JudikaturAUSL EGMR

Bsw21424/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Datenschutzrecht
07. September 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Gauvin-Fournis und Silliau gg Frankreich, Urteil vom 7.9.2023, Bsw. 21424/16.

Spruch

Art 8 EMRK - Keine Aufhebung der Anonymität des Samenspenders trotz Interesse der Kinder an Kenntnis ihrer Herkunft.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art 8 EMRK (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf Gauvin-Fournis sowie der Bf Silliau wurden nach künstlicher Befruchtung 1980 bzw 1989 geboren. Die Bf wurde von ihren Eltern im Jahr 2009 über ihre Empfängnismethode aufgeklärt und forderte am 22.2.2010 das Centre d’études et de conservation des œufs et du sperme (Untersuchungs- und Aufbewahrungszentrum für Keimzellen, im Folgenden »CECOS«) auf, ihr Auskunft über die Identität des Keimzellenspenders, von dem sie gezeugt worden war, und weitere Informationen über diesen zu erteilen. Insb wollte sie wissen, ob ihr 1977 geborener Bruder von demselben Spender abstammte.

Nach der stillschweigenden Ablehnung dieses Antrags wandte sich die Bf an die Commission d’accès aux documents administratifs (Kommission für den Zugang zu Verwaltungsdokumenten, im Folgenden »CADA«). Am 27.7.2010 gab die CADA eine ablehnende Stellungnahme zu der beantragten Offenlegung ab. Die CADA erinnerte an den Grundsatz der Anonymität der Gametenspende und begründete ihre Entscheidung mit der Notwendigkeit, das Familienleben innerhalb der rechtlichen Familie des Kindes zu bewahren, das durch die Identifizierung des Spenders destabilisiert werden könnte, und mit dem moralischen und familiären Interesse des Spenders. Dieser wolle in den meisten Fällen nicht, dass seine Identität bekannt gegeben wird. Außerdem führte die CADA Erwägungen des Allgemeininteresses ins Treffen, wie etwa das Risiko verminderter Spendenbereitschaft einerseits und reduzierter Bereitschaft zur Offenlegung der Empfängnismethode andererseits, wenn die Anonymität des Spenders aufgehoben würde.

Am 21.9.2010 reichte die Bf beim Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, im Folgenden »TA«) einen Antrag auf Aufhebung der stillschweigenden Entscheidung der CECOS ein. Sie beantragte außerdem, dass das Gericht die Assistance publique-hôpitaux de Paris (Krankenanstaltenverbund Paris, im Folgenden »AP-HP«), die dem Verfahren als Beklagte beigetreten war, anweisen solle, ihr die gewünschten Informationen zu übermitteln und € 100.000,– als Entschädigung für den erlittenen Schaden zu zahlen.

Am 14.6.2012 wies das TA die Anträge der Bf mit der Begründung zurück, dass die Informationen im Akt eines Keimzellenspenders ein gesetzlich geschütztes Geheimnis darstellten, das die Wahrung der Anonymität des Spenders gegenüber jedermann garantiere, der Zugang dazu beantragt, und insb gegenüber der Person, die mit Keimzellen aus dieser Spende gezeugt wurde. Die Ablehnung der Informationserteilung betreffend nicht identifizierende Informationen hinsichtlich des Spenders sowie betreffend die mögliche biologische Verbindung zum auf dieselbe Weise gezeugten Bruder der Bf durch die CECOS sei rechtskonform. Die Regel der Anonymität des Gametenspenders, die insb der Achtung des Familienlebens innerhalb der rechtlichen Familie des Kindes geschuldet sei, das mit Gameten aus dieser Spende gezeugt wurde, sowie dem Ziel der Wahrung des Privatlebens des Spenders entspreche, stelle keinen ungerechtfertigten Eingriff in das Privatleben der so gezeugten Person dar.

Die Bf legte gegen dieses Urteil Berufung ein. Mit Urteil vom 2.7.2013 bestätigte der Cour administrative d’appel (Berufungsgericht) das Urteil mit dem gleichen Wortlaut wie das TA. Die Bf legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde ein.

