JudikaturAUSL EGMR

Bsw21181/19 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
06. Juli 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Tuleya gg Polen, Urteil vom 6.7.2023, Bsw. 21181/19.

Spruch

Art 6, 8, 10, 13 EMRK - Suspendierung eines Richters durch Disziplinarkammer wegen kritischer Äußerungen zur Justizreform.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich des Vorbringens unter Art 6 Abs 1 EMRK betreffend das behördlich angestrengte Verfahren zur Aufhebung der Immunität des Bf (mehrheitlich); im Übrigen wird die Beschwerde unter Art 6 Abs 1 EMRK für unzulässig erklärt (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art 8 EMRK (mehrheitlich); im Übrigen wird die Beschwerde unter Art 8 EMRK für unzulässig erklärt (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 30.000,– für immateriellen Schaden; € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf ist ein sowohl in der Justiz als auch in der breiten Öffentlichkeit bekannter polnischer Richter, der sein Richteramt seit 1996 ausübt und dabei auch in vielen Fällen auf der Richterbank saß, die ein großes Medieninteresse hervorriefen. Zahlreiche Verfahren, die von ihm geführt und entschieden wurden, sind unter anderem von Politikern kommentiert worden. Der Bf ist auch Mitglied der polnischen Richtervereinigung Iustitia, die insb die Rechtsstaatlichkeit verteidigt.

Aufgrund des Verdachts eines disziplinarischen Fehlverhaltens wurden im Jahr 2018 gegen den Bf durch die zuständigen Disziplinarbeauftragten fünf Ermittlungsverfahren eingeleitet. Sie bezogen sich auf Äußerungen des Bf in einer Sendung des Fernsehsenders TVN24 am 17.7.2018 über den Landesjustizrat; die Teilnahme an zwei öffentlichen Versammlungen in Danzig und Lublin am 28. bzw 30.9.2018, die sich auf die Verfassung und die Rolle der Gerichte in einer Demokratie bezogen; die mögliche unerlaubte Offenlegung von Informationen aus einem Vorverfahren im sogenannten »Säulenhallen-Fall« (siehe dazu sogleich unten) sowie ein vom Bf gestelltes Ersuchen um Vorabentscheidung an den EuGH, das sich auf die Vereinbarkeit des neuen Disziplinarregimes für Richter mit Art 19 AEUV bezog. (Anm: Dieses Vorabentscheidungsersuchen wurde für unzulässig erklärt: EuGH 26.3.2020, C-558/18 und C-563/18 [Miasto Łowicz und Prokurator Generalny].) Da keine ausreichenden Gründe für die Einleitung von Disziplinarverfahren gefunden wurden, erfolgten in allen fünf Fällen Einstellungen des Verfahrens. Der Bf wurde darüber nicht informiert.

Im Dezember 2018 war der Bf dazu berufen, über einen Einspruch gegen die Einstellung eines Strafverfahrens zu entscheiden. Dieses bezog sich auf eine Abstimmung im Sejm am 16.12.2016, die vom Sprecher der Parlamentskammer in die Säulenhalle des Parlamentsgebäudes verlegt worden war, nachdem Abgeordnete der Opposition aus Protest den Zugang zum Plenarsaal blockiert hatten. Einige dieser Abgeordneten erstatteten nach der Abstimmung Strafanzeige, weil sie nach ihren Angaben am Zutritt zur Säulenhalle und somit an der Teilnahme an der Abstimmung über das Budgetgesetz gehindert worden waren. Gegen die Einstellung dieses Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft erhoben sie Einspruch. Der Bf beschloss aufgrund des großen Medieninteresses nach Rücksprache mit Vertretern der Abgeordneten und dem Staatsanwalt, öffentlich zu verhandeln und Aufnahmen durch die Medien zu gestatten. Abschließend verkündete er mündlich seine Entscheidung, die Fortsetzung des Verfahrens anzuordnen, und bezog sich bei seiner Begründung

auf Aussagen von Zeugen, die im Zuge des Vorverfahrens befragt worden waren.

Am 10.1.2018 eröffnete die Staatsanwaltschaft strafrechtliche Ermittlungen gegen den Bf wegen des Verdachts der rechtswidrigen Offenlegung von Informationen aus dem Vorverfahren im Zuge der genannten Verhandlung. Die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs gab dem Antrag am 18.11.2020 statt. Sie hob nicht nur die Immunität des Bf auf, sondern entschied zugleich, ihn vorläufig unter Reduktion seiner Bezüge um 25 % zu suspendieren.

