems stehe und nicht den gleichen Zugang von Schüler*innen zum staatlichen Unterrichtssystem garantieren würde. Art 112 der Verfassung verlange auch nicht vom Staat, Sorge dafür zu tragen, dass zusätzlich zur Landessprache Unterricht in einer anderen Sprache in der Form angeboten werde, wie es sich Schüler*innen und ihre Eltern wünschten. Auch der Minderheitenschutz verlange die Setzung derartiger Maßnahmen nicht. Die angefochtene Gesetzesreform hätte auch nicht dazu geführt, dass zu Minderheiten gehörende Schüler*innen nicht ihre Rechte im Unterricht wahrnehmen bzw ihre Sprache und ethnische und kulturelle Identität bewahren könnten.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten Verletzungen von Art 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und von Art 2 1. ZPEMRK (Recht auf Bildung) alleine und iVm Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Zur Verbindung der Beschwerden und zur Reichweite des Falls
(97) Angesichts des gleichartigen Inhalts der Beschwerden hält es der GH für angemessen, sie gemeinsam in einem einzigen Urteil zu untersuchen (einstimmig).
(98) Vorerst ist festzuhalten, dass sich die Bf im Besonderen über die 2018 erfolgte Gesetzesreform beschweren, womit der Gebrauch von Lettisch als Unterrichtssprache in öffentlichen Schulen ausgeweitet und die Abhaltung des Unterrichts in ihrer Muttersprache Russisch, was zuvor weitgehend möglich gewesen war, reduziert wurde. Die Bf machten diverse Probleme geltend, die sie als signifikante Einschränkungen des Gebrauchs ihrer Muttersprache [...] ansahen, während sie in der fraglichen Zeit als Schulkinder ihrem Unterricht in Lettland nachgingen. Sie behaupteten insb, dass der hohe Anteil an zu unterrichtenden Lehrfächern auf Lettisch sie in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt habe.
(99) Unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips und des Erfordernisses der Erschöpfung des [...] innerstaatlichen Rechtswegs vermag der GH im vorliegenden Fall nur jene Fragen zu untersuchen, die vor das lettische Verfassungsgericht gebracht [...] wurden.
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
(100) Die Bf brachten vor, dass die Gesetzesreform aus 2018 ihre von Art 8 EMRK geschützten Rechte eingeschränkt hätte. [...]
Zulässigkeit
Zur Einrede der Regierung
(102) Laut der Regierung hätten es die Bf verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug auszuschöpfen, da sie selbst das lettische Verfassungsgericht nicht mit einer Verfassungsbeschwerde angerufen hätten. [...] Im Kontext dieses Verfahrens, das zum Urteil vom 23.4.2019 geführt habe, sei das Verfassungsgericht dazu aufgerufen gewesen, die strittigen Rechtsvorschriften in abstracto – ohne Prüfung der besonderen Umstände der Bf oder ihrer Beschwerden bzw Vorbringen – zu untersuchen. Die Regierung legt auch Wert auf die Feststellung, dass die Bf vor den innerstaatlichen Behörden zu keiner Zeit vorbrachten, ihr Recht auf Privat- und/oder Familienleben wäre durch die umstrittenen Bestimmungen beeinträchtigt worden.
Einschätzung der Zulässigkeit durch den GH
(106) Im vorliegenden Fall bezogen sich die Bf in ihren Beschwerden bloß auf die von Art 8 EMRK geschützten Rechte. Sie brachten vor, das von der Unterrichtsreform verfolgte Ziel sei nicht legitim iSv Art 8 Abs 2 EMRK gewesen. Die Bf [...] behaupteten nicht, dass ein Eingriff in das Recht [...] auf Achtung ihres Privat- und/oder Familienlebens stattgefunden habe.
(107) Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls ist der GH daher der Ansicht, dass es nicht notwendig ist, der Frage nachzugehen, ob die Bf ordnungsgemäß eine Rüge [...] unter Art 8 EMRK vorgebracht haben, ferner ob dieser Artikel anwendbar ist und ob ein Eingriff in irgendein von diesem Artikel geschütztes Recht stattgefunden hat, da der gegenständliche Beschwerdepunkt sich ohnehin aus nachstehenden Gründen als unzulässig erweist.
(108) Im vorliegenden Fall stimmen die Parteien überein, dass der behauptete Verstoß von den einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, nämlich der Gesetzesreform aus 2018, herrührte. Der GH hat [in Fällen betreffend Lettland] immer wieder betont, dass wenn Ursprung einer behaupteten Verletzung eines Konventionsrechts eine Bestimmung lettischen Rechts ist, ein [deswegen angestrengtes] Verfahren grundsätzlich zuerst vor das lettische Verfassungsgericht gebracht werden sollte, erst danach sei der GH anzurufen (siehe Grišankova und Grišankövs/LV sowie Larionovs und Tess/LV, Rz 142–143, 167).
(109) Im vorliegenden Fall wurde die umstrittene Gesetzesreform im von Mitgliedern des lettischen Parlaments angestrengten Verfahren untersucht. In diesem Verfahren war das lettische Verfassungsgericht jedoch nur zur Prüfung der Vereinbarkeit der Gesetzesreform aus 2018 mit dem in der lettischen Verfassung niedergelegten Recht auf Erziehung und Unterricht, dem Prinzip der Nichtdiskriminierung und dem Schutz von Minderheitenrechten aufgerufen. Zu einer Prüfung der Vereinbarkeit der Reform mit dem Recht auf Privat- und/oder Familienleben sah sich das Verfassungsgericht nicht veranlasst. Wenn nun die Bf der Auffassung waren, dass ihr Recht auf Privat- und/oder Familienleben durch die Gesetzesreform sogar in materieller Hinsicht betroffen gewesen war, so hätten sie diese Fragen persönlich vor das Verfassungsgericht bringen sollen, da sich Letzteres mit diesen Fagen zuvor noch nicht befasst hatte.
(110) Dieser Beschwerdepunkt muss folglich wegen fehlender Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe [...] für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK
(111) Laut den Bf hätte die Gesetzesreform aus 2018 ihr Recht auf Erziehung und Unterricht eingeschränkt. Sie würden sich weder dagegen wehren, dass ihre Kinder weiterhin Unterricht in lettischer Sprache bekämen, noch in Frage stellen, dass manche Lehrfächer unverändert auf Russisch unterrichtet würden. Allerdings habe der Gebrauch der russischen Sprache in Lettland stark nachgelassen und könnten sich Schulen sogar dazu entscheiden, den Gebrauch weiter zu reduzieren. Diese Situation verstoße gegen Art 2 1. ZPEMRK, welcher im Lichte von Art 8 EMRK gelesen werden sollte.