Am 12.11.2015 wies der Conseil d’État die Beschwerde im Einklang mit einer Entscheidung aus dem Jahr 2013 zurück.

In ihrer Stellungnahmen vor dem GH gab die Bf an, dass sie und neun weitere Personen, die in Frankreich durch eine Samenspende gezeugt worden waren, privat einen DNA-Test durchführen hätten lassen. Dieser habe ergeben, dass von den zehn getesteten Personen vier von demselben Spender stammten, darunter sie und ihr Bruder.

Am 3.8.2021 wurde das Gesetz Nr. 2021-1017 über die Bioethik im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht. Art 5 dieses Gesetzes sieht ein Informationssystem vor, das mit gespendeten Keimzellen gezeugten Kindern zur Verfügung steht, sobald sie volljährig sind. Es ermöglicht auch Kindern, die nach dem alten System geboren wurden, einen Antrag auf Zugang zu nicht identifizierenden Daten und zur Identität des Spenders zu stellen. Diese Regelung trat am 1.9.2022 in Kraft.

Am 21.11.2022 informierte die Bf den GH, dass sie am 7.10.2022 bei der neuen Commission d’accès des personnes nées d’une assistance médicale à la procréation aux données des tiers donneurs (Kommission für den Zugang von Personen, die nach medizinisch assistierter Fortpflanzung geboren wurden, zu den Daten der Spender, im Folgenden »CAPADD«) einen Antrag auf Auskunft über ihre Herkunft gestellt hätte. Am 28.3.2023 teilte die CAPADD mit, dass sie nicht in der Lage sei, dem Antrag stattzugeben, da aus den gesammelten Informationen hervorgehe, dass der Spender verstorben sei, und dass sie »ohne die persönliche und ausdrückliche Zustimmung« des Spenders und »nach dem derzeitigen Stand der Gesetzgebung« keine Daten weitergeben könne. Die CAPADD gab nicht an, ob der Tod des Spenders vor dem Zeitpunkt ihrer Befassung eingetreten war oder danach.

Der ebenfalls durch künstliche Befruchtung gezeugte Bf erfuhr 2006, im Alter von 17 Jahren, von seinen Eltern von deren Empfängnismethode. Mit Schreiben vom 18.3.2010, das unbeantwortet blieb, forderte der Bf die CECOS auf, ihm Informationen über die Ursprünge seiner Zeugung zu geben. Insb wollte er die Identität des Spenders, dessen medizinische Vorgeschichte und andere nicht identifizierende Informationen wie dessen Beweggründe, familiäre Situation und physische Beschreibung erfahren.

In der Folge dieser Ablehnung wandte sich der Bf an die CADA. Am 22.12.2010 erklärte diese seinen Antrag für gegenstandslos, da die Akte des Spenders nicht auffindbar sei. Am 16.9.2011 stellte der Bf beim TA ähnliche Anträge, wie es die Bf getan hatte. Am 10.11.2011 informierte die AP-HP den Bf über die Wiederherstellung seines Spenderakts, teilte ihm jedoch mit, dass nach französischem Recht keine Informationen erteilt werden könnten. Am 6.12.2013 wies das TA die Anträge des Bf mit jener Begründung zurück, die das TA in seinem Urteil betreffend die Bf verwendet hatte. Mit Urteil vom 22.1.2016 bestätigte das Berufungsgericht die Entscheidung gleichlautend mit dem TA. Das Berufungsgericht ergänzte, dass die psychologischen Notwendigkeiten, auf die sich der Bf berief, um medizinische Daten zu erhalten, keine therapeutischen Notwendigkeiten iSd Gesetzes darstellten. Der Bf legte Kassationsbeschwerde ein und berief sich auf eine Verletzung der Art 8 und 14 EMRK. Mit Entscheidung vom 23.12.2016 erklärte der Conseil d’État die Beschwerde für unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot). Sie monierten, dass die Unmöglichkeit, Informationen über ihren jeweiligen Erzeuger zu erlangen, ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens beeinträchtige und sie insb daran hindere, ihr Recht auf Identität in vollem Umfang wahrzunehmen.

