Bsw43146/15 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Nemtsova gg Russland, Urteil vom 11.7.2023, Bsw. 43146/15.
Spruch
Art 2 EMRK - Unzureichende Ermittlungen zur Aufklärung der Hintergründe des Auftragsmords an einem Politiker.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art 2 EMRK in seinem prozeduralen Aspekt (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 20.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf ist die Tochter von Boris Nemtsov, der als ehemaliger Gouverneur und stellvertretender Ministerpräsident Russlands einer der führenden Oppositionspolitiker war. Am 27.2.2015 wurde er auf der Großen Moskwa-Brücke im Zentrum Moskaus erschossen.
Bereits am folgenden Tag eröffnete die zuständige Ermittlungsbehörde eine strafrechtliche Untersuchung. Sowohl der Tatort und der Körper des Verstorbenen als auch dessen Wohnung wurden unverzüglich untersucht, die in der Nähe des Tatorts geführten Telefonverbindungen ausgewertet, Zeug*innen befragt, Überwachungsvideos sichergestellt und weitere dringende Ermittlungsschritte gesetzt.
Am 6.3.2015 ordnete der Leiter der Ermittlungen die Festnahme von sechs verdächtigen Personen an: Z. D. (ein ehemaliger Offizier der tschetschenischen Spezialeinheit »Sever«), An. Gub. sowie dessen Bruder Sh. Gub. (Cousins von Z. D.), T. Esk. (ein ehemaliger Polizist aus Tschetschenien), B. Sh. (ebenfalls Polizist) sowie Kh. B. (ein weiterer Verwandter von Z. D.). In den folgenden Tagen wurden fünf der Verdächtigen festgenommen, B. Sh. starb bei der Festnahme. Die fünf Männer gestanden zunächst eine Beteiligung an dem Mord, widerriefen ihre Aussagen jedoch später.
Im Zuge der weiteren Ermittlungen wurden im Fluchtfahrzeug, das auf Videoaufzeichnungen identifiziert werden konnte, unter anderem die DNA der Verdächtigen sowie Schmauchspuren gefunden. Die Auswertung der Verbindungsdaten ergab, dass die Verdächtigen vor und nach der Tat wiederholt mit einem hochrangigen Offizier der »Sever«-Spezialeinheit (R. Ger.) und dessen Vertrauten R. Mukh. und Ar. Ger. sowie den beiden tschetschenischen Polizisten As. Kh. und Sh. Taz. telefoniert hatten. Zeugenaussagen bestätigten mehrere persönliche Treffen zwischen diesen Personen und den Verdächtigen in Restaurants bzw einer offenbar zur Überwachung des Opfers verwendeten Wohnung in Moskau, die von R. Mukh. angemietet worden war.
Die Bf wandte sich wiederholt mit Anträgen an die Ermittler und die Gerichte, in denen sie vor allem eine Aufklärung der Hintergründe des Mordanschlags und eine mögliche Verstrickung hochrangiger Amtsträger der tschetschenischen Republik verlangte und darauf hinwies, dass ihr Vater den Präsidenten Tschetscheniens Ramsan Kadyrov wiederholt öffentlich scharf kritisiert und daraufhin Todesdrohungen erhalten hatte.
As. Kh. wurde im Juni 2015 einvernommen, bestritt aber jegliche Beteiligung an dem Mord. Sh. Taz. wurde zwar vorgeladen, aber nie befragt, da er der Vorladung keine Folge leistete. R. Ger. und R. Mukh., deren Vorladung bzw Festnahme die Ermittler anordneten, konnten laut Angaben des dafür zuständigen Sicherheitsdiensts FSB in Tschetschenien nicht vorgeführt werden, weil sie »nicht an ihren Wohnsitzen angetroffen« worden seien.
Am 31.10.2015 wurde R. Mukh. gemeinsam mit unbekannten Personen wegen der Anstiftung zum Mord an Boris Nemtsov durch das Angebot einer Belohnung in Höhe von RUB 15.000.000,– in Abwesenheit angeklagt. Der Aufenthaltsort der Angeklagten konnte jedoch nie ausfindig gemacht werden. Das Strafverfahren gegen sie ist nach wie vor anhängig. Nähere Informationen über dessen Stand wurden von der belangten Regierung nicht vorgelegt.