Zulässigkeit
(113) Die Regierung hält den vorliegenden Beschwerdepunkt für unvereinbar [mit der Konvention] ratione materiae. Sie bringt vor, dass »linguistische Freiheit« als solche nicht unter die von der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten falle. [...] Im [...] »Belgischen Sprachenfall« sei der GH [...] zu der Schlussfolgerung gekommen, dass das Recht auf Bildung kein Recht auf den Zugang zu Erziehung und Unterricht in einer bestimmten Sprache, sondern lediglich ein Recht auf den Zugang zu den zum damaligen Zeitpunkt existierenden Bildungseinrichtungen beinhalte.
Allgemeine Prinzipien zur Reichweite von Art 2 1. ZPEMRK
(122) Der GH möchte vorerst auf die von ihm im »Belgischen Sprachenfall« vorgenommene Auslegung der Reichweite von Art 2 1. ZPEMRK Bezug nehmen. [...] Der GH kam zu dem Schluss, dass der erste Satz von Art 2 1. ZPEMRK nicht »die Sprache spezifiziert, in welcher Erziehung und Unterricht abgehalten werden soll, um dem Recht auf Bildung gebührend Achtung zu schenken«. Andererseits »würde das Recht auf Bildung bedeutungslos werden, wenn es – nach Lage des Falles – nicht zugunsten seiner Anspruchsberechtigten ein Recht auf Erziehung und Unterricht in der oder einer der Landessprachen implizieren würde« (Seite 31, Rz 3).
(124) Der GH stellte klar, dass das vom ersten Satz des Art 2 1. ZPEMRK garantierte Recht auf Bildung »aufgrund seines speziellen Charakters nach einer Regulierung durch den Staat verlangt, die nach Zeit und Ort gemäß den Bedürfnissen und Ressourcen der Gemeinschaft und solcher von Individuen variieren kann, [...] aber niemals den Wesensgehalt des Rechts auf Bildung verletzen oder in Konflikt mit anderen Konventionsrechten geraten darf« (Seite 31, Rz 5).
(125) Der zweite Satz des Art 2 1. ZPEMRK »verlangt von den Staaten nicht, sprachlichen Präferenzen der Eltern auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts Beachtung zu schenken, sondern nur ihren religiösen und philosophischen Überzeugungen«. Zudem bestätigen »die Vorbereitungsarbeiten« zu Art 2 1. ZPEMRK, dass »dessen zweiter Satz in keiner Weise zum Ziel hat, dass der Staat einem Recht der Eltern auf Erziehung und Unterricht in einer anderen Sprache als in der in Frage stehenden Landessprache Achtung verschaffen müsste« (Seite 32, Rz 6).
(127) Der GH will die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass die Entwicklung des Rechts auf Bildung, dessen Inhalt nach Ort oder Zeit und im Einklang mit wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten variieren kann, hauptsächlich von den Bedürfnissen und Ressourcen der Gemeinschaft abhängig ist. [...]
Anwendung dieser Prinzipien auf den vorliegenden Fall
(129) Der GH ist [...] zur Entscheidung darüber aufgerufen, ob die im »Belgischen Sprachenfall« vor mehr als fünf Dekaden gezogenen Schlussfolgerungen für den gegenständlichen Fall nach wie vor gültig sind. [...]
(130) Er wird seine Analyse beginnen, indem er den spezifischen Kontext der von den nunmehrigen Bf zitierten Fälle herausstreicht. [...]
(132) [...] Der GH kommt zu dem Schluss, dass er in Catan ua/MD und RU und Zypern/TR bloß die im »Belgischen Sprachenfall« gezogenen Schlussfolgerungen insoweit bekräftigte, als sie sich auf das Recht auf Erziehung und Unterricht in einer der Landessprachen [...] des betroffenen Landes bezogen. In diesen Fällen dehnte der GH den Anwendungsbereich des Rechts auf Erziehung und Unterricht folglich nicht derart aus, dass davon das Recht auf Zugang zu Bildungseinrichtungen in einer Sprache ihrer/seiner Wahl umfasst war.
(133) Der GH findet auch, dass der Hinweis der Bf auf das Urteil Ádám ua/RO fehlgeleitet ist, betraf dieser Fall doch eine Beschwerde gemäß Art 1 12. ZPEMRK, welches von Lettland nicht ratifiziert wurde. Wie dem auch sei, vermochte der GH in diesem Fall keine Verletzung von Art 1 12. ZPEMRK zu erblicken, und er schlug auch nicht vor, dass der Anwendungsbereich des Rechts auf Erziehung und Unterricht ausgedehnt werden sollte. Der Hinweis des GH auf die speziellen Bedürfnisse von Minderheiten in diesem Fall kann nicht derart interpretiert werden, dass ein Staat deswegen Rechte zu garantieren hat, die von der Konvention oder ihren Protokollen nicht geschützt werden. Vielmehr wird vom Minderheiten-Rahmenübereinkommen (Anm: Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1.2.1995, StF BGBl III 120/1998.) (kurz: Rahmenübereinkommen) anerkannt, dass der Schutz und die Förderung von Minderheitensprachen nicht zum Nachteil von offiziellen Landessprachen und dem Erfordernis, sie zu lernen, geraten sollte (siehe Art 14 Abs 3 des Rahmenübereinkommens sowie Ádám ua/RO, Rz 28).