Verbindung der Beschwerden

(74) Da die beiden Beschwerden in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ähnlich sind, beschloss der GH, sie gemäß Art 42 Abs 1 seiner VerfO zu verbinden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

Zulässigkeit

(76) [...] Ohne ausdrücklich eine Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, kommt die Regierung zu dem Schluss, dass die Bf aufgrund der 2021 erfolgten Gesetzesänderungen die Eigenschaft als Opfer verloren hätten. Sie betont, dass diese nun bei der CAPADD einen persönlichen Antrag auf Zugang zu ihren Ursprüngen [...] stellen könnten.

(78) Der GH verweist auf seine stRsp, wonach eine Entscheidung oder Maßnahme zugunsten des Bf grundsätzlich nur dann ausreicht, um ihm die Opfereigenschaft iSv Art 34 EMRK zu nehmen, wenn die nationalen Behörden die Verletzung der Konvention ausdrücklich oder in der Sache anerkannt und dann wiedergutgemacht haben. Zudem muss die geleistete Wiedergutmachung angemessen und ausreichend sein. [...]

(79) Im vorliegenden Fall ist es richtig, dass die Bf seit dem 1.9.2022 die CAPADD anrufen können, um gegebenenfalls Informationen über ihren Erzeuger zu erhalten. Die Bf hat dies getan und ihr Antrag wurde gerade endgültig abgewiesen. Diese Möglichkeit ergab sich jedoch mehr als zwölf Jahre nach ihrem Antrag auf Zugang zu ihren Wurzeln und lange nachdem die innerstaatlichen Gerichte über die angebliche Verletzung der EMRK entschieden hatten. Weder im innerstaatlichen Verfahren noch vor dem GH haben die nationalen Behörden ausdrücklich anerkannt, dass die Rechte der Bf gemäß der EMRK während des oben genannten Zeitraums verletzt worden seien. Daher ist der GH der Ansicht, dass die Bf weiterhin Opfer iSv Art 34 EMRK sind.

(81) Da die Beschwerden weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig sind, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

In der Sache

Zur Anwendbarkeit von Art 8 EMRK

(108) Der Bf behauptet, dass die Unmöglichkeit, Zugang zu seiner Herkunft zu erhalten, neben der Verletzung seiner Privatsphäre auch sein Familienleben behindere, da er sich entschieden habe, kein Kind zu bekommen, solange er keine Informationen über seinen Spender habe.

(109) Der GH erinnert daran, dass Art 8 EMRK das Recht auf Kenntnis der eigenen Herkunft schützt [...] und das Recht auf Achtung der Entscheidung, Eltern zu werden oder nicht, ebenfalls unter den Schutz von Art 8 fällt [...]. Die Kammer hält es unter den gegebenen Umständen nicht für notwendig, die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt des Familienlebens zu prüfen, da sie der Ansicht ist, dass der Aspekt des Privatlebens in Art 8 alle vom Bf geäußerten Beschwerdepunkte abdeckt.

Zur Art der staatlichen Verpflichtung

(110) [...] Zu dem Zeitpunkt, als die Bf die innerstaatlichen Gerichte und anschließend den GH mit ihren Forderungen befassten, war es durch Gametenspenden gezeugten Kindern – sofern ihnen die Art ihrer Zeugung offenbart worden war und sie dies wünschten – nach französischem Recht nicht möglich, die Identität des Spenders zu erfahren oder Zugang zu nicht identifizierenden Informationen über diesen zu erhalten. [...] Der GH ist daher im Gegensatz zur Regierung der Ansicht, dass [...] geprüft werden muss, ob der belangte Staat eine positive Verpflichtung hatte, den Betroffenen ein Recht auf Zugang zu ihren Ursprüngen zu gewähren. Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob Frankreich, indem es den Bf den Grundsatz der Anonymität des Spenders entgegenhielt, gegen seine positive Verpflichtung verstoßen hat, die effektive Achtung ihres Privatlebens zu gewährleisten.