Nach Abschluss der Ermittlungen wurde am 29.6.2016 Anklage gegen die fünf inhaftierten Verdächtigen erhoben. Darin ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass der Mordanschlag von R. Mukh. geplant und finanziert und von den fünf Angeklagten wegen der vereinbarten Belohnung ausgeführt worden war. Die Anklage verwies auf das Fehlen jeglicher Informationen über eine Verbindung zwischen der Tat und den politischen Aktivitäten des Opfers. Ein Moskauer Militärgericht verurteilte die Angeklagten am 13.7.2017 wegen Mordes zu Freiheitsstrafen zwischen elf und 20 Jahren. Auf die zahlreichen Anträge und Vorbringen, mit denen die Bf in der Hauptverhandlung das Gericht dazu bewegen wollte, die politischen Hintergründe der Ermordung ihres Vaters aufzuklären, ging das Gericht nicht weiter ein. Die von ihr erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behauptete eine Verletzung von Art 2 (Recht auf Leben) und Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).
Jurisdiktion
(100) [...] Der den behaupteten Verletzungen zugrunde liegende Sachverhalt ereignete sich vor dem 22.9.2022 – dem Datum, an dem die Mitgliedschaft Russlands zur EMRK endete. Daher [...] ist der GH für die Prüfung der vorliegenden Beschwerde zuständig (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 und Art 13 EMRK
(101) Die Bf brachte vor, die Untersuchung der Ermordung ihres Vaters wäre ineffektiv gewesen. [...]
Zulässigkeit
(102) [...] Die Beschwerdevorbringen sind weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(110) [...] Die Ermittlungen wurden unverzüglich aufgenommen und in den Tagen nach dem Tod von Herrn Nemtsov wurden ohne Verzögerungen zahlreiche dringende und unverzichtbare Ermittlungsschritte gesetzt. Kurz darauf identifizierten die Behörden sechs Personen, die sie für direkt an dem Verbrechen beteiligt hielten. Fünf von ihnen wurden sofort festgenommen und schließlich verurteilt. [...].
(111) Dennoch nimmt der GH erstens zur Kenntnis, dass sich die Hauptsorge der Bf – die tatsächlich eine zentrale Frage des vorliegenden Falls betrifft – auf die Erfüllung der Verpflichtung des belangten Staats bezieht, effektiv zu untersuchen, wer den Mord in Auftrag gegeben und organisiert hat, also all jene zu finden und strafrechtlich zu verfolgen, die hinter der Ermordung ihres Vaters stecken.
(112) Die fünf Angeklagten wurden wegen eines als Gruppe begangenen Mordes verurteilt, für den sie angeheuert bzw durch das Versprechen einer Belohnung motiviert worden waren. [...] Die Untersuchung eines Auftragsmordes kann nicht als angemessen und den Anforderungen des prozeduralen Aspekts von Art 2 EMRK entsprechend angesehen werden, wenn keine echten und ernsthaften Bemühungen unternommen werden, die Auftraggeber [...] zu identifizieren. Die Untersuchung eines Auftragsmordes [...] muss darauf abzielen, über die Identifikation des Auftragskillers hinauszugehen. Der GH muss sich davon vergewissern, dass sich die Ermittlungen im vorliegenden Fall mit diesem wichtigen Punkt befassten.
(113) Wie der GH festhält, besitzt er so gut wie keine Informationen über den Umfang der Ermittlungen [...], soweit sich diese auf die Identifikation der Auftraggeber des Verbrechens beziehen. [...] Seine Fähigkeit, die Art und das Ausmaß der Ermittlungen im vorliegenden Fall zu beurteilen, ist daher erheblich verringert und auf die Analyse der schriftlichen Stellungnahmen der Parteien beschränkt.