(134) Die Bf behaupten nun, dass das Inkrafttreten des Rahmenübereinkommens Auswirkungen auf die Reichweite des Rechts auf Erziehung und Unterricht gemäß der Konvention und ihren Protokollen gehabt habe. Während das genannte Übereinkommen in der Tat als der umfassendste internationale Standard auf dem Gebiet der Minderheitenrechte betrachtet wird und die Mehrzahl der Mitgliedstaaten des Europarats dieses Instrument auch ratifiziert hat, steht einigen Mitgliedstaaten eine Ratifikation oder sogar Unterzeichnung noch bevor. Jene Mitgliedstaaten, die das Rahmenübereinkommen ratifiziert haben, haben sich dazu bereit erklärt, die wesentlichen Bestandteile der Identität von zu nationalen Minderheiten gehörenden Personen einschließlich ihrer Sprache (Art 5) zu bewahren, ferner deren Kenntnisse in ihrer Minderheitensprache zu fördern (Art 12) und anzuerkennen, dass jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, das Recht hat, ihre Minderheitensprache zu erlernen (Art 14). Allerdings wurde auch anerkannt, dass unter dem Rahmenübereinkommen die Möglichkeit, in einer Minderheitensprache zu unterrichten, gemäß den spezifischen Parametern der örtlichen Situation variieren kann [...], wobei ein Ausgleich zwischen der Beherrschung der offiziellen Landessprache und den Kenntnissen in Minderheitensprachen gefunden werden muss. (Anm: Vgl den vom Beratenden Ausschuss zum Rahmenübereinkommen am 24.5.2012 angenommenen »Thematischen Kommentar Nr 3 betreffend Sprachenrechte«, ACFC/44/DOC[2012]001 rev, sowie den Bericht der Venedig-Kommission vom 18.6.2020 »Zu den jüngsten Gesetzesänderungen betreffend den Unterricht in Minderheitensprachen in Lettland«, CDL–AD[2020]012.) Wie im Erläuternden Bericht zum Rahmenübereinkommen (Rz 75–79) vermerkt, belässt dessen Art 14 den Vertragsparteien einen weiten Beurteilungsspielraum, was das Lehren von Minderheitensprachen oder die Abhaltung des Unterrichts in solchen Sprachen in ihrem Unterrichts- und Bildungssystem angeht. So sind Faktoren wie etwa ausreichende Nachfrage, ausreichende Ressourcen und die Möglichkeit zur Wahl, eine Minderheitensprache zu lehren oder in ihr den Unterricht abzuhalten, zu berücksichtigen. Auch muss eine derartige Politik »ohne Nachteil für das Lehren und die Abhaltung des Unterrichts in der offiziellen Landessprache« implementiert werden. (Anm: Siehe Rz 77 des zuvor zitierten Berichts der Venedig-Kommission.) Der GH findet daher nicht, dass ausreichendes internationales Material existiert, welches den Schluss rechtfertigen würde, dass das in Art 2 1. ZPEMRK verankerte Recht auf Erziehung und Unterricht das Recht auf Zugang zu Erziehungs- und Unterrichtseinrichtungen in der Sprache ihrer/seiner Wahl miteinschließt. In dieser Hinsicht möchte der GH auch Bezug auf die Schlussfolgerungen des lettischen Verfassungsgerichts [in einer Entscheidung] aus 2005 nehmen, wonach kein europäischer Konsens betreffend Minderheitenrechten im Erziehungs- und Unterrichtssystem bestehe. 2019 nahm das Verfassungsgericht zudem eine Auslegung der Reichweite des Rahmenübereinkommens vor und kam zu dem Schluss, es bestehe kein Grund für die Sichtweise, dass Staaten eine derartige Form der Bewahrung und Fortentwicklung der Sprache und ethnischen sowie kulturellen Eigentümlichkeit im Wege der Bereitstellung von (anteilsmäßigem) Unterricht in der Minderheitensprache gewährleisten müssten, ohne dabei das nationale Verfassungssystem zu berücksichtigen. Der GH ist daher der Ansicht, dass das Vorbringen der Bf zur angeblich größeren Reichweite von Art 2 1. ZPEMRK nicht haltbar ist. [...]
(135) Unter Berücksichtigung der oben stehenden Faktoren kommt der GH zu dem Ergebnis, dass das in Art 2 1. ZPEMRK verankerte Recht nicht das Recht auf Zugang zu Erziehung und Unterricht in einer speziellen Sprache beinhaltet; es garantiert ein Recht auf Erziehung und Unterricht [lediglich] in einer der nationalen Sprachen oder, anders gesagt, in den offiziellen Sprachen des betroffenen Landes. Da nun Lettisch die einzige offizielle Sprache in Lettland ist, können sich die Bf unter Art 2 1. ZPEMRK über den verminderten Gebrauch von Russisch als Unterrichtssprache in lettischen Schulen per se nicht beschweren. Sie haben auch kein spezifisches Vorbringen dahingehend erstattet, dass die Einschränkung des Gebrauchs der russischen Sprache im lettischen Erziehungs- und Unterrichtssystem nachteilige Auswirkungen auf die Möglichkeit, Erziehung und Unterricht zu erhalten, gehabt hätte. Der GH gibt daher der Einrede der Regierung [...] zur Unvereinbarkeit des vorliegenden Beschwerdepunkts mit der Konvention ratione materiae statt, sodass sich ein Eingehen auf die von ihr vorgebrachten restlichen Einwände erübrigt.
(136) Dieser Beschwerdepunkt muss folglich wegen Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen der Konvention ratione materiae [...] [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK iVm Art 14 EMRK
(137) Die Bf prangern das Vorliegen einer unterschiedlichen Behandlung zwischen russisch- und lettischsprechenden Schüler*innen wegen des Umstands an, dass der Gebrauch von Lettisch als Unterrichtssprache in öffentlichen Schulen angehoben worden sei, was zu einer Reduktion des Gebrauchs der russischen Sprache geführt habe. [...]
Zulässigkeit
(139) Die Regierung ist erstens der Auffassung, dass dieser Beschwerdepunkt mit den Bestimmungen der Konvention ratione materiae unvereinbar ist [...].
(140) Zweitens hätten die Bf es verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug auszuschöpfen, da sie selbst in dieser Frage keine Beschwerde beim Verfassungsgericht erhoben hätten.
(141) Drittens könnten die Erstbf, die AchtBf und die ZwölftBf in ihrer Eigenschaft als Elternteile für sich nicht geltend machen, unmittelbare Opfer einer angeblichen Verletzung von Art 2 1. ZPEMRK iVm Art 14 EMRK zu sein, da diese Bestimmungen im Bereich von Erziehung und Unterricht vom Staat nicht verlangen würden, linguistische Präferenzen der Eltern zu beachten.
Fielen die Tatsachen des Falls in den Anwendungsbereich von Art 2 1.ZPEMRK?
(145) Vorerst ist darauf hinzuweisen, dass die vom GH gezogene Schlussfolgerung, Art 2 1. ZPEMRK beinhalte kein Recht auf Zugang zu Unterricht in einer bestimmten Sprache, woraus sich ergebe, dass die Beschwerde der Bf in dieser Hinsicht [mit der EMRK] unvereinbar ratione materiae sei, nicht zu implizieren vermag, dass der Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich von Art 2 1. ZPEMRK fällt. Der GH erinnert zudem daran, dass [...] sich das in Art 14 EMRK verankerte Verbot der Diskriminierung [...] auch bei solchen zusätzlichen Rechten Anwendung findet, [...] in Bezug auf welche der Staat aber aus freien Stücken entschieden hat, sie zu gewährleisten.
(146) Es ist daher zu prüfen, ob die Situation der Bf in den Anwendungsbereich von Art 2 1. ZPEMRK fällt [...]. Der GH hat bereits festgehalten, dass Art 14 EMRK – auch dann, wenn er iVm Art 2 1. ZPEMRK gelesen wird – nicht die Wirkung hat, Kindern oder ihren Eltern ein Recht auf Unterricht in einer Sprache ihrer Wahl zu garantieren. Die Ziele von diesen beiden Artikeln, liest man sie gemeinsam, sind begrenzter: es soll sichergestellt werden, dass das Recht auf Erziehung und Unterricht [...] ohne Diskriminierung beispielsweise aufgrund der Sprache gewährleistet wird [...].
