Bsw2264/12 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Ainis ua gg Italien, Urteil vom 14.9.2023, Bsw. 2264/12.
Spruch
Art 2 EMRK - Mangelhafte medizinische Versorgung eines Drogenkonsumenten in Polizeigewahrsam.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art 2 EMRK (6:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 30.000,– für immateriellen Schaden; € 10.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den drei Bf handelt es sich um die Lebensgefährtin, die Mutter und die Tochter von Herrn C. C., der am 10.5.2001 im Hauptquartier der Mailänder Polizei verstarb.
Die Polizei führte an diesem Tag in Mailand eine Operation gegen den Suchtgifthandel durch, im Zuge derer C. C. um 1:30 Uhr beim Verlassen seiner Wohnung festgenommen wurde. Während der Durchsuchung seiner Wohnung wirkte er psychisch beeinträchtigt, hatte offenbar Panikattacken und Stimmungsschwankungen, außerdem schlug er wiederholt mit dem Kopf gegen eine Wand. Sein Zustand wurde auf den Konsum von Drogen zurückgeführt. Um 3:15 Uhr kamen weitere Beamte zum Ort des Geschehens, um ihn abzuführen. Sie bemerkten, dass er stark schwitzte und ihm Speichel aus dem Mund tropfte. Aus Rücksicht auf seinen Zustand warteten sie zunächst ab und fuhren dann langsam zum Polizeihauptquartier, wo er um 3:30 Uhr dem Beamten im Anhalteraum übergeben wurde. In diesem Raum erfolgte das Aufnahmeprozedere für alle Festgenommenen. Wie der Beamte später angab, achtete er nicht durchgehend auf C. C., da er mit der Registrierung und dem Fotografieren weiterer festgenommener Personen beschäftigt war.
Nachdem der nach wie vor mit Handschellen gefesselte C. C. sich zunächst ruhig verhielt und im Anhalteraum zu schlafen schien, bat er um 5:50 Uhr, die Toilette aufsuchen zu dürfen. Der für den Anhalteraum verantwortliche Beamte löste eine der Handfesseln und begleitete ihn zur Toilette. In der Kabine begann C. C. zu würgen und fiel kurz darauf zu Boden, woraufhin ihm Blut aus der Nase lief. Der Beamte verständigte den Kommandanten, der sofort einen Rettungswagen anforderte. Die Sanitäter erschienen um 6:07 Uhr und begannen mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Wenig später wurde C. C. im Krankenhaus für tot erklärt.
Als Todesursache erwies sich bei einer pathologischen Untersuchung eine akute Vergiftung durch eine Überdosis Kokain. Da ein Fremdverschulden auszuschließen war, verzichtete die Staatsanwaltschaft auf die Einleitung eines Verfahrens.
Im Juni 2003 erhoben die Bf eine Amtshaftungsklage gegen das Innenministerium wegen unterlassener Hilfeleistung und dem Versäumnis, eine angemessene Überwachung sicherzustellen. Die beigezogenen Pathologen stellten fest, dass C. C. bereits kurz vor seiner Verhaftung Kokain eingenommen hatte und er die tödliche Dosis unmittelbar vor seiner Bitte, die Toilette aufsuchen zu dürfen, oder in der Kabine geschluckt haben musste. Das Suchtgift musste er demnach bereits bei seiner Verhaftung bei sich gehabt oder in der Polizeistation von einer dritten Person erhalten haben. Folglich war er entweder nicht sorgfältig durchsucht oder unzureichend überwacht worden. Das Mailänder Gericht erster Instanz gab der Klage daher statt.
Aufgrund eines Rechtsmittels des Innenministeriums behob das Berufungsgericht am 12.3.2008 dieses Urteil und wies die Klage ab. Die Begründung stützte sich in erster Linie auf die Ansicht, dass die tödliche Vergiftung nicht durch eine Nachlässigkeit seitens der Beamten ermöglicht wurde. Der Kassationsgerichtshof bestätigte dieses Urteil am 17.5.2011.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 2 EMRK (Recht auf Leben).
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 EMRK
(42) Die Bf brachten vor, die Behörden hätten es verabsäumt, angemessene Schritte zu setzen, um das Recht auf Leben ihres Angehörigen C. C. zu schützen, während er sich in Polizeigewahrsam befand. [...]
