Bsw22296/20 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Baret und Caballero gg Frankreich, Urteil vom 14.9.2023, Bsw. 22296/20.
Spruch
Art 8 EMRK - Verbot der Ausfuhr von Keimzellen und Embryonen zum Zweck der postmortalen Fortpflanzung.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf sind französische Staatsangehörige. Nachdem beim Ehemann der ErstBf im Jahr 2016 ein Hirntumor diagnostiziert wurde, ließ er seine Keimzellen zum Zweck einer künstlichen Befruchtung in Frankreich aufbewahren. In seinem Testament legte er fest, dass seiner Frau die alleinige Entscheidungsmacht über die Verwendung seiner Keimzellen zukomme. Nach dem Tod ihres Ehemannes beantragte die ErstBf die Ausfuhr der in Frankreich aufbewahrten Keimzellen nach Spanien, um dort eine künstliche Befruchtung vornehmen zu lassen.
Die ZweitBf und ihr an Leukämie erkrankter Ehemann veranlassten im Hinblick auf die Vornahme einer künstlichen Befruchtung die Aufbewahrung von fünf Embryonen in einem französischen Krankenhaus. Auch der Ehemann der ZweitBf bescheinigte, dass der ZweitBf die Entscheidungsmacht über die Verwendung der Embryonen zukomme. Nach dem Tod ihres Ehemannes beantragte die ZweitBf ebenfalls die Ausfuhr der Embryonen nach Spanien zum Zweck einer medizinisch unterstützten Fortpflanzung.
Die Anträge der Bf wurden im Beschwerdeverfahren vom Conseil d’État jeweils unter Verweis auf das in Frankreich geltende absolute Verbot der postmortalen medizinisch unterstützten Fortpflanzung abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) durch das Verbot der Ausfuhr von Keimzellen ihres verstorbenen Ehepartners bzw von Embryonen zum Zweck der postmortalen Fortpflanzung.
Verbindung der Beschwerden
(40) In Anbetracht des Zusammenhangs [...] der beiden Beschwerden unterzieht sie der GH einer gemeinsamen Prüfung im Rahmen eines Urteils (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
Zulässigkeit
(45) [...] Die Beschwerden sind nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig [...]. Sie werden daher für zulässig erklärt (einstimmig).
In der Sache
Einleitende Bemerkungen
(59) In der [...] Rechtssache Pejřilová/CZ, betreffend eine Bf, deren Antrag auf künstliche Befruchtung mit den Keimzellen ihres verstorbenen Ehemannes mit der Begründung abgelehnt wurde, dass das innerstaatliche Recht diese Art der Befruchtung nur für Paare und unter Lebenden zulasse, stellte der GH keine Verletzung von Art 8 EMRK fest. Mangels eines Konsenses der Konventionsstaaten in Bezug auf postmortale Fortpflanzung stellte er fest, dass kein Anlass bestehe, von der von innerstaatlichen Gerichten angewendeten Auslegung abzugehen, die vor jedem Versuch einer künstlichen Befruchtung die erneute Zustimmung des Ehepartners verlangt. Er ging daher davon aus, dass dem Recht auf Achtung der Entscheidung der Bf, ein Kind zu bekommen, das die Gene ihres verstorbenen Ehepartners teilt, nicht mehr Gewicht beigemessen werden sollte als dem [...] Allgemeininteresse, das durch die entsprechende Gesetzgebung geschützt wird. [Der GH] betonte die Vereinbarkeit von Art 8 EMRK und der vom Gesetzgeber getroffenen
Entscheidung des absoluten Verbots der postmortalen Fortpflanzung, dh ohne die Vornahme einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung, um Kohärenz und Rechtssicherheit zu gewährleisten. [...] Die tschechische Gesetzgebung verbietet einer Person nicht, eine postmortale Befruchtung [...] in einem Land vorzunehmen, in dem eine solche erlaubt ist, sofern die Vorkehrungen betreffend die vorherige [...] Zustimmung des verstorbenen Ehepartners eingehalten werden.