(147) Genau dieser Aspekt – das Recht auf Unterricht, welches ohne Diskriminierung aufgrund der Sprache gewährleistet werden soll – ist nun Hauptgegenstand der Beschwerde [...] im vorliegenden Fall: Die russischsprechenden Kinder wurden zu den vom lettischen Staat oder seinen Gemeinden gegründeten und betriebenen Schulen zum Unterricht angemeldet und besuchten diesen. Die Bf behaupten nun, dass die Gesetzesreform aus 2018 diskriminierend gewesen wäre, da diese einen gesteigerten Gebrauch der Landessprache als Unterrichtssprache vorgesehen hätte, was unweigerlich zu einer Abnahme des Gebrauchs der russischen Sprache geführt habe. Vor der verabschiedeten Reform wäre es russischsprechenden Schüler*innen möglich gewesen, Erziehung und Unterricht in Lettland zu verfolgen, bei dem manche oder sogar wesentliche Teile des Lehrplans auf Russisch unterrichtet worden seien. Ähnlich wie im »Belgischen Sprachenfall« verfüge der GH über die Befugnis zur Prüfung, ob es im vorliegenden Fall zu einer ungerechtfertigten unterschiedlichen Behandlung gekommen sei. Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die von den Bf vorgebrachten Tatsachen in den »Anwendungsbereich« von Art 2 1. ZPEMRK iVm Art 14 EMRK fallen. Die betreffende Einrede der Regierung [...] ist folglich zurückzuweisen.
Wurde der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft?
(148) Im vorliegenden Fall stimmen die Parteien darin überein, dass der behauptete Verstoß von den einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts herrührte, nämlich der Gesetzesreform aus 2018. Wie bereits oben vermerkt, sollte unter solchen Umständen das betreffende Verfahren grundsätzlich vor einer Befassung des GH an das [nationale] Verfassungsgericht herangetragen werden (vgl oben Rz 108).
(149) Unter den besonderen Umständen des gegenständlichen Falls ist der GH der Ansicht, dass von den Bf nicht verlangt werden konnte, eine Verfassungsbeschwerde einzubringen, und zwar aus folgenden Gründen: Bereits am 23.4.2019 – also bevor die Bf Beschwerde beim GH einreichten – hatte das Verfassungsgericht [...] festgehalten, dass die einschlägigen innerstaatlichen Bestimmungen mit dem in der lettischen Verfassung verankerten Prinzip der Nichtdiskriminierung und dem [Schutz der] Rechte von Minderheiten vereinbar seien. Bedenkt man, dass das Verfassungsgericht die Einleitung eines Prüfverfahrens eine Thematik betreffend, über die es bereits entschieden hatte, [mit Sicherheit] abgelehnt hätte, kommt der GH in Ermangelung von Hinweisen, die auf das Gegenteil hindeuten, zu dem Schluss, dass die Bf unter solchen Umständen keine Erfolgsaussichten gehabt hätten und sie daher vor einer Anrufung des GH nicht dazu verpflichtet waren, eine Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht einzubringen. In dieser Hinsicht ist unerheblich, dass das [...] betreffende Verfahren von 20 Mitgliedern des Parlaments – und nicht von den Bf selbst – angestrengt wurde, da das Verfassungsgericht die Vorbringen zur [angeblich] unterschiedlichen Behandlung zwischen russisch- und lettischsprechenden Schüler*innen, die auch Gegenstand des vorliegenden Falls sind, geprüft hat. Auch diese Einrede der Regierung [...] ist daher zurückzuweisen.
Kommt den Bf Opferstatus zu?
(150) In manchen Fällen hat der GH zwischen dem Recht von Schüler*innen in ihrer Eigenschaft als Kinder und den Rechten ihrer Eltern unterschieden – und zwar abhängig davon, ob die Beschwerde unter Art 2 1. ZPEMRK den ersten oder zweiten Satz dieses Artikels betraf. Der vorliegende Fall betrifft nun aber nicht ausschließlich den ersten oder zweiten Satz von Art 2 1. ZPEMRK, sondern auch Art 2 1. ZPEMRK iVm Art 14 EMRK.
(151) In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der »Belgische Sprachenfall« von den Eltern in ihrem eigenen Namen und in jenem ihrer minderjährigen Kinder eingebracht wurde. Der GH stellte die Opfereigenschaft der Eltern in diesem Fall nicht in Frage.
(152) Er hat weiters in einer Reihe von Fällen betreffend auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts implementierte – angeblich diskriminierende – Maßnahmen den Status als »Opfer« in Bezug auf die minderjährigen und die erwachsenen Bf, bei denen es sich um ihre Eltern handelte, anerkannt. [...]
(153) Im vorliegenden Fall findet der GH im Lichte der oben erwähnten Faktoren, dass die Bf in ihrer Eigenschaft als Eltern hinsichtlich ihrer Rüge wegen auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts implementierter [angeblich] diskriminierender Maßnahmen Opfereigenschaft für sich beanspruchen können. Die Einrede der Regierung zu diesem Punkt ist folglich zurückzuweisen.
Ergebnis
(150) Die Beschwerdevorbringen sind weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(187) Der GH möchte [...] darauf hinweisen, dass die Mehrzahl der Vertragsstaaten die Wahl getroffen hat, einer oder mehreren Sprachen den Status der offiziellen Landes- oder Staatssprache zu verleihen und dies in ihrer jeweiligen Verfassung zu verankern. Dies vorausgeschickt ist der GH bereit anzuerkennen, dass für diese Staaten eine offizielle Sprache eine der grundlegenden verfassungsmäßigen Werte ist [...].
(188) Indem eine Sprache zur offiziellen Landessprache erhoben wird, unternimmt der betreffende Staat es im Prinzip, seinen Bürger*innen den Gebrauch dieser Sprache ungehindert sowohl zur Mitteilung als auch zum Empfang von Informationen zu garantieren – und zwar nicht nur in ihrem Privatleben, sondern auch im Verkehr mit öffentlichen Behörden. Nach Ansicht des GH ergibt sich vor allem aus dieser Perspektive gesehen, wie auf den Schutz einer bestimmten Sprache abzielende Maßnahmen zu betrachten sind. Mit anderen Worten ist dem Begriff einer offiziellen Sprache die Existenz gewisser subjektiver Rechte für Personen, die sich in einer solchen Sprache verständigen, immanent.
(189) Aufgrund ihres unmittelbaren und anhaltenden Kontakts mit den staatstragenden Kräften ihres Landes sind die Behörden und insb die nationalen Gerichte im Prinzip in einer besseren Position als ein internationales Gericht, eine Einschätzung über die Notwendigkeit eines Eingriffs in einem derart speziellen und sensiblen Bereich wie die Bewahrung und die Fortentwicklung einer offiziellen Sprache wie der lettischen vorzunehmen, die im Verlauf von mehr als 50 Jahren unter sowjetischer Herrschaft Unterdrückung erfahren hat. Somit kommt es in erster Linie den lettischen Behörden – nicht aber dem GH – zu, eine Bewertung der wahren Situation vorzunehmen, wie es um die lettische Sprache in Lettland bestellt ist und die Ernsthaftigkeit der Faktoren abzuschätzen, die sie in Gefahr bringen könnten. Der GH ist lediglich dazu aufgerufen, diese Einschätzung in Frage zu stellen, wenn sie sich als willkürlich erweisen sollte.