Aufgrund eines Antrags der Staatsanwaltschaft auf Genehmigung der Festnahme des Bf stellte die Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof am 22.4.2021 ausdrücklich fest, dass kein begründeter Verdacht gegen den Bf bestehe. Nachdem die Staatsanwaltschaft dagegen einen Einspruch erhob, wurde die Angelegenheit an die neue Kammer für dienstrechtliche Verantwortung abgetreten. (Anm: Diese Kammer trat aufgrund einer Änderung des Gesetzes über den Obersten Gerichtshof mit 15.7.2022 an die Stelle der Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof.) Diese bestätigte mit Beschluss vom 29.11.2022 die erstinstanzliche Entscheidung der Disziplinarkammer vom 22.4.2021 und hob von Amts wegen die Suspendierung des Bf auf. Das Strafverfahren gegen ihn ist nach wie vor anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 6 (Recht auf ein faires Verfahren), Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) und von Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Verbindung der Beschwerden

(243) Der GH stellt fest, dass der Bf in seiner ersten Beschwerde (21181/19) gemäß Art 8 und Art 13 EMRK die verschiedenen vom Disziplinarbeauftragten eingeleiteten Vorermittlungen beanstandet hat. [...] Mit seiner zweiten Beschwerde (51751/20) wandte er sich gegen die Entscheidung der Disziplinarkammer vom 18.11.2020, mit der seine Immunität aufgehoben und er [...] suspendiert wurde. [...]

(244) Angesichts ihres ähnlichen Gegenstands erachtet es der GH als angemessen, die Beschwerden in einem einzigen Urteil gemeinsam zu behandeln (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 6 EMRK

(245) Der Bf brachte vor, dass die Entscheidung, seine Immunität aufzuheben und ihn von seinen richterlichen Pflichten zu suspendieren, von der Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof getroffen wurde, einem Organ, das nicht die Anforderungen eines »unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gerichts« erfüllte. [...]

Zulässigkeit

Opfereigenschaft

(246) Die Regierung brachte [...] vor, der Bf habe angesichts des [...] Beschlusses der Kammer für dienstrechtliche Verantwortung vom 29.11.2022 seine Opfereigenschaft verloren [...].

(253) Eine für den Bf günstige Entscheidung [...] reicht grundsätzlich nicht aus, um ihm die Opfereigenschaft iSd Art 34 EMRK zu entziehen, es sei denn, die nationalen Behörden haben die Verletzung der Konvention entweder ausdrücklich oder inhaltlich anerkannt und eine Wiedergutmachung geleistet [...].

(254) Der behauptete Verlust der Opfereigenschaft des Bf erfordert eine Überprüfung der Natur des umstrittenen Rechts, der Begründung der innerstaatlichen Entscheidung [...] und des Fortbestehens nachteiliger Folgen für den Bf nach dieser Entscheidung.

Hinsichtlich der Suspendierung des Bf

(260) Bei der Aufhebung der Suspendierung [...] des Bf berücksichtigte die Kammer für dienstrechtliche Verantwortung, dass diese Maßnahme von der Disziplinarkammer angeordnet worden war, einem Spruchkörper, der nicht den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches, durch Gesetz eingerichtetes Gericht iSv Art 6 Abs 1 EMRK entsprach. [...] Der GH anerkennt [...], dass die Kammer der Sache nach die Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK durch das Verfahren vor der Disziplinarkammer anerkannt hat.

(261) [...] Der GH stellt fest, dass die vom Bf behauptete Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK im Wesentlichen darauf beruht, dass sein Fall von der Disziplinarkammer verhandelt wurde; einem Organ, das nach dem Urteil des GH in der Rechtssache Reczkowicz/PL nicht als »auf Gesetz beruhendes« und »unabhängiges und unparteiisches« Gericht angesehen werden kann. Der Beschluss [...], der die Suspendierung des Bf beendete und eindeutig feststellte, dass er keine Straftat begangen hatte, wurde von einem Senat aus drei Richtern gefasst, deren Ernennungen am Obersten Gerichtshof im Lichte der Rechtssache Reczkowicz/PL [...] keine Bedenken gemäß Art 6 Abs 1 EMRK aufwerfen [...]. [...] Der Bf hat in letzter Instanz ein Verfahren vor einem – wie nach Art 6 Abs 1 EMRK erforderlich – »unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht« erhalten.