(60) Im vorliegenden Fall, sowie auch in Pejřilová/CZ, sollte dem belangten Staat ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt werden, zumal der Einsatz von Verfahren zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung sensible moralische und ethische Fragen aufwirft und es unter den Konventionsstaaten keine klare gemeinsame Auffassung in Bezug auf die Frage der postmortalen Fortpflanzung gibt [...].
(61) Im Gegensatz dazu unterscheiden sich die vorliegenden Fälle von der Rechtssache Pejřilová/CZ in zwei Punkten. Im Unterschied zur tschechischen Gesetzgebung, die sich darauf beschränkt, die postmortale Befruchtung im Staatsgebiet zu verbieten, schließt das im französischen Recht verankerte Verbot der Ausfuhr [...] von in Frankreich aufbewahrten Keimzellen oder Embryonen zu einem innerstaatlich verbotenen Zweck einerseits grundsätzlich die Möglichkeit aus, eine postmortale Befruchtung in einem Land vorzunehmen, die eine solche erlaubt. Darüber hinaus verlangt die ZweitBf [...] die Möglichkeit, eine medizinisch unterstützten Fortpflanzung mithilfe der durch sie und ihren verstorbenen Ehemann erzeugten [...] Embryonen vornehmen zu lassen, und nicht wie die ErstBf [...] und die Bf in Pejřilová/CZ mithilfe der Keimzellen des verstorbenen Ehemannes. Die Aufbewahrung eines Embryos zeugt jedoch von einem engagierten Elternprojekt, das aus der Perspektive der [...] betroffenen Frau besonders berücksichtigt werden muss.
(62) Darüber hinaus [...] berufen sich die Bf darauf, dass dieses Verbot im Hinblick auf die neue französische Gesetzgebung [...] übertrieben sei. (Anm: Mit einer am 2.8.2021 beschlossenen Änderung des Bioethikgesetzes wurde die medizinisch unterstützte Fortpflanzung auch für zwei in einer Partnerschaft lebende Frauen und für alleinstehende Frauen geöffnet.) [...] Allerdings wurde das Bioethikgesetz vom 2.8.2021 verabschiedet, nachdem der Conseil d’État über die Beschwerden [der Bf] entschieden hat. [Der GH] muss daher prüfen, ob die Weigerung, den Transport der Keimzellen und Embryonen [...] nach Spanien zu genehmigen, im Zeitpunkt des strittigen Sachverhalts gerechtfertigt war. Da die parlamentarischen Arbeiten zum Zeitpunkt der Anrufung der innerstaatlichen Gerichte im Gang waren und sich die Bf darauf berufen haben, wird er im Rahmen seiner Erwägungen jedoch auch die infolge der Implementierung des Gesetzes von 2021 eingetretenen Entwicklungen berücksichtigen.
Zur Einhaltung von Art 8 EMRK
Zum Vorliegen eines Eingriffs
(63) [...] Die Möglichkeit einer Frau, eine bewusste und überlegte Entscheidung darüber zu treffen, was mit ihren Embryonen passiert, betrifft einen intimen Teil ihres persönlichen Lebens und fällt daher unter ihr Recht auf Selbstbestimmung und somit ihr Privatleben. [...] Dasselbe gilt für das Vorhaben einer Frau, deren Ehepartner verstorben ist und die den Wunsch hat, mithilfe seiner Keimzellen eine künstliche Befruchtung vornehmen zu lassen. Das gegenüber den Bf in den vorliegenden Fällen ergangene Verbot, die in Frankreich aufbewahrten Keimzellen bzw Embryonen nach Spanien zu verbringen, stellt einen Eingriff in ihr Recht darauf dar, zu versuchen, mithilfe von Verfahren zur künstlichen Befruchtung [...] das zu Lebzeiten ihrer Ehemänner begonnene Elternprojekt weiterzuführen.
(65) In Anbetracht des Ausgeführten geht der GH davon aus, dass die strittigen Weigerungen, die [...] zur Folge hatten, dass [...] eine postmortale Befruchtung und ein postmortaler Transport der Embryonen in ein Land, das eine solche erlaubt, verhindert wurden, [...] einen Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Privatlebens der Bf darstellt.