(114) Was die [...] Weigerung der Regierung betrifft, Kopien der relevanten Dokumente vorzulegen, bemerkt der GH, dass er die Erklärung dafür bereits in mehreren früheren Fällen als unzureichend erachtet hat [...]. Er bekräftigt, dass ein Versäumnis seitens der Regierung, in ihren Händen befindliches Material vorzulegen, ohne eine zufriedenstellende Erklärung Schlüsse auf die Begründetheit der Behauptungen der Bf nach sich ziehen kann. Im vorliegenden Fall wird der GH die ungerechtfertigte Weigerung, die angeforderten Unterlagen zu übermitteln, im Licht des Grundsatzes berücksichtigen, dass die Regierung die Beweislast für die Durchführung einer effektiven Ermittlung trifft [...].
(115) In diesem Zusammenhang entnimmt der GH dem ihm vorliegenden Material, dass das – [...] gegen den Widerspruch der Bf vom Verfahren gegen die fünf mutmaßlichen unmittelbaren Täter getrennte – Verfahren gegen R. Mukh. und »andere unbekannte Personen« (die von den Behörden als Auftraggeber des Mordes verdächtigt wurden) zumindest mehr als fünf Jahre lang [...] nicht aktiv vorangetrieben wurde. Der dem GH übermittelte Akt enthält keine Hinweise auf irgendwelche konkreten Ermittlungsschritte im Hinblick auf R. Mukh. und andere unbekannte Personen während dieser Zeitspanne. Eine solche Verzögerung wirft schon für sich ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Erfüllung der Verpflichtung zur Raschheit und angemessenen Eile auf. Die Verschleppung eines Verfahrens ist ein starkes Anzeichen für eine solche Mangelhaftigkeit, die eine Verletzung der positiven Verpflichtungen des Staates nach der EMRK begründet, sofern der Staat nicht sehr überzeugende und plausible Gründe zur Rechtfertigung der Verfahrensdauer vorbringt. Im vorliegenden Fall sieht der GH keine Gründe dafür, von dieser Schlussfolgerung abzuweichen. Angesichts des Fehlens einer Klarstellung seitens der Regierung stellt der GH fest, dass eine solche andauernde Untätigkeit die Untersuchung beeinträchtigte und eine erhebliche negative Wirkung auf die Aussichten haben musste, die Umstände der Ermordung von Herrn Nemtsov festzustellen.
(116) Folglich stellt der GH fest, dass es die Ermittlungen verabsäumten, einen zentralen Aspekt des Falls – nämlich die Identität der Personen, die das Verbrechen in Auftrag gegeben oder organisiert haben könnten – rasch und effektiv zu untersuchen.
(117) Was zweitens das behauptete Versäumnis der Behörden betrifft, die sich auf die politischen Aktivitäten des Vaters der Bf und die mögliche Verwicklung gewisser staatlicher Funktionäre beziehende Ermittlungslinie zu verfolgen, erinnert der GH zunächst daran, dass seine Rolle nicht darin besteht, sich zur Glaubwürdigkeit der Behauptung zu äußern, mehrere staatliche Behörden wären an der Ermordung von Herrn Nemtsov beteiligt gewesen. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, die Effektivität der Untersuchung seines Todes im Licht der sich aus Art 2 EMRK ergebenden staatlichen Verpflichtungen zu überprüfen. Ein Versäumnis, eine naheliegende Ermittlungslinie zu verfolgen, würde tatsächlich die Fähigkeit der Untersuchung erheblich untergraben, den Sachverhalt und die Identität der Verantwortlichen zu klären. Das bedeutet nicht, dass die innerstaatlichen Behörden jedem möglichen Szenario nachgehen müssen, das von den Angehörigen aufgeworfen wird, wenn es nicht mit Beweisen untermauert ist. Aus Art 2 EMRK kann keine Verpflichtung abgeleitet werden, unabhängig von den verfügbaren Beweisen eine Strafverfolgung einzuleiten.