(262) [...] Unter den vorliegenden Umständen ist der GH der Auffassung, dass der Beschluss der Kammer für dienstrechtliche Verantwortung als angemessene und ausreichende Abhilfe für den Bf angesehen werden kann, soweit dieser die Suspendierung betraf. Daher stellt der GH fest, dass der Bf in Bezug auf diesen Aspekt seines Vorbringens nach Art 6 Abs 1 EMRK seine Opfereigenschaft verloren hat.

(263) Da es im vorliegenden Fall nicht erforderlich ist, sich mit den Argumenten des Bf zur Frage zu befassen, ob die Kammer für dienstrechtliche Verantwortung als Ganzes die Anforderungen an ein »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« erfüllt [...], kann der GH die in der Rechtssache des Bf ergangene Entscheidung nur gutheißen, da er sie für eine positive Entwicklung im Zusammenhang mit Polens Rechtsstaatlichkeitskrise hält [...].

(264) Insb stellt der GH fest, dass sich die mit dem Fall des Bf befassten Richter von der Rsp des GH leiten ließen und [...] die Anforderungen an ein faires Verfahren [...] berücksichtigt haben. Indem sie verschiedene Stränge der Rsp des GH und des EuGH zusammengeführt haben, sind sie nicht nur zu einer Entscheidung gelangt, die mit der Konvention und den rechtsstaatlichen Standards im Einklang steht, sondern haben gleichzeitig das der Konvention zugrunde liegende Subsidiaritätsprinzip konkretisiert. Der GH kann die grundlegende Rolle nicht genug betonen, die den nationalen Gerichten als Garanten des Rechts bei der Wahrung dieses Grundsatzes durch ihre Entscheidungen zukommt, mit denen sie den Rechten und Freiheiten der Konvention unmittelbare Wirkung verleihen oder bereits eingetretene Konventionsverletzungen beseitigen [...]. Der GH übersieht auch nicht, dass die Entscheidung im Fall des Bf ein Schritt nach vorne ist, um die Einhaltung der Urteile des GH im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der Justiz

in Polen zu gewährleisten.

Hinsichtlich der Aufhebung der Immunität

(265) [...] Der GH stellt fest, dass jener Teil des Beschlusses der Disziplinarkammer [...], der die strafrechtliche Verfolgung des Bf zulässt, nach wie vor in Kraft ist und das Strafverfahren gegen ihn noch anhängig ist, auch wenn die Kammer für dienstrechtliche Verantwortung eindeutig festgestellt hat, dass der Bf die angefochtene Straftat nicht begangen hat [...].

(270) [...] Auf nationaler Ebene wurde nichts unternommen, um das Strafverfahren gegen den Bf einzustellen.

(272) Die vorläufige Einrede der Regierung [...] hinsichtlich der Opfereigenschaft des Bf betreffend die Aufhebung seiner Immunität ist zurückzuweisen.

Anwendbarkeit des strafrechtlichen Teils von Art 6 Abs 1 EMRK auf das Immunitätsverfahren

(277) [...] Eine »strafrechtliche Anklage« besteht ab jenem Zeitpunkt, an dem einer Person von der zuständigen Behörde offiziell mitgeteilt wird, dass sie eine Straftat begangen haben soll, oder ab dem Zeitpunkt, ab dem ihr Handeln durch Maßnahmen der Behörden aufgrund eines gegen sie bestehenden Verdachts erheblich beeinträchtigt wird [...].

(279) [...] Die stRsp des GH legt drei Kriterien für die Prüfung, ob eine »strafrechtliche Anklage« vorliegt, fest (sog »Engel-Kriterien«, vgl Engel ua/NL) [...]. Das erste Kriterium ist die rechtliche Einstufung der Straftat nach innerstaatlichem Recht, das zweite ist die Art der Straftat selbst und das dritte ist der Schweregrad der Strafe [...]. Das zweite und dritte Kriterium sind alternativ und nicht zwingend kumulativ. Dies schließt jedoch einen kumulativen Ansatz nicht aus, wenn die getrennte Prüfung jedes einzelnen Kriteriums keinen eindeutigen Schluss auf das Vorliegen eines strafrechtlichen Vorwurfs zulässt [...].

(280) Zunächst stellt der GH fest, dass die richterliche Immunität nach polnischem Recht eine lange Tradition hat und als eine der Garantien für die richterliche Unabhängigkeit angesehen wird [...]. Nach dem polnischen Recht kann ein Richter nur mit vorheriger Zustimmung eines zuständigen Gerichts strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder einer Freiheitsentziehung unterworfen werden [...].