Zur gesetzlichen Grundlage des Eingriffs
(69) Im vorliegenden Fall [...] ist die Agentur für Biomedizin [...] die einzige Behörde, die gemäß Art L 2141 9 und Art L 2141-11-1 des Gesetzes über das öffentliche Gesundheitswesen für die Genehmigung der Ausfuhr von Keimzellen oder der grenzüberschreitenden Verbringung von Embryonen zuständig ist. [Der GH] geht davon aus, dass die Behörde in den zwei vorliegenden Fällen [...] gegenüber den Bf eine Weigerung aussprach. Im ersten Fall war sie [...] mit einem Antrag des Krankenhauses auf Genehmigung der Ausfuhr von Keimzellen befasst. Im zweiten Fall gab sie eine Stellungnahme vor dem Conseil d’État ab, in der sie zum Schluss kam, dass die Beschwerde der Bf zurückzuweisen sei.
(70) [...] Darüber hinaus stellten die Bf die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit der [einschlägigen Bestimmungen] des Gesetzes über das öffentliche Gesundheitswesen nicht in Frage, sofern sie ausdrücklich das absolute Verbot der postmortalen Befruchtung sowie der Ausfuhr von Keimzellen und Embryonen, die im Ausland für innerstaatlich verbotene Zwecke eingesetzt werden sollen, vorsehen. Es war ihnen daher möglich vorherzusehen, von diesen beiden Verboten betroffen zu sein. Eine [der Bf] macht jedoch geltend, dass die Auslegung des »Gesetzes« durch den Conseil d’État in der Rechtssache Gonzalez Gomez (Anm: Die Rechtssache Gonzalez Gomez betraf eine spanische Staatsangehörige, die mit ihrem Ehemann, einem italienischen Staatsangehörigen, vor dessen Tod in Frankreich gewohnt hatte. Die Keimzellen des Ehemannes wurden in Frankreich zum Zweck einer allfälligen künstlichen Befruchtung aufbewahrt. Nach dem Tod ihres Ehemannes ging die Bf zurück nach Spanien und beantragte die Ausfuhr der Keimzellen. In diesem Fall ging der Conseil d’État davon aus, dass die Weigerung, die in Frankreich aufbewahrten Keimzellen nach Spanien auszuführen, eine Verletzung von Art 8 EMRK darstellen würde, zumal die Bf eine Verbindung zu Spanien hatte und ihr Antrag nicht einer Umgehung der einschlägigen französischen Bestimmungen dienen würde.) [...] zu Rechtsunsicherheit führen würde.
(71) Der GH [...] ist der Ansicht, dass [die Entscheidung in der Rechtssache Gonzalez Gomez] nicht geeignet ist, um die Vorhersehbarkeit des Gesetzes im Sinne der Konvention in Frage zu stellen.
(72) [...] Er hat vielfach betont, dass der Grad der Deutlichkeit der innerstaatlichen Gesetzgebung – die nicht alle Sachverhalte vorhersehen kann – weitgehend vom Inhalt des in Frage stehenden Gesetzes, vom Bereich, den es erfassen soll, sowie der Anzahl und dem Status derjenigen, an die es gerichtet ist, abhängt. Gewisse Zweifel in Bezug auf Grenzfälle reichen daher für sich nicht aus, die Anwendung einer Rechtsvorschrift unvorhersehbar zu machen. Ebenso wenig verstößt eine Rechtsvorschrift gegen die Voraussetzung der »Vorhersehbarkeit« im Sinne der EMRK, nur weil sie mehr als einer Auslegung zugänglich ist [...].
(73) [...] Das innerstaatliche Gericht hat sich in Punkt 2 seiner Entscheidung in der Rechtssache Gonzalez Gomez [...] nicht auf eine abstrakte Kontrolle der Rechtsgrundlage der strittigen Entscheidung beschränkt, sondern auch eine konkrete Prüfung der Konventionskonformität der Folgen der Anwendung dieses Gesetzes vorgenommen, um festzustellen, ob die strittige Weigerung [...] mit Art 8 EMRK unvereinbar ist. Eine solche konkrete Prüfung der Auswirkungen, die in der gegebenen Situation mit der Umsetzung des Gesetzes verbunden sind und die im Vorfeld der Anrufung des GH im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips vorgenommen wird, darf nicht dazu führen, dass die Auslegung oder Anwendung des Gesetzes für die innerstaatlichen Gerichte unvorhersehbar oder willkürlich wird.