Zum Ermessensspielraum

(111) Der GH [...] stellte 1997 in der Rs X., Y. und Z./GB fest, dass [...] es unter den Mitgliedstaaten keine allgemeine Übereinstimmung darüber gibt, ob es aus Sicht des gezeugten Kindes besser ist, die Anonymität des Samenspenders zu schützen oder dem Kind das Recht zu geben, dessen Identität zu kennen. Auf der Grundlage der vom Europarat in 25 Staaten durchgeführten vergleichenden Studie über den Zugang zu den Ursprüngen von Personen, die durch Keimzellenspenden gezeugt wurden, stellt der GH heute fest, dass diese Staaten in der Frage des Zugangs zu den Ursprüngen gespalten sind. Die Modalitäten des Zugangs zu den Ursprüngen unterscheiden sich [...] erheblich. Es gibt also keinen Konsens in diesem Bereich. Der vorliegende Fall wirft heikle ethische und moralische Fragen auf und öffentliche Interessen stehen auf dem Spiel, wobei sich die Regierung auf ein Spendenkonzept beruft, welches der Ethik betreffend Spenden von Körperteilen und -produkten entspricht. Diese Elemente sprechen für einen weiten

Ermessensspielraum.

(112) Der GH stellt jedoch fest, dass ein wesentlicher Aspekt der Identität von Personen im Mittelpunkt der vorliegenden Fälle steht. Das Recht, Informationen für die Wahrheitsfindung in Bezug auf einen wichtigen Aspekt der persönlichen Identität [...] und für die persönliche Entwicklung zu erhalten, ist ein grundlegender Aspekt des Rechts auf Privatsphäre. Der GH hält fest, dass er bereits in den 2000er Jahren die Bedeutung des Rechts auf Zugang zu den biologischen Ursprüngen hervorgehoben hat. Darüber hinaus stellt er fest, dass sich das innerstaatliche Recht in einer Reihe von Mitgliedstaaten weiterentwickelt hat und dass die heutigen Bedingungen auf eine neuere Tendenz zur Aufhebung der Anonymität von Spendern hindeuten. Neben einer Reihe von Staaten, in denen das Recht auf Zugang zu den Ursprüngen von Kindern, die durch eine medizinisch assistierte Fortpflanzung geboren wurden, seit langem anerkannt wird, wurde dieses Recht zwischen 2015 und 2021 im positiven Recht von vier Vertragsstaaten, darunter Frankreich, verankert, und in anderen Vertragsstaaten werden Reformen in diese Richtung diskutiert. Die Folgenabschätzung der französischen Regierung zum jüngsten Gesetzentwurf über Bioethik erläutert diese gesellschaftliche Entwicklung und betont, dass der Grundsatz der absoluten Anonymität der französischen Spender in diesem Kontext eine Ausnahme darstellt. Das Bestreben, den Zugang zu den Daten von Spendern weiter zu öffnen und deren Anonymität soweit wie möglich aufzuheben, findet sich auch in den Arbeiten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und des CDCJ. Schließlich sind auch die Entwicklungen in Wissenschaft und Technik zu berücksichtigen, insb die Entwicklung von frei erhältlichen Gentests, bei denen die Anonymität der Spender von Keimzellen nicht mehr gewährleistet werden kann. Aus dem Gesagten folgt, dass der belangte Staat einen weiten Ermessensspielraum in Bezug auf die Mittel hat, die er einsetzen muss, um den Bf die tatsächliche Achtung ihres Privatlebens zu gewährleisten.

Dieser Ermessensspielraum wird jedoch durch die Tatsache eingeschränkt, dass ein wesentlicher Aspekt der Identität von Personen im Zentrum der vorliegenden Anträge steht.

Zur Achtung von Art 8 EMRK

(113) Der GH stellt fest, dass zu der Zeit, als die Bf ihre Anträge einreichten, Personen in ihrer Situation keine Möglichkeit hatten, die Identität des Spenders zu erfahren oder Zugang zu nicht identifizierenden Informationen über diesen zu erhalten [...]. Bereits in den ersten Bioethikgesetzen von 1994 entschied sich der Gesetzgeber für einen absoluten Anonymitätsgrundsatz hinsichtlich der Gametenspenden, wodurch dieser zu einer ordre public-Regel wurde, die zwischen Empfänger und Spender gilt [...]. Aus dieser »absoluten, bedingungslosen und unumkehrbaren Anonymität« ergab sich, dass die durch eine Spende gezeugte Person von jeglicher Nachforschung und dem Zugang zu ihren Wurzeln, sofern sie diese zu kennen wünschte, ausgeschlossen war. Vom Grundsatz der Anonymität gab es zwei Ausnahmen zugunsten des Arztes, wenn eine therapeutische Notwendigkeit vorlag und wenn beim Spender eine schwere genetische Anomalie diagnostiziert wurde.