Um welchen angeblichen Diskriminierungsgrund handelte es sich im vorliegenden Fall?
(190) [...] Unter Berücksichtigung der diversen Hintergründe und der von den Bf dargelegten »Volkszugehörigkeit« sowie [...] der Tatsache, dass Russisch die Hauptsprache in ihren Familien ist, ferner der Entscheidung des lettischen Verfassungsgerichts betreffend [den Gebrauch dieser Sprache in öffentlichen] Schulen, und schließlich der Vorbringen der Bf [...] vor ihm selbst wird der GH den vorliegenden Fall ausschließlich auf der Basis der Sprache als Grund für die behauptete unterschiedliche Behandlung untersuchen.
Waren die russischsprechenden Schüler*innen in einer vergleichbaren Situation wie die lettischsprechenden Schüler*innen?
(191) [...] Die Bf sind der Ansicht, dass russischsprechende Schüler*innen im Vergleich zu lettischsprechenden Schüler*innen anders behandelt wurden, da letztere Erziehung und Unterricht in ihrer Muttersprache erhalten konnten, während ersteren in diesem Bereich nur eingeschränkter und reduzierter Zugang in ihrer eigenen Muttersprache gegeben worden sei. [...]
(193) Unter Berücksichtigung von Thema und Zweck der umstrittenen Gesetzesreform ist seitens des GH festzuhalten, dass diese alle in öffentlichen Schulen angemeldeten Schüler*innen mit dem Ziel betraf, den Gebrauch des Lettischen als Unterrichtssprache und die Einheitlichkeit des Erziehungs- und Unterrichtssystems in Lettland wiederherzustellen, um gleichen Zugang für Schüler*innen zum staatlichen Erziehungs- und Unterrichtssystem zu erleichtern und, aus einer breiteren Perspektive gesehen, der Notwendigkeit zu begegnen, die zu Zeiten des Sowjetregimes herrschenden Auswirkungen der Segregation im Unterricht zu eliminieren. Der GH sieht sich jedoch verpflichtet, [...] auch die vergleichbaren Situationen als Ganzes und im Lichte der objektiven Elemente zu bewerten. [...]
(194) Bei der Bewertung der vergleichbaren Situationen ist seitens des GH zu vermerken, dass die Auswirkungen der [...] Gesetzesreform derart waren, dass russischsprechende Schüler*innen wie die nunmehrigen Bf, bei denen es sich um Schüler*innen handelte, die für Erziehungs- und Unterrichtsprogramme für Minderheiten eingeschrieben waren, nicht länger eine Erziehung und einen Unterricht verfolgen konnten, bei dem wesentliche Teile des Lehrplans in Russisch [...] unterrichtet wurden, während hingegen lettischsprechende Schüler*innen ihre Erziehung und ihren Unterricht in Lettisch (ihrer »Hauptfamilien«- oder Muttersprache) weiterhin wahrnehmen konnten. Im Anschluss an diese Reform fanden sich daher russisch- und lettischsprechende Schüler*innen in derselben Klasse wieder und mussten – egal in welchem Schul- oder Unterrichtsprogramm sie eingeschrieben waren – einem ähnlichen Lehrplan folgen, welcher klar und deutlich definierte, in welchem Ausmaß Lettisch als Unterrichtssprache verwendet werden sollte.
Betrachtet man nun die vergleichbaren Situationen als Ganzes und zieht in Betracht, dass Ausnahmen für in Erziehungs- und Unterrichtsprogrammen für Minderheiten eingeschriebenen russischsprechenden Schüler*innen nicht länger verfügbar waren, kommt der GH zu der Ansicht, dass sich russisch- und lettischsprechende Schüler*innen in einer maßgeblich ähnlichen Situation befanden, als sie ihre Erziehung und ihren Unterricht in öffentlichen Schulen im Anschluss an die umstrittene Gesetzesreform erhielten. Der GH ist zu dieser Schlussfolgerung gelangt, indem von ihm berücksichtigt wurde, dass Grund für die behauptete Diskriminierung im vorliegenden Fall die »Sprache« [iSv Art 14 EMRK] ist und das von der Gesetzgebung verfolgte Ziel im Wege der behaupteten unterschiedlichen Behandlung voll relevant für die Verhältnismäßigkeitsanalyse ist [...].
Wurden legitime Ziele verfolgt?
(195) In ihrem kürzlich erlassenen Urteil Savickis ua/LT akzeptierte die GK, dass eine unterschiedliche Behandlung zwischen lettischen Staatsbürgerinnen und Nicht-Staatsangehörigen bei der Anrechnung von Pensionszeiten [nach Schaffung eines neuen Sozialversicherungssystems] zumindest zwei legitime Ziele verfolgt hatte. Das erste Ziel bestand in der Gewährleistung der verfassungsmäßigen Identität der Republik Lettland, die eine der staatlichen Verfassungsgrundlagen darstellte. Ziel in diesem Zusammenhang war, eine rückwirkende Anerkennung der Folgen der während der unrechtmäßigen Besetzung und Annexion des Landes [von der ehemaligen Sowjetunion] praktizierten Einwanderungspolitik zu vermeiden. Ein solches Ziel stand mit den Bemühungen, das Leben der Nation im Gefolge der Wiederherstellung der Unabhängigkeit neu aufzubauen, im Einklang und war – in diesem spezifischen Kontext gesehen – durchaus legitim. Das zweite legitime Ziel bestand im Schutz des Wirtschaftssystems des Landes
(vgl Rz 198 des zitierten Urteils).
(196) Im vorliegenden Fall brachte die Regierung vor, die Anhebung des Gebrauchs der lettischen Sprache und die umstrittene Ungleichbehandlung hätten zumindest zwei legitime Ziele verfolgt: den Schutz der Rechte anderer und den Schutz der demokratischen Ordnung des Staats. Sie bezog sich auch auf die Notwendigkeit, in Lettland die Fertigkeiten im Sprechen der Landessprache zu verbessern.
(197) Dazu ist zunächst festzuhalten, dass sich Lettland dazu entschlossen hat, einer bestimmten Sprache den Status der offiziellen Landessprache zu verleihen und dies in seiner Verfassung zu verankern. [...]