(118) Die Behauptungen der Bf, wonach die Ermordung ihres Vaters politisch motiviert und gewisse staatliche Funktionäre [...] involviert gewesen sein könnten, waren nach Ansicht des GH überhaupt nicht unplausibel. Tatsächlich war Herr Nemtsov ein prominenter Politiker und einer der Führer der Opposition in Russland, der sich gegenüber seinen Gegnern, einschließlich hohen Amtsträgern der Republik Tschetschenien, äußert kritisch zeigte. Die Bf wies die Ermittler wiederholt auf klare Anzeichen für starke familiäre und berufliche Verbindungen zwischen den Angeklagten und anderen von ihr genannten Personen hin, einschließlich hohen Amtsträgern Tschetscheniens. Sie verwies unter Berufung auf Zeugenaussagen auf einen alten Konflikt zwischen Ramsan Kadyrov und Herrn Nemtsov, der Berichten zufolge zu Todesdrohungen geführt hatte, sowie auf Hinweise darauf, dass Herr Kadyrov den Killer persönlich kannte und seinen Mut und seine Professionalität gelobt hatte.
(119) Wichtig ist, dass die Ermittler selbst erhebliche Beweise erlangten, die auf eine mögliche Verwicklung von zumindest einigen der von der Bf in ihren wiederholten Anträgen genannten Personen in die fraglichen Ereignisse hindeuteten. Tatsächlich ergibt sich aus den Akten, dass die Ermittler rasch zahlreiche Hinweise – einschließlich Zeugenaussagen, Dokumente, Kameraaufnahmen, Verbindungs- und Flugdaten [...] – darauf erlangten, dass ein Beamter der Sicherheitsdienste der Republik Tschetschenien, R. Ger. (ein Militäroffizier und Vorgesetzter von Z. D. und B. Sh.) und Ar. Ger. sowohl vor als auch nach dem Mordanschlag in engem Kontakt zu den fünf Angeklagten gestanden waren. Von einigen der Zeug*innen wurde R. Ger. als Anführer der Gruppe erachtet.
(120) Unter diesen Umständen war es nach Ansicht des GH für die Behörden unerlässlich, diese Theorie zu verfolgen, selbst wenn sie sich schließlich als unbegründet erweisen hätte können. [...] Die Schlussfolgerungen der Ermittlung müssen auf einer gründlichen, objektiven und unvoreingenommenen Analyse aller relevanten Elemente beruhen. Daher hätten die innerstaatlichen Behörden angemessen reagieren und den oben genannten Informationen nachgehen müssen, um alle relevanten Details aufzudecken.
(121) Die Ermittlungsbehörden verloren die oben genannten Hinweise offensichtlich nicht aus den Augen. Sie stellten schon früh [...] fest, dass R. Ger. an dem Verbrechen beteiligt gewesen sein konnte und ordneten seine Vorführung zur Befragung [...] an. [...] Der GH entnimmt dem Akt allerdings keine wirklichen Versuche, diese Vorladungen zu vollstrecken. Der einzige Versuch der Behörden, R. Ger. und Ar. Ger. acht Monate nach dem Mordanschlag an ihren registrierten Adressen zu erreichen – der daran scheiterte, dass sie »nicht anwesend« waren, und dem keine weiteren ernsthaften Bemühungen zur Klärung ihres Aufenthaltsorts folgten – kann eindeutig nicht als angemessen erachtet werden. Infolge dessen wurden die Personen, deren Namen in den Zeugenaussagen wiederholt genannt worden waren und in zahlreichen Beweisstücken [...] aufschienen, nie befragt. [...]
(122) Gleichermaßen scheinen die Ermittler ihre Nachforschungen über die Rolle von As. Kh. und Sh. Taz. abgebrochen zu haben, obwohl sie umfangreiche Informationen sammelten, die deren mögliche Beteiligung an den fraglichen Ereignissen untermauerten, und Schritte zur Ermittlung ihres Aufenthalts setzten. Sh. Taz. wurde nie gefunden und weder von den Ermittlern noch vom Gericht einvernommen. As. Kh. wurde im Ermittlungsstadium befragt und seine Äußerungen widersprachen den von den Ermittlern zuvor erlangten Beweisen. Es wurden jedoch offenbar keine weiteren Fragen an ihn gestellt und es ist unklar, welche weiteren Maßnahmen gesetzt wurden, um seine Äußerungen mit den anderen Aussagen und Beweisen, die offensichtliche Diskrepanzen aufwiesen, abzugleichen. Ansonsten gibt es keine Hinweise darauf, dass die Ermittler irgendwelche weiteren Schritte unternahmen, um seine mögliche Beteiligung an den Ereignissen zu beleuchten.