(74) Aufgrund dieser Erwägungen kommt der GH zum Ergebnis, dass der strittige Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war.
Zur Verfolgung eines legitimen Ziels
(76) [...] Zum Zeitpunkt der Anträge und der strittigen Weigerungen war die Möglichkeit der Inanspruchnahme medizinisch unterstützter Fortpflanzung von der [...] Zustimmung beider Partner abhängig. [...] In den vorliegenden Fällen sollten die strittigen Weigerungen die Achtung der Menschenwürde und Willensfreiheit gewährleisten und einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der verschiedenen an der medizinisch unterstützten Fortpflanzung Beteiligten schaffen.
(77) [...] Die [...] Verbote ergeben sich aus dem zum Zeitpunkt der strittigen Ereignisse vorherrschenden Familienverständnis, das insb in der Weigerung des Gesetzgebers zum Ausdruck kommt, die Inanspruchnahme medizinisch unterstützter Fortpflanzung zuzulassen. [...] Sie beschränkte sich darauf, bei Unfruchtbarkeit eines Paares Abhilfe zu schaffen, um ein Kind ohne Vater zur Welt zu bringen. Wie sich aus einer Vielzahl von Berichten und Studien ergibt [...], wirft die postmortale Fortpflanzung ethische Fragen auf, die mit Überlegungen des öffentlichen Interesses vermischt sind, welche sich unter anderem auf die Situation ungeborener Kinder beziehen können.
(78) [...] Die strittigen Eingriffe verfolgten daher die legitimen Ziele des »Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer« sowie des »Schutzes der Moral«.
Zur Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft
(80) [...] Die vom Gesetzgeber auf dem heiklen Gebiet der künstlichen Befruchtung getroffenen Entscheidungen sind der Kontrolle [des GH] nicht entzogen. Es obliegt ihm, die vom Gesetzgeber [...] herangezogenen Argumente sorgfältig zu prüfen und zu untersuchen, ob ein gerechter Ausgleich zwischen den verschiedenen [...] Interessen geschaffen wurde. Darüber hinaus muss der bestehende rechtliche Rahmen trotz des den Konventionsstaaten in diesem Bereich zukommenden weiten Ermessensspielraums in sich schlüssig sein.
(81) Der GH hat einerseits keine Zweifel am freien und erklärten Willen der Bf, die Elternprojekte fortzusetzen, die sie mit ihren verstorbenen Partnern begonnen haben. [...] Die betreffenden Projekte sowie die Einwilligungen, von denen deren Verwirklichung abhängt, wurden von den innerstaatlichen Gerichten nicht in Frage gestellt. [...] Nur die Fortsetzung der zu Lebzeiten der Verstorbenen eingeleiteten Verfahren zur künstlichen Befruchtung hätte es ihnen ermöglicht, ihre Entscheidung zu wahren, ein Kind zu bekommen, das ihr Erbgut teilt. Angesichts der Bedeutung des Rechts auf persönliche Selbstbestimmung ist der GH der Auffassung, dass die strittigen Verbote eine für die Bf entscheidende und ernstzunehmende Frage in Bezug auf das Recht auf Achtung des Privatlebens aufwirft.
(82) Andererseits [...] gilt im französischen Recht seit 1994 ein absolutes Verbot der postmortalen Fortpflanzung. Die Art L 2141-2, L 2141-9 und L 2141-11-1 [des Gesetzes über das öffentliche Gesundheitswesen] verbieten die postmortale Befruchtung sowie die Ausfuhr von Keimzellen oder Embryonen ins Ausland, sofern sie für innerstaatlich untersagte Zwecke eingesetzt werden sollen. [...] Der Conseil d’État stellte zwar fest, dass dies der Ausübung einer konkreten Kontrolle der Beeinträchtigung des Rechts auf Achtung des Privatlebens der Bf nicht entgegensteht, er ging jedoch von der grundsätzlichen Vereinbarkeit des absoluten Verbots mit Art 8 EMRK mit der Begründung aus, dass dies in den Ermessensspielraum fällt, den jeder Konventionsstaat [...] bei der Anwendung der EMRK genießt. Der GH erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass es keinen europäischen Konsens darüber gibt, ob postmortale Befruchtung zugelassen werden sollte oder nicht und dem belangten Staat daher ein weiter Ermessensspielraum zugestanden werden muss.