(114) Diese Situation bestand bis zum 1.9.2022, als die neuen Regelungen über den Zugang zu den Ursprüngen in Kraft traten. Diese ermöglichen nunmehr Personen, die vor dem Inkrafttreten der neuen Bestimmungen durch Spenden gezeugt wurden, Zugang zu ihrer Herkunft, jedoch vorbehaltlich der Zustimmung der Spender und – wie die Vorbereitungsarbeiten zur [...] neuen Regelung gezeigt haben und auch die Bf befürchten – unter der Bedingung, dass die Spender und deren Akten gefunden werden [...].

(115) Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob der belangte Staat, indem er die Anträge der Bf auf Zugang zur Identität des Spenders und zu nicht identifizierenden Informationen über diesen auf der Grundlage des Anonymitätsgrundsatzes [...] ablehnte, unter Berücksichtigung seines Ermessensspielraums seine positive Verpflichtung, die Achtung des Privatlebens der Bf zu gewährleisten, verletzt hat oder nicht. In diesem Zusammenhang muss der GH prüfen, ob der belangte Staat – unter Berücksichtigung der von den innerstaatlichen Richtern angeführten und der von der Regierung vorgebrachten Gründe – das öffentliche Interesse und die Interessen der Bf in zufriedenstellender Weise gegeneinander abgewogen hat.

(116) Der GH stellt einleitend fest, dass die Gerichte mehrfach betont haben, dass die Anträge der Bf einen Aufruf zu tiefgreifenden Umwälzungen des Zivil- und Fortpflanzungsrechts enthalten und in erster Linie in die Zuständigkeit des Gesetzgebers fallen. [...] Der GH erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass, wenn es um allgemeinpolitische Fragen geht, über die in einem demokratischen Staat vernünftigerweise tiefgehende Meinungsverschiedenheiten bestehen können, der Rolle des nationalen Entscheidungsträgers besondere Bedeutung beigemessen werden muss. Dies gilt umso mehr, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um eine gesellschaftliche Frage handelt.

(117) Dem GH ist bekannt, dass diese Frage auch die Berücksichtigung der besonderen Umstände der Situation von Personen wie den Bf aus dem Blickwinkel des Rechts auf Achtung ihres Privatlebens und insb des durch die EMRK geschützten Rechts auf Zugang zu den Ursprüngen als lebenswichtiges Interesse an der Erlangung von Informationen beinhaltete, die für die Wahrheitsfindung über einen wichtigen Aspekt der persönlichen Identität erforderlich sind. Der GH wird daher prüfen, ob die gesetzgeberischen Entscheidungen, die zu der behaupteten Verletzung geführt haben, und ihre Auswirkungen auf die Bf einen Verstoß des Staates gegen seine positive Verpflichtung darstellen, den Bf die wirksame Achtung ihres Privatlebens zu garantieren.

(118) In dieser Hinsicht und zu Beginn stellt der GH fest, dass die von den Bf beanstandete Situation aus den Entscheidungen des Gesetzgebers resultiert. Diesbezüglich kann der GH nur festhalten, dass sie das Ergebnis äußerst gründlicher Debatten sind, deren Qualität nicht in Frage gestellt werden kann. Der GH konstatiert im Übrigen, dass jedem Bioethikgesetz eine differenzierte öffentliche Debatte vorausgegangen ist, um alle Standpunkte zu berücksichtigen und die involvierten Interessen und Rechte bestmöglich abzuwägen.