(284) In Bezug auf das erste Kriterium – die rechtliche Einordnung der Straftat nach innerstaatlichem Recht – stellt der GH fest, dass die Straftat, für welche der Staatsanwalt die Feststellung der Verantwortlichkeit des Bf beantragt hat, nämlich die unbefugte Weitergabe von Informationen aus dem Ermittlungsverfahren iSd Art 241 Abs 1 [polnisches] Strafgesetzbuch nach innerstaatlichem Recht eindeutig eine Straftat ist.

(285) Die Aufhebung der Immunität des Bf [...] greift seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit, über welche das Strafgericht im Rahmen des regulären Strafverfahrens zu entscheiden hat, nicht vor. Sie war jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für die strafrechtliche Verfolgung [...]. Der GH hält es im Hinblick darauf für sinnvoll, auf die Feststellungen der höchsten polnischen Gerichte zu den Besonderheiten und der Art des Immunitätsverfahrens in Polen zu verweisen.

(290) Der GH misst den [...] Feststellungen der höchsten nationalen Gerichte erhebliches Gewicht bei, insb ihrer Ansicht, dass die Anforderungen von Art 6 Abs 1 EMRK für Immunitätsverfahren gelten. Die Gerichte erkannten auch an, dass in Immunitätsverfahren [...] angemessene Verfahrensgarantien für die betroffene Person gewährt werden müssen.

(291) Der GH kommt zum Ergebnis [...], dass es nach polnischem Recht zwei getrennte Verfahren gibt, die die Verfolgung eines Richters und die Feststellung seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit ermöglichen. Das erste Verfahren bezieht sich auf die Genehmigung der Aufhebung der Immunität [...]. Dieses Verfahren, das eine unabdingbare Voraussetzung für die spätere strafrechtliche Verfolgung eines Richters darstellt, ist [...] nach der polnischen Verfassung ein Gerichtsverfahren.

(294) Zum zweiten Kriterium – der Art der Straftat – stellt der GH fest, dass sich Art 241 Abs 1 Strafgesetzbuch an die Allgemeinheit und nicht an einen bestimmten Personenkreis richtete. Somit war die Anklage gegen den Bf strafrechtlicher Natur.

(295) In Bezug auf das dritte Kriterium stellt der GH fest, dass die in Art 241 Abs 1 Strafgesetzbuch genannte Straftat mit einer Geldstrafe [...] oder einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden kann, was auf die Schwere der in Frage stehenden Strafen hinweist.

(296) [...] Das über die Aufhebung der Immunität entscheidende Disziplinargericht musste [...] bestimmen, ob ein »ausreichend gerechtfertigter Verdacht« der Begehung einer Straftat durch den Richter bestand. [...]

(297) [...] Zudem war der Beschluss der Disziplinarkammer vom 18.11.2020, mit dem die Immunität des Bf [...] aufgehoben wurde, von Bedeutung für seine rechtliche Stellung betreffend seine mögliche strafrechtliche Verantwortlichkeit.

(299) [...] Auch wenn der Bf noch nicht in dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren [...] förmlich angeklagt wurde, wirkte sich der genannte Beschluss nach Ansicht des GH [...] erheblich auf seine Situation aus. [...]

(300) Der GH stellt fest [...], dass Art 6 Abs 1 EMRK in seiner strafrechtlichen Ausprägung auf dieses Verfahren anwendbar ist. Daraus folgt, dass die diesbezügliche Einrede der Regierung zurückgewiesen werden muss.

Nichtausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

(305) [...] Das Vorbringen [...] bezieht sich ausschließlich auf das Immunitätsverfahren [...] und nicht auf das anhängige Strafverfahren gegen den Bf. [...] Daher weist der GH die Einrede der Regierung bezüglich des verfrühten Charakters der Beschwerde zurück.

(310) [...] Der GH [...] weist auch die Einrede, wonach der Bf keine Verfassungsbeschwerde eingelegt habe, zurück.

Schlussfolgerung zur Zulässigkeit

(312) Der GH stellt fest, dass das Vorbringen nach Art 6 Abs 1 EMRK betreffend das Verfahren zur Aufhebung der Immunität des Bf weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen in Art 35 EMRK angeführten Gründen unzulässig ist. Es ist daher für zulässig zu erklären (mehrheitlich; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek). Im Übrigen wird die Beschwerde unter Art 6 Abs 1 EMRK für unzulässig erklärt (einstimmig).

In der Sache

(332) Die allgemeinen Grundsätze zum Anwendungsbereich und zur Bedeutung des Begriffs »auf Gesetz beruhendes Gericht« wurden in der Rechtssache Guðmundur Andri Ástráðsson/IS dargelegt. In diesem Urteil wurde