(198) Das lettische Verfassungsgericht hat nun mehrere Urteile erlassen, in denen es unterschiedliche Stufen der Erziehungs- und Unterrichtsreform einer Analyse unterzog, was den vermehrten Gebrauch des Lettischen als Unterrichtssprache angeht. Wie die Bf hervorgehoben haben, verwies das Verfassungsgericht in früheren Fällen nicht nur auf die Notwendigkeit des Schutzes der Rechte anderer und der demokratischen Ordnung des Staats, sondern auch auf das Bedürfnis, der lettischen Sprache besonderen Schutz angedeihen zu lassen und ihren Gebrauch als Landessprache zu festigen. [...]
(199) Die Einschätzung des Verfassungsgerichts, was die Notwendigkeit des Schutzes der lettischen Sprache betrifft, scheint im Einklang mit der Meinung der Venedig-Kommission (im Hinblick auf Lettland) und der Auffassung des Beratenden Ausschusses zum Rahmenübereinkommen (im Hinblick auf andere Länder) zu sein, wonach die Notwendigkeit der Verbesserung der Sprachfertigkeiten in einer Landessprache als legitimes Ziel angesehen werden kann. In diesem Kontext ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass der EuGH [...] betreffend die Unterrichtssprache an lettischen Universitäten festgehalten hat, dass das Ziel der Förderung des [...] Gebrauchs einer der offiziellen Sprachen eines EU-Mitgliedstaats als legitimes Ziel im Hinblick auf die im EU-Recht verankerte Niederlassungsfreiheit angesehen werden muss (EuGH 7.9.2022, Boriss Cilevics ua, C-391/209, Rz 70).
(200) Vor diesem Hintergrund und insb unter Berücksichtigung der historischen Faktoren, die zur signifkanten Einschränkung des Gebrauchs des Lettischen für mehr als 50 Jahre im Zuge der unrechtmäßigen Besetzung und Annexion Lettlands durch das Sowjetregime führten, als Russisch in vielen Bereichen des täglichen Lebens gesprochen werden musste, ist der GH der Meinung, dass die Notwendigkeit des Schutzes und der Festigung der lettischen Sprache im vorliegenden Fall als legitimes Ziel angesehen werden muss.
War die behauptete unterschiedliche Behandlung verhältnismäßig?
(202) [...] Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit stand Lettland vor der schwierigen Wahl, wie es sein Erziehungs- und Unterrichtssystem gestalten sollte, um jedermann innerhalb seines Hoheitsgebiets das Recht auf Erziehung und Unterricht zu gewährleisten – und zwar im Hinblick auf eine Bevölkerung, die nicht nur lettischsprechende Einwohner*innen, sondern auch eine ungewöhnlich hohe Zahl an russischsprechenden Ansässigen unterschiedlicher ethnischer Herkunft aufwies, die unter dem Sowjet-Regime nach Lettland gebracht worden waren oder sich dorthin begeben hatten.
(203) Die Gesetzesreform aus 2018 verfolgte auch ein anderes legitimes Ziel, nämlich die Gewährleistung der Einheitlichkeit des Erziehungs- und Unterrichtssystems. Alle Kinder derselben Klasse, egal in welchem Schul- und Unterrichtsprogramm sie auch eingeschrieben waren, waren verpflichtet, einem ähnlichen Lehrplan zu folgen, der klar definierte, wieviel Lettisch als Unterrichtssprache verwendet werden würde. Das lettische Verfassungsgericht hob [in dieser Sache] hervor, dass allen Kindern gleicher Zugang zum staatlichen Erziehungs- und Unterrichtssystem gegeben werden sollte, welches verfügbar, zugänglich, akzeptabel und anpassungsfähig sein solle. Erziehung und Unterricht sei eine der wichtigsten Vorbedingungen für die Herstellung einer freien und demokratischen Gesellschaft.
(204) Vor diesem historischen und demographischem Hintergrund vermag der GH zu akzeptieren, dass der Staat einerseits Schritte zur Korrektur faktischer Ungleichheiten setzen musste, sodass lettischsprechende Individuen ihr Recht auf den Gebrauch des Lettischen in allen Bereichen des täglichen Lebens einschließlich des Rechts auf den Erhalt von Erziehung und Unterricht in der offiziellen Landessprache wiedererlangen konnten. Andererseits hatte der Staat auch dafür Sorge zu tragen, dass Minderheitengruppen ihre Sprache unverändert lernen und ihre Kultur und Identität bewahren konnten. Indem er so vorging, hatte er überdies sicherzustellen, dass die Minderheitengruppen ein ausreichendes Niveau der Landessprache erwarben, könnten doch ansonsten ihre Möglichkeiten, effektiv am öffentlichen Leben teilzunehmen und Zugang zu höherer Schulbildung zu erhalten, eingeschränkt werden [...].
(205) Ungeachtet seiner Feststellung, dass die Gesetzesänderungen aus 2018 alle an öffentlichen Schulen eingeschriebenen Schüler*innen betrafen, muss der GH nichtsdestoweniger ergründen, ob die umgesetzten Maßnahmen unverhältnismäßig nachteilige Auswirkungen auf die Bf nach sich zogen, sodass man in diesem Fall von »indirekter Diskriminierung«, die ebenfalls verboten ist, sprechen muss.
(206) Im vorliegenden Fall wurde die Gesetzesreform aus 2018 erst 28 Jahre nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands vorgenommen. Es kann nicht gesagt werden, dass es sich hierbei um plötzliche und unerwartete Änderungen im Erziehungs- und Unterrichtssystem handelte, war doch bereits 1991 der Grundsatz, dass jedermann Erziehung und Unterricht in der Landessprache erhalten sollte, im lettischen Recht verankert worden. In der Folge wurden mehr Änderungen in die relevanten Gesetze zwecks Sicherstellung einer schrittweisen Zunahme des Gebrauchs des Lettischen als Erziehungs- und Unterrichtssprache an öffentlichen Schulen aufgenommen. Über die einschlägigen Gesetzesänderungen wurde in der Gesellschaft während aller Stadien der Erziehungs- und Unterrichtsreform in aller Breite debattiert. Die Behauptungen der Bf, die umstrittene Gesetzesreform aus 2018 sei nicht angemessen diskutiert worden, wurden im Detail vom Verfassungsgericht geprüft und sodann verworfen [...]. Der GH sieht keinen Grund, diese Schlussfolgerungen anzuzweifeln.
(207) Insoweit der gegenständliche Fall die Reform aus 2018 angeht, möchte der GH anmerken, dass die in besagtem Jahr erfolgten Änderungen den Gebrauch des Russischen als Erziehungs- und Unterrichtssprache nicht zur Gänze untersagten. Sie erlaubten Erziehung und Unterricht in Russisch in der Grundschulstufe (bis zu 50 % des Unterrichts für Schüler*innen in den Klassen 1–6 bzw bis zu 20 % des Unterrichts in den Klassen 7–9), wohingegen an höheren Schulen spezielle Fächer, die sich auf die russische Sprache, Identität und Kultur bezogen, noch immer auf Russisch unterrichtet werden konnten. Im Gegensatz zu den Vorbringen der Bf wurde diese Stufe der Erziehungs- und Unterrichtsreform schrittweise umgesetzt, da die fraglichen Änderungen im Verlauf von drei Jahren eingeführt wurden. Schüler*innen, für die die Notwendigkeit bestanden hätte, sich an die neue Situation anzupassen und sich zusätzlicher Maßnahmen zu bedienen, um ihre Kenntnisse in der Landessprache zu verbessern, wurden folglich drei zusätzliche Jahre gewährt. Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Gesetzesreform aus 2018 schrittweise und auf flexible Art und Weise eingeführt wurde, und zwar mit ausreichendem Spielraum zur Anpassung an die Bedürfnisse der davon Betroffenen.