(119) Obwohl die ersten medizinisch unterstützten Fortpflanzungsverfahren bereits 1973 eingeführt wurden, hielt es der französische Staat ab 1994 für notwendig, eine rechtliche Regelung [...] zu schaffen. Er beschloss damals, die Gametenspende mit allen anderen Spenden von Körperteilen und -produkten innerhalb eines rechtlichen Rahmens gleichzustellen, der auf den Grundsätzen der Anonymität und Unentgeltlichkeit der Spende beruht. Im Gegensatz zur Bf sieht der GH in dieser Ausgangsentscheidung eine Kohärenz, die den Erfordernissen der Wahrung ethischer Erwägungen und der damals befürchteten Risiken der Infragestellung der sozialen medizinisch unterstützten Fortpflanzung entspricht, mithin überzeugende allgemeine Erwägungen.

(120) Weiters wird festgestellt, dass die 1994 getroffenen Entscheidungen 2004 und 2011 nach prälegislativen Konsultationen betreffend die Vereinbarkeit der Anonymität des Spenders mit dem Recht auf Zugang zu den Ursprüngen erneut getroffen wurden. Die Verhältnismäßigkeit der absoluten Anonymität des Spenders wurde eingehend diskutiert, sowohl im Hinblick auf Erwägungen des allgemeinen Interesses wie der Wahrung des Gleichgewichts der Familien und des Risikos, den sozialen und emotionalen Charakter der Abstammung in Frage zu stellen, des Risikos eines erheblichen Rückgangs der Gametenspenden sowie des Risikos einer ethischen Infragestellung jeglicher Spende von Körperteilen oder -produkten [...], als auch im Zusammenhang mit dem Bewusstsein für das Leid, das manche Menschen empfinden, die durch eine Spende gezeugt wurden, und der Anerkennung eines Rechts auf Zugang zu den Ursprüngen in einigen Staaten und durch den GH. Letztendlich bewogen der Schutz des Spenders sowie die Befürchtung eines Spendenrückgangs und einer Gefährdung des Familienfriedens den Gesetzgeber dazu, nicht zwischen der Anonymität der Spende und der des Spenders zu unterscheiden, obwohl vorgeschlagen worden war, die Anonymität des Spenders entsprechend der Vorlage des nationalen Rates für den Zugang zu den Ursprüngen [...] aufzuheben.

(121) [...] Der GH stellt fest, dass es keinen Konsens über die Anerkennung des Rechts auf Zugang zu den Ursprüngen von Personen, die durch eine Spende gezeugt wurden, gibt, sondern nur eine neuere Tendenz zugunsten dieses Rechts, was ihm nicht erlaubt, zu sagen, dass Personen in der Situation der Bf, wie die unter X geborenen, früher die Möglichkeit hätten erhalten sollen, sich an eine Kommission für den Zugang zu den Ursprüngen zu wenden. Der GH erinnert zudem an sein Urteil Odièvre/FR, worin er die Möglichkeit, ein solches Gremium zu befassen, als ausreichend qualifiziert hat, um eine Verletzung von Art 8 EMRK zu verhindern.

(122) Der GH hält schließlich fest, dass die Ansprüche von Personen, die durch eine Spende gezeugt wurden, zunehmend als legitim anerkannt und durch seine Rsp bestätigt werden, wonach ein Mechanismus für den Zugang zu den Ursprüngen eine Abwägung der beteiligten Rechte und Interessen ermöglichen muss. Er bemerkt zudem, dass das Bewusstsein sowohl für die Unbegründetheit der Angst vor einem Rückgang der Gametenspenden als auch für die Überholtheit der Wahrung der Anonymität des Spenders angesichts der technologischen Entwicklung, insb der Entwicklung frei zugänglicher Gentests, und der daraus resultierenden Notwendigkeit, einen rechtlichen Rahmen für die Weitergabe der betreffenden Informationen festzulegen, gestiegen ist. Allerdings gingen der Verabschiedung des Gesetzes vom 2.8.2021 äußerst angespannte Debatten voraus, die die Suche nach einem Konsens über die Modalitäten der Umsetzung der Reform und der Anerkennung des Rechts auf Zugang zu den Ursprüngen begleiteten. Das Gesetzgebungsverfahren hat

somit gezeigt, wie sensibel und komplex die Frage der Eröffnung eines solchen Rechts ist.