(123) Somit wurden im vorliegenden Fall nicht alle auffindbaren Zeugen befragt. Im Gegenteil, [...] eine Reihe von Personen, die den Behörden entscheidende Informationen liefern hätten können, wurden nie [...] einvernommen oder es wurden ihnen nicht die wesentlichen Fragen gestellt.
(124) Angesichts des Gesamtkontexts des Falls hatten zudem aus Sicht des GH die Ermittlungsbehörden jeden Grund, mit besonderer Sorgfalt zu ergründen, ob der Mord mit den politischen Aktivitäten von Herrn Nemtsov zusammenhängen konnte, oder eine andere plausible Erklärung für die hinter dem Mord stehenden Motive zur Sprache zu bringen. Allerdings [...] verabsäumten es die innerstaatlichen Behörden festzustellen [...], in welchem Kontext und aus welchen Gründen eine Belohnung für den Mord geboten worden war [...].
(125) [...] Wie aus dem Material im Akt hervorgeht, wurde mehreren Theorien betreffend unterschiedliche Motive [...] nachgegangen. Es ist auch klar [...], dass die Ermittler in einem frühen Stadium [...] Schritte unternahmen, um die Theorie einer politisch motivierten Tat zu untersuchen [...]. Offensichtlich verwarfen sie diese Möglichkeit später ausdrücklich. Der GH ist jedoch darüber besorgt, dass sie es in weiterer Folge verabsäumten, irgendwelche Gründe für diese Entscheidung anzugeben [...]. Dieses Fehlen einer detaillierten Erklärung wirft auch Zweifel über die Qualität der Analyse der Beweise durch die Ermittler auf, soweit es um die Motive für den Mordanschlag geht.
(126) Diese Mängel wurden von den innerstaatlichen Gerichten [...] nicht behoben. Tatsächlich weigerten sich die Gerichte ungeachtet der zahlreichen Beschwerden, mit denen die Bf auf die völlige Missachtung möglicher politischer Hintergründe [...] hinwies, Maßnahmen zu erlauben, die auf die Erforschung eines möglichen politischen Motivs für den Mord gerichtet gewesen wären. In der Hauptverhandlung wurden diesbezügliche Fragen der Bf an Zeug*innen bei mehreren Gelegenheiten vom vorsitzenden Richter nicht zugelassen und verschiedene Verfahrensanträge wurden ohne nähere Begründung als irrelevant zurückgewiesen [...].
(127) Infolgedessen bleibt unklar, ob irgendein nennenswerter Versuch unternommen wurde [...], ein spezifisches Motiv für die Handlungen der Person oder der Personen zu eruieren, die nach Ansicht der Ermittler eine Belohnung für die Tötung von Herrn Nemtsov angeboten haben könnten.
(128) Die voranstehenden Überlegungen sind für den GH ausreichend, um zu dem Schluss zu gelangen, dass es die innerstaatlichen Behörden verabsäumten, eine angemessene und effektive Untersuchung der Ermordung von Herrn Nemtsov durchzuführen.
(130) Es hat folglich eine Verletzung des prozeduralen Aspekts von Art 2 EMRK stattgefunden (einstimmig). Angesichts dieser Umstände erachtet es der GH nicht für geboten, die Beschwerde gesondert unter Art 13 iVm Art 2 EMRK zu prüfen (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 20.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Gongadze/UA, 8.11.2005, 34056/02 = NL 2005, 275
Mustafa Tunç und Fecire Tunç/TR, 14.4.2015, 24014/05 (GK) = NLMR 2015, 97
Mazepa ua/RU, 17.7.2018, 15087/07 = NLMR 2018, 333
Estemirova/RU, 31.8.2021, 42705/11 = NLMR 2021, 413
Carter/RU, 21.9.2021, 20914/07 = NLMR 2021, 405
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.7.2023, Bsw. 43146/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 335) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.