Zulässigkeit
(43) [...] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
Allgemeine Grundsätze
(54) [...] Personen in Haft befinden sich in einer verletzlichen Situation und die Behörden sind verpflichtet, über ihre Behandlung Rechenschaft abzulegen. [...] Die Verpflichtung, die Gesundheit und das Wohlergehen angehaltener Personen zu schützen, umfasst eindeutig auch die Pflicht, angemessene Maßnahmen zum Schutz vor Selbstbeschädigung zu ergreifen. Schon die Tatsache, dass eine Person in Haft unter unklaren Umständen gestorben ist, wirft generell die Frage auf, ob der Staat seiner Verpflichtung nachgekommen ist, das Recht auf Leben dieser Person zu schützen. Eine solche Verpflichtung muss so ausgelegt werden, dass sie den Behörden keine unverhältnismäßige oder unerfüllbare Bürde auferlegt [...].
(55) Eine positive Verpflichtung erwächst dann, [...]wenn die Behörden zur relevanten Zeit vom Bestehen einer realen und unmittelbaren Gefahr für das Leben einer bestimmten Person, die von Dritten oder von ihr selbst ausgeht, wussten oder wissen hätten müssen und es verabsäumten, die in ihrer Macht stehenden Maßnahmen zu ergreifen, die vernünftigerweise erwartet werden konnten, um die Gefahr abzuwenden. Wie der GH jedoch festgestellt hat, gibt es in manchen Kontexten wie der Anhaltung in einer Polizeistation [...] gewisse grundlegende Vorkehrungen, die von Polizeibeamten in allen Fällen erwartet werden müssen, um jedes potenzielle Risiko für die Gesundheit und das Wohlergehen der festgenommenen Person zu minimieren.
Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall
(58) Der GH bemerkt zunächst, dass die Behörden aufgrund der Anhaltung in einer Polizeistation verpflichtet waren, grundlegende Vorkehrungen zur Minimierung jedes potenziellen Risikos für die Gesundheit und das Wohlergehen von C. C. zu treffen, auch wenn keine ausreichenden Beweise dafür vorliegen, dass sie von einer realen und unmittelbaren Gefahr wussten oder wissen hätten müssen, er würde eine letale Dosis Kokain zu sich nehmen. [...] Zudem verfügten die Behörden über folgende Informationen, als C. C. in das Polizeihauptquartier [...] gebracht wurde: Erstens liegen Hinweise darauf vor, dass sich C. C. bei seiner Festnahme unwohl fühlte und Verhalten an den Tag legte, das für eine Selbstbeschädigung sprach. Zweitens beschrieben die ihn festnehmenden Beamten ihn als zu diesem Zeitpunkt psychisch beeinträchtigt, was sie auf Drogenkonsum zurückführten. Drittens wurde bei der Festnahme eine geringe Menge Kokain sichergestellt. Und schließlich [...] war er den festnehmenden Beamten als drogenabhängig bekannt.
Diese [...] Informationen müssen den Behörden [...] ausreichende Hinweise darauf geliefert haben, dass C. C. in einer verletzlicheren Position war als die durchschnittliche Person, die verhaftet wird, was eine erhöhte Sorgfaltspflicht auf ihrer Seite auslöste. Unter diesen besonderen Umständen ist der GH daher der Ansicht, dass vernünftigerweise erwartet werden konnte, dass die Behörden, als sie sich dazu entschieden, eine Person im Zustand von C. C. zu verhaften, angesichts seiner Verfassung zusätzliche grundlegende Vorsichtsmaßnahmen ergreifen würden, um seine Gesundheit und physische Integrität zu schützen.
(59) Der GH wird das Verhalten der Behörden vor diesem Hintergrund beurteilen.
(60) Zunächst bemerkt der GH, dass C. C. zwischen seiner Festnahme und seinem Tod nie irgendeine medizinische Aufmerksamkeit geschenkt wurde, obwohl die Polizeibeamten bei seiner Festnahme Zeichen des Unwohlseins und des Drogenkonsums wahrgenommen hatten. [...] Der GH ist nicht davon überzeugt, dass die Polizeibeamten, die über keine medizinische Expertise verfügten, eine verlässliche Beurteilung des Bedarfs von C. C. nach Hilfe vornehmen konnten.
(61) Was die behaupteten Versäumnisse bei der Personendurchsuchung von C. C. betrifft [...], nimmt der GH die Stellungnahme der Regierung zur Kenntnis, wonach C. C. und seine persönlichen Gegenstände bei seiner Festnahme durchsucht wurden [...]. Es gibt allerdings [...] kein Protokoll darüber [...]. [...] In jedem Fall gibt es im Akt keinen Beleg dafür, dass C. C. bei seiner Ankunft im Polizeihauptquartier [...] oder irgendwann während seines circa zweieinhalb Stunden dauernden Aufenthalts durchsucht wurde. [...]