(83) [...] Es ist Sache des GH zu untersuchen, ob die innerstaatlichen Behörden einen gerechten Ausgleich zwischen den [...] widerstreitenden Interessen geschaffen haben, nämlich den persönlichen Interessen der Bf betreffend die Fortführung ihrer Elternprojekte und den vom Gesetzgeber und der Regierung vorgebrachten im Allgemeininteresse liegenden ethischen Gründen.
(84) Zunächst erinnert der GH in Bezug auf das absolute Verbot der postmortalen Befruchtung daran, dass dieses dem Schutz des auf ethischen und moralischen Erwägungen beruhenden Allgemeininteresses dient. [...] Dieses Verbot ist Teil einer politischen Entscheidung, die auf das erste Bioethikgesetz aus dem Jahr 1994 zurückgeht und das anlässlich periodischer Überprüfungen und zuletzt im Jahr 2021 im Rahmen eingehender legislativer Debatten wiederholt bekräftigt worden ist. [...] Das Gesetzgebungsverfahren führte angesichts der mit der postmortalen Befruchtung in Zusammenhang stehenden besonderen ethischen Herausforderungen zur Beibehaltung des Status quo. [...] Wenn allgemein politische Fragen auf dem Spiel stehen, hinsichtlich derer in einem demokratischen Staat realistischerweise tiefgehende Divergenzen bestehen, muss der Rolle des nationalen Entscheidungsträgers besondere Bedeutung beigemessen werden. Dies gilt umso mehr, wenn es sich wie vorliegend um eine gesellschaftliche Frage handelt.
(85) [...] Erstens geht aus den anzuwendenden gesetzlichen Vorschriften und der Rsp des Conseil d’État klar hervor, dass das Verbot der Ausfuhr von in Frankreich abgegebenen und aufbewahrten Keimzellen und Embryonen aus dem Verbot der postmortalen Befruchtung im Staatsgebiet folgt. Das Ausfuhrverbot, das einem Export des Verbots der postmortalen Fortpflanzung gleichkommt, zielt darauf ab, dem Risiko einer Umgehung der Einhaltung von Vorschriften des Gesetzes über das öffentliche Gesundheitswesen entgegenzuwirken, auf denen dieses Verbot beruht. [...] Es ist nicht unschlüssig anzuerkennen, [...] dass das strittige Ausfuhrverbot mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens vereinbar ist, zumal das absolute Verbot der postmortalen Befruchtung andernfalls seiner Substanz beraubt würde.
(86) [...] Das von der Regierung zur Rechtfertigung des Eingriffs geltend gemachte Argument betreffend die Möglichkeit der Bf, ein Kind mit einem anderen Mann oder den Keimzellen eines Spenders zu zeugen, ist zwar im Hinblick auf den Gegenstand der Beschwerde [...] unwirksam, jedoch sind die Entwicklungen – vor dem Hintergrund der Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten eines absoluten Verbots [...] – entscheidend für die Prüfung der Vereinbarkeit der strittigen Weigerungen mit Art 8 EMRK. Einerseits hat sich der Gesetzgeber bis zum Inkrafttreten des Gesetzes von 2021 bemüht, den Wunsch nach einem breiteren Zugang zu medizinisch unterstützter Fortpflanzung [...] und die [...] Bedenken der Gesellschaft hinsichtlich der sensiblen ethischen Fragen, die mit der Perspektive auf eine postmortale Empfängnis aufgeworfen werden, in Einklang zu bringen. Andererseits, wie auch der Conseil d’État festgestellt hat, ist das Verbot der Ausfuhr von Keimzellen und Embryonen auf das Bestreben zurückzuführen, einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu schaffen, dies im Lichte des vom Gesetzgeber angestrebten Ziels, keine Form des ethischen »Dumpings« zu ermöglichen.