(208) Was die Behauptung der Bf angeht, dass die jüngere Generation von russischsprechenden Schüler*innen über ausreichende Kenntnisse des Lettischen verfüge und insofern kein Bedürfnis bestanden habe, dieses Wissensniveau innerhalb des Erziehungs- und Unterrichtssystems zu verbessern, wurde der GH in diesem Punkt nicht mit ausreichend zuverlässigen Daten versorgt. Dieses Vorbringen scheint der Behauptung zu widersprechen, dass russischsprechende Einwohner*innen in Lettland offensichtlich in der Lage sein würden, ihr tägliches Leben ohne auch nur irgendwelche Kenntnisse der Landessprache bestreiten zu können. Wenn es tatsächlich so wäre, dass russischsprechende Schüler*innen solch gute Kenntnisse des Lettischen hätten, wie von den Bf behauptet wurde, dann vermag der GH in ihrer Argumentation keine Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass sie von der Zunahme des Gebrauchs von Lettisch als Unterrichtssprache ernsthaft beeinträchtigt worden wären. Wenn nun russischsprechende Schüler*innen keine genügenden Kenntnisse des Lettischen, wie von der Regierung behauptet, hätten, dann waren die vom Staat eingeleiteten und umgesetzten Maßnahmen zum Schutz und zur Festigung des Gebrauchs von Lettisch und zur Gewährleistung eines einheitlichen Erziehungs- und Unterrichtssystems wohl tatsächlich notwendig. In dieser Hinsicht verweist der GH auf die Ansicht der Venedig-Kommission, wonach eine Notwendigkeit bestehen könnte, die Sprachfertigkeiten des Volkes im Lettischen zu verbessern [...]. Das lettische Verfassungsgericht wiederum bewertete in seinem Urteil vom 23.4.2019 die verfügbaren statistischen Daten über ethnische Gruppen, deren Sprachkenntnisse und die Folgen der Einwanderungspolitik während der sowjetischen Besatzungszeit. Es hob hervor, dass die Auswirkungen aus dieser Zeit nach wie vor einen negativen Einfluss auf den Gebrauch des Lettischen in der Gesellschaft und im Erziehungs- und Unterrichtssystem hätten. Der GH ist der Ansicht, dass sich die auf die Notwendigkeit des Schutzes und der Festigung der Landessprache beziehenden Fragen den Kern der verfassungsmäßigen Identität eines Staates betreffen und es somit nicht seine Aufgabe ist, die vom Verfassungsgericht diesbezüglich vorgenommene Bewertung anzuzweifeln [...].
(209) In der Regel wendet der GH den Grundsatz affirmanti incumbit probatio an, dh es liegt an den Bf zu beweisen, dass eine unterschiedliche Behandlung stattgefunden hat. In dieser Hinsicht vermag der GH dem Vorbringen der Bf keinerlei Argumentation dahingehend zu entnehmen, dass die Gesetzesreform aus 2018 unverhältnismäßig nachteilige Auswirkungen auf sie gehabt hätte [bzw haben würde], was ihr Recht auf Erziehung und Unterricht angeht (siehe dazu bereits Rz 135, was die Rüge unter Art 2 1. ZPEMRK allein betrifft). Was jedoch den Beschwerdepunkt [...] unter Art 14 EMRK iVm Art 2 1. ZPEMRK anbelangt, ist der GH bereit zu akzeptieren, dass die Bf von den strittigen Gesetzesänderungen betroffen waren und die Auswirkungen auf ihre persönliche Situation – abhängig von ihren Sprachkenntnissen das Lettische betreffend und in welchem Erziehungs- und Unterrichtsprogramm die bf Kinder eingeschrieben waren – variierten. Zu berücksichtigen ist auch, dass die von den öffentlichen Schulen angebotenen Erziehungs- und Unterrichtsprogramme – sogar im Anschluss an die Reform aus 2018 – variierten und eine ganze Reihe von unterschiedlichen Optionen anboten. Zum Beispiel wurden in der dritten Schulklasse, die der ZweitBf besuchte, 63 % des Unterrichts auf Lettisch angeboten, während die verbleibenden 37 % der Wochenstunden in Russisch absolviert werden konnten. Zur selben Zeit bot die von der Dritt- und der ViertBf besuchte Schule für die dritte Schulklasse 50 % des Unterrichts in lettischer Sprache an, während so gut wie 50 % des wöchentlichen Unterrichts auf Russisch abgehalten werden konnten. Daraus folgt, dass es für die Familien durchaus möglich war, ein Erziehungs- und Unterrichtsprogramm zu wählen, das für ihre Bedürfnisse am besten geeignet war.