(62) Der GH nimmt das Argument der Regierung zur Kenntnis, C. C. einer genauen Personendurchsuchung zu unterziehen, was ihrer Ansicht nach im vorliegenden Fall nicht geboten gewesen wäre, hätte [...] Probleme hinsichtlich anderer Artikel der Konvention aufgeworfen. [...] Es wäre nach Ansicht des GH tatsächlich übertrieben zu verlangen, alle verhafteten Personen als grundlegende Vorkehrung und somit routinemäßig intimen Leibesvisitationen zu unterziehen, um tragische Vorfälle wie jenen im vorliegenden Fall zu verhindern. Eine solche Anforderung könnte wirklich ein Problem unter anderen Artikeln der Konvention aufwerfen [...]. Zugleich kann eine solche Schlussfolgerung nicht so ausgelegt werden, als hätte sie die Behörden davon befreit, bei der Ankunft von C. C. im Polizeihauptquartier [...] irgendwelche Schritte zu setzen, um seine Person auf gefährliche oder verbotene Gegenstände, einschließlich Drogen, zu überprüfen – insb im Licht der verfügbaren Informationen und der Tatsache, dass ihm trotz des Verdachts, unter Drogen zu stehen, keine medizinische Versorgung zuteil wurde. [...]
(63) Was die Überwachung von C. C. während seiner Anhaltung und deren behauptete Unzulänglichkeit insb hinsichtlich der vom diensthabenden Beamten selbst eingeräumten Unterbrechungen betrifft, bemerkt der GH zunächst, dass ausschließlich die Behörden Kenntnis von den Ereignissen im Polizeihauptquartier haben. [...] Die einzigen Dokumente im Akt, die sich auf die Ereignisse im Polizeihauptquartier beziehen, sind ein Bericht und eine Stellungnahme, die beide von dem Beamten geschrieben wurden, der in der Nacht der fraglichen Ereignisse für den Anhalteraum verantwortlich war. In der Stellungnahme [...] gab der Beamte an, C. C. nicht durchgehend seine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, obwohl er hinzufügte, dass nach den Richtlinien stets ein Beamter anwesend hätte sein müssen. Der Akt gibt keinen Aufschluss darüber, ob dieser Richtlinie während der umstrittenen Ereignisse tatsächlich entsprochen wurde. Außerdem gibt es keine Belege dafür, dass die drei Beamten, die [...] sich damals im Dienst befanden, [...] von einem Staatsanwalt befragt wurden.
(64) Dem GH ist bewusst, dass die Auslegung positiver Verpflichtungen den Behörden keine unverhältnismäßige Bürde auferlegen darf. Er möchte nicht andeuten, dass C. C. während seiner gesamten Anhaltung die ungeteilte Aufmerksamkeit eines einzelnen Beamten erhalten hätte müssen. Angesichts der den Behörden bekannten Elemente sowie der Tatsache, dass C. C. keine medizinische Versorgung erhielt und bei seiner Ankunft im Polizeihauptquartier keiner Leibesvisitation unterzogen worden war, hätten die Behörden jedoch bei seiner Überwachung erhöhte Aufmerksamkeit zeigen müssen. Die Regierung hat [...] keine zufriedenstellenden und überzeugenden Argumente oder Beweise vorgebracht, um den durch prima facie-Beweise untermauerten Behauptungen der Bf entgegenzutreten, C. C. wäre während seiner Anhaltung nicht angemessen überwacht worden.
(65) Vor diesem Hintergrund gelangt der GH zu dem Ergebnis, dass [...] die Behörden das Leben von C. C. nicht ausreichend und angemessen geschützt haben [...]. Folglich hat eine Verletzung von Art 2 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Bošnjak).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 30.000,– für immateriellen Schaden; € 10.000,– für Kosten und Auslagen (jeweils 6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Bošnjak).
Vom GH zitierte Judikatur:
Keenan/GB, 3.4.2001, 27229/95 = NL 2001, 65
Paul und Audrey Edwards/GB, 14.3.2002, 46477/99 = NL 2002, 55
Van der Ven/NL, 4.2.2003, 50901/99
Fabris und Parziale/IT, 19.3.2020, 41603/13
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.9.2023, Bsw. 2264/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 431) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.