(123) Der GH leitet aus den obigen Ausführungen ab, dass der Gesetzgeber die Interessen und Rechte am Ende eines reichhaltigen und evolutiven Reflexionsprozesses über die Notwendigkeit der Aufhebung der Anonymität des Spenders angemessen abgewogen hat. Unter Hinweis darauf, dass es keinen klaren Konsens zur Frage des Zugangs zu den Ursprüngen gibt, sondern nur eine neuere Tendenz zur Aufhebung der Anonymität des Spenders, ist der GH der Ansicht, dass der Gesetzgeber im Rahmen seines Ermessensspielraums gehandelt hat, der sicherlich durch die Infragestellung eines wesentlichen Aspekts des Privatlebens der Bf eingeschränkt ist. Daher kann dem belangten Staat nicht vorgeworfen werden, dass er bei der Verabschiedung der Reform zu langsam vorgegangen sei und die Zustimmung zu einer solchen Reform verzögert habe.

(124) Was zweitens die nicht identifizierenden medizinischen Informationen betrifft, deren zu restriktive Zugänglichkeit die Bf beklagen, stellt der GH fest, dass diese ebenfalls unter das absolute Spendergeheimnis und das Arztgeheimnis fallen, vorbehaltlich der zugunsten des Arztes vorgesehenen Ausnahmen.

(125) Der GH erinnert daran, dass die Wahrung der Vertraulichkeit gesundheitsbezogener Informationen ein wesentlicher Grundsatz des Rechtssystems aller Vertragsparteien der Konvention ist. Darüber hinaus haben die Vertragsstaaten, auch wenn das Recht auf Gesundheit als solches nicht durch die Konvention oder ihre Protokolle garantiert wird, eine positive Verpflichtung, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Personen zu ergreifen, die ihrer Hoheitsgewalt unterliegen. Ebenso stellt das Recht auf effektiven Zugang zu Informationen über die Gesundheit und die Fortpflanzungsfähigkeit eine Verbindung zum Privat- und Familienleben [...] dar.

(126) Abgesehen davon erachtet der GH den Grundsatz der Anonymität der Gametenspende zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerden nicht als Hindernis dafür, dass ein Arzt Zugang zu medizinischen Informationen erhält und diese im Falle einer therapeutischen Notwendigkeit an die durch die Spende gezeugte Person weitergibt. Letzteres verhindert jedoch laut der Folgenabschätzung der Regierung das Inzucht-Risiko, das die Bf hauptsächlich als Beeinträchtigung ihres Rechts auf Gesundheit erachten. Ebenso entschied der Staatsrat in seiner Entscheidung vom 12.11.2015, dass nicht identifizierende medizinische Informationen zur Prävention eingeholt werden können, insb im Fall eines Paares, das aus einer Gametenspende hervorgegangen ist. Darüber hinaus sah das alte Recht auch die Möglichkeit vor, dass der Spender im Falle einer genetischen Krankheit den Arzt ermächtigt, das für die Spende verantwortliche Zentrum zu befassen, damit dieses das durch die Spende geborene Kind informiert.

(127) [...] Es gibt keinen europäischen Konsens über die Weitergabe von medizinischen Informationen und das Recht, über seine Gesundheit informiert zu werden.

(128) Angesichts dieser Elemente und in Ermangelung hinreichend genauer Angaben in den Akten zu den konkreten Auswirkungen der Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht auf die Betroffenen, insb zu dem angeblichen Zusammenhang zwischen dem aus der Geheimhaltung resultierenden Leiden und der Kenntnis ihrer Krankengeschichte, ist der GH der Ansicht, dass Frankreich in Bezug auf nicht identifizierende medizinische Informationen ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Interessen aufrechterhalten hat. Er stellt im Übrigen fest, dass dieser Aspekt der Anonymität [...], vorbehaltlich der Fragen im Zusammenhang mit der Ausweitung des Zugangs zu den betreffenden Informationen, im Gegensatz zum Abstammungsgeheimnis in den aufeinanderfolgenden gesetzgeberischen Debatten nie grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Daher stellt die Ablehnung der Anträge der Bf aus Gründen der Wahrung des Arztgeheimnisses keinen Verstoß Frankreichs gegen seine positive Verpflichtung dar, das Recht der Bf auf Achtung

ihres Privatlebens zu gewährleisten.