(87) Zweitens ist der GH der Auffassung, dass die vorstehenden Entwicklungen auch hinsichtlich des Verbots der postmortalen Ausfuhr von Embryonen relevant sind. [...] Die sukzessiven Novellierungen des Bioethikgesetzes haben nie dazu geführt, zwischen Anträgen auf postmortale Befruchtung oder auf postmortale Verbringung von Embryonen zu unterscheiden. Die Weigerung, trotz entsprechender Vorschläge eine Unterscheidung zwischen den beiden Situationen vorzunehmen, legt die Sensibilität und Komplexität der Herausforderungen offen, die sich in Zusammenhang mit der Frage des Zugangs zu postmortaler medizinisch unterstützter Fortpflanzung stellen. Der Conseil d’État hat auch klargestellt, dass sich die Prüfung der Vereinbarkeit der strittigen Vorschriften und ihrer Umsetzung mit Art 8 EMRK für den Fall eines Rechtsstreits in Bezug auf Embryonen nicht unterscheidet. Der GH erinnert seinerseits daran, dass er Embryonen nicht als eigenständiges Rechtssubjekt anerkennt. Unter diesen Umständen ist er der Ansicht, dass der Gesetzgeber seinen Ermessensspielraum im Zuge seiner Entscheidung, die postmortale Verbringung von Embryonen zu verbieten, nicht überschritten hat.
(88) Letztlich, und drittens, entbindet der Umstand, dass ein Gesetz grundsätzlich als mit den Anforderungen an die Einhaltung von Art 8 EMRK vereinbar erachtet wird, nicht davon, die Auswirkungen der Anwendung dieses Gesetzes in einer gegebenen Situation zu prüfen, selbst wenn es, wie im vorliegenden Fall, ein generelles und absolutes Verbot enthält. [...] Der Conseil d’État hat die Umstände der beiden gegenständlichen Fälle entsprechend der von ihm in der Rechtssache Gonzalez Gomez festgelegten Methodologie geprüft. [...] Mit ihren [...] Anträgen verfolgten die Bf lediglich das Ziel, das französische Recht zu umgehen. Sie führten keine besonderen Umstände an, die es ermöglichen würden, [diese Vorschriften] unangewendet zu lassen. [...] Sie hatten keine Verbindung zu Spanien und die bloßen Umstände der Zustimmung der verstorbenen Ehepartner oder der Existenz eines Embryos reichten nicht aus, um einen übermäßigen Eingriff in [...] ihre [Willensfreiheit] zu begründen. [...] Mangels anderer besonderer von den Bf ins Treffen geführter Umstände ist der GH der Ansicht, dass es unter den vorliegenden Umständen keinen Grund gibt, von den vom innerstaatlichen Gericht gewählten Lösungen abzuweichen.
Schlussfolgerung
(89) Unter Berücksichtigung aller vorangehenden Erwägungen gelangt der GH zum Schluss, dass die innerstaatlichen Behörden einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen [...] geschaffen haben und dass der belangte Staat seinen ihm zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten hat. Es erfolgte daher keine Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Ravarani und Richterin Eloségui).
(90) Der GH erkennt jedoch an, dass der durch den Gesetzgeber 2021 geschaffene Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung für weibliche Paare und alleinstehende Frauen neuerlich die [Frage] aufwirft, ob die Aufrechterhaltung des von den Bf gerügten Verbots gerechtfertigt ist. [...] Trotz des weiten Ermessensspielraums, der den Staaten im Bereich der Bioethik zukommt, muss der von Staaten geschaffene rechtliche Rahmen in sich schlüssig sein.
Vom GH zitierte Judikatur:
Evans/GB, 10.4.2007, 6339/05 (GK) = NL 2007, 90
S. H. ua/AT, 3.11.2011, 57813/00 (GK) = NLMR 2011, 339 = ÖJZ 2012, 379
Parrillo/IT, 27.8.2015, 46470/11 (GK) = NLMR 2015, 344
Pejřilová/CZ, 8.12.2022, 14889/19
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.9.2023, Bsw. 22296/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 458) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.