(210) Die Bf schlugen nun in Bezug auf die Ergreifung geringstmöglicher einschränkender Mittel zur Sicherstellung des legitimen Ziels vor, dass die Landessprache auch mittels Erziehung und Unterricht in der Muttersprache und eingehenden Lernens der offiziellen Landessprache gefestigt und geschützt werden könnte. Dem möchte der GH allerdings entgegnen, dass das Prinzip der Abhaltung des Unterrichts in der Muttersprache [...] weit davon entfernt ist, die Regel unter den Mitgliedstaaten des Europarats darzustellen. [...] In diesem Zusammenhang möchte der GH auf die vom lettischen Verfassungsgericht [in einer Entscheidung aus] 2005 gezogenen Schlussfolgerungen verweisen, wonach kein europäischer Konsens hinsichtlich des Schutzes von Minderheitenrechten im Bereich der Erziehung und des Unterrichts bestehe. Darüber hinaus legte Letzteres die Reichweite des Rahmenübereinkommens aus und kam zu dem Ergebnis, dass kein Grund für die Annahme bestehe, dass die Staaten eine derartige Form der Bewahrung und Fortentwicklung der Sprache sowie ethnischen und kulturellen Einzigartigkeit zu gewährleisten hätten, indem Erziehung und Unterricht in einer Minderheitensprache oder in Anteilen davon erworben werden müsste, ohne dabei das nationale Verfassungssystem in Betracht zu ziehen. [...] Zum besseren Verständnis des Kontexts des vorliegenden Falls möchte der GH schildern, wie es zum weit verbreiteten Sprechen von Russisch in Lettland kam. Letzteres war (wie auch die benachbarten Baltischen Staaten Litauen und Estland) Opfer von Aggression und Gegenstand von – mit 1940 beginnender – unrechtmäßiger Besetzung und Annexion seitens der früheren Sowjetunion. Seine Unabhängigkeit wurde de facto gewaltsam für ein halbes Jahrhundert als Resultat eines eklatanten Bruchs des Völkerrechts unterbrochen (siehe Savicki ua/LT, Rz 104). Während dieser Periode unterlief die ethnische Zusammensetzung der lettischen Bevölkerung signifikanten Veränderungen, die das Ergebnis einer groß angelegten, von der ehemaligen Sowjetunion verfolgten Einwanderungspolitik und von dieser veranlassten Massendeportationen der lokalen Bevölkerung war. In der Erziehung und im Unterricht wurde von etablierten Schulen eine Russifizierungspolitik verfolgt, wo Russisch die einzige Unterrichtssprache darstellte, während in anderen Schulen Erziehung und Unterricht [auch] in lettischer Sprache angeboten wurde. Dies führte zu einer Zweiteilung des Erziehungs- und Unterrichtssystems und zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft [...]. Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit startete Lettland eine schrittweise Erziehungs- und Unterrichtsreform zwecks Wiederherstellung des Gebrauchs von Lettisch als einzige Unterrichtssprache an lettischen Schulen. Nichts im vorliegenden Fall legt den Schluss nahe, dass es den Bf nicht möglich gewesen wäre, ihre Muttersprache zu erlernen und ihre Identität aufrechtzuerhalten. Vielmehr zielten die von den lettischen Behörden im gegenständlichen Fall ergriffenen Maßnahmen auf den Schutz der lettischen Sprache als einzige Landessprache und die Sicherstellung der Einheitlichkeit des Erziehungs- und Unterrichtssystems ab. Von einer breiteren Perspektive her gesehen waren diese Maßnahmen vom Bedürfnis geleitet, die Folgen der unrechtmäßigen Besetzung und Annexion durch die ehemalige Sowjetunion zu beseitigen.
(211) Innerhalb des Europarats wurde das Rahmen-übereinkommen nicht von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet und/oder ratifiziert. Sogar hinsichtlich solcher Staaten, welche diese Konvention ratifiziert haben, enthält ihr Art 14 kein zweifelsfreies Prinzip, wonach Minderheiten Erziehung und Unterricht in ihrer Muttersprache erhalten müssten. Während Staaten dazu ermutigt werden, Angehörigen von Minderheiten angemessene Möglichkeiten zu bieten, die Minderheitensprache zu erlernen oder in dieser Sprache unterrichtet zu werden, lässt das Rahmenübereinkommen eine solche Möglichkeit auf mehreren Wegen zu: durch zwei- oder mehrsprachigen Unterricht; Minderheitensprachenklassen an öffentlichen Schulen; und privaten Minderheitensprachenschulen oder von den Gemeinden organisierten »Sonntagsklassen« [...]. Im weiteren Rahmenwerk internationaler Menschenrechte scheint es akzeptiert zu werden, den normativen Gehalt des Rechts auf Erziehung und Unterricht von den in einem Staat vorherrschenden Bedingungen wie solche finanzieller Natur abhängig zu machen. Einigkeit dürfte jedenfalls darüber bestehen, dass ein Unterrichtssytem [der beschriebenen Art] zur Verfügung stehen und zugänglich, tragbar und anpassungsfähig sein sollte. [...]
(212) Der GH kommt somit zu dem Ergebnis, dass Staaten [...] ein weiter Ermessensspielraum bei der Organisation ihrer Erziehungs- und Unterrichtssysteme zukommt – und zwar insb bei der Wahl der Unterrichtssprache an öffentlichen Schulen. Indem der belangte Staat den Gebrauch des Lettischen als Unterrichtssprache wiederherstellte und eine schrittweise Umsetzung der Erziehungs- und Unterrichtsreform vornahm, überschritt er nicht seinen Beurteilungsspielraum, wurde doch eine Möglichkeit für russischsprechende Schüler*innen offen gehalten, ihre Sprache zu erlernen und ihr Erbe sowie ihre Identität zu bewahren. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass Lettland ein Erziehungs- und Unterrichtssystem in der offiziellen Landessprache eingerichtet hat, während es gleichzeitig für die Sicherstellung des Gebrauchs von Minderheitensprachen zu unterschiedlichen Anteilen – abhängig von der Schule und Klasse, in welchen die Schülerin/der Schüler eingetragen war – Sorge trug.
(213) Der GH ist sich sehr wohl bewusst, dass mehrere internationale und europäische Einrichtungen Empfehlungen abgegeben haben, was die Umsetzung der Sprachenpolitik im lettischen Erziehungs- und Unterrichtssystem und ihre möglichen Auswirkungen auf in anderen internationalen oder europäischen Rechtsinstrumenten festgelegte Minderheitenrechte angeht. Was nun aber die Beschwerde der Bf unter Art 14 EMRK iVm Art 2 1. ZPEMRK betrifft, ist der GH der Auffassung, dass die Regierung eine objektive und vernünftige Rechtfertigung für die Notwendigkeit geliefert hat, den Gebrauch des Lettischen als Unterrichtssprache im Erziehungssystem von Lettland zu steigern.
(214) Die vorgehenden Erwägungen reichen für den GH aus, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass die umstrittene unterschiedliche Behandlung mit den verfolgten legitimen Zielen vereinbar und verhältnismäßig war. Es kam daher zu keiner Diskriminierung aufgrund der Sprache.
(215) Es ist somit keine Verletzung von Art 14 EMRK iVm Art 2 1. ZPEMRK festzustellen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
»Belgischer Sprachenfall«, 23.7.1968, 1474/62 ua = EuGRZ 1975, 298
Zypern/TR, 10.5.2001, 25781/94 (GK)
Grišankova und Grišankovs/LV, 13.2.2003, 36117/02 (ZE)
Mentzen/LV, 7.12.2004, 71074/01 (ZE)
Sampanis ua/GR, 5.6.2008, 32526/05 = NL 2008, 151
Catan ua/MD und RU, 19.10.2012, 43370/04 ua (GK) = NLMR 2012, 335
Larionovs und Tess/LV, 25.11.2014, 45520/04 ua (ZE)
Ádám ua/RO, 13.10.2020, 81114/17 ua = NLMR 2020, 384
X. ua/AL, 31.5.2022, 73548/17 ua = NLMR 2022, 281
Savickis ua/LV, 9.6.2022, 49270/11 (GK) = NLMR 2022, 273
Gutachten vom 13.7.2022 auf Antrag des französischen Conseil d’État, P16-2021-002 = NLMR 2022, 356
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.09.2023, Bsw. 56928/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 485) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.