(129) Der GH hat sich drittens mit den von den Bf beanstandeten Mängeln in Bezug auf die Modalitäten des seit dem 1.9.2022 eingeführten Systems zu befassen.

(130) In Bezug auf jene Garantien, die für Kinder vorgesehen sind, die nach diesem Datum [dem 1.9.2022] durch Spenden geboren wurden, hält es der GH nicht für notwendig, sich zu diesem Thema zu äußern.

(131) In Bezug auf Kinder, die vor diesem Datum durch eine Spende geboren wurden, stellt er fest, dass sie heute die Möglichkeit haben, sich an die CAPADD zu wenden, um die mögliche Zustimmung ihres Spenders zur Offenlegung seiner Identität und anderer nicht identifizierender Informationen zu erlangen. Der GH unterschätzt nicht die Befürchtungen der Bf, dass die Spender [...] nicht gefunden werden könnten oder dass sie der Offenlegung der sie betreffenden Informationen widersprechen, da ihnen absolute und endgültige Anonymität zugesichert worden war. Letzteres sei im Fall der Bf geschehen. Der GH stellt jedoch fest, dass die Entscheidung des Gesetzgebers auf dem Bestreben beruht, die auf der früheren Rechtsgrundlage entstandenen Konstellationen zu respektieren und er wüsste nicht, wie Frankreich die Situation anders hätte regeln können. Der GH ist daher nicht der Ansicht, dass der belangte Staat seinen Ermessensspielraum überschritten hat, als er sich dafür entschied, den Zugang zur Abstammung nur vorbehaltlich der Zustimmung des Spenders zu gewähren.

(132) In Anbetracht all dieser Erwägungen und unter Berücksichtigung des – wenn auch eingeschränkten – Ermessensspielraums, kommt der GH zu dem Schluss, dass der belangte Staat seine positive Verpflichtung, den Bf die tatsächliche Achtung ihres Privatlebens zu gewährleisten, nicht verletzt hat.

(133) Folglich wurde Art 8 EMRK nicht verletzt (4:3 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum von Richter Ravarani, Richterin Mourou-Vikström und Richter Gnatovskyy; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Elósegui).

Zur behaupteten Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK

(134) Die Bf erachten sich aufgrund ihrer Empfängnisart im Vergleich zu anderen Kindern in ihrem Recht auf Achtung der Privatsphäre diskriminiert, da es ihnen unmöglich ist, nicht identifizierende Informationen über den Spender und insb medizinische Informationen über diesen zu erhalten.

(135) In Bezug auf diesen Beschwerdepunkt ist der GH angesichts der Schlussfolgerungen betreffend Art 8 EMRK der Ansicht, dass keine wesentliche gesonderte Frage aufgeworfen wird, und kommt zu dem Schluss, dass es nicht notwendig ist, darüber getrennt abzusprechen (4:3 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum von Richter Ravarani, Richterin Mourou-Vikström und Richter Gnatovskyy).

Vom GH zitierte Judikatur:

X., Y. und Z./GB, 22.4.1997, 21830/93 (GK) = NL 1997, 88 = ÖJZ 1998, 271

Mikulić/HR, 7.2.2002, 53176/99

Odièvre/FR, 13.2.2003, 42326/98 (GK) = NL 2003, 27 = EuGRZ 2003, 584 = ÖJZ 2005, 34

Jäggi/CH, 13.7.2006, 58757/00 = NL 2006, 196

Godelli/IT, 25.9.2012, 33783/09 = NLMR 2012, 312

D. B. ua/CH, 22.11.2022, 58817/15, 58252/15 = NLMR 2022, 537

Y./FR, 31.1.2023, 76888/17 = NLMR 2023, 41

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.9.2023, Bsw. 21424/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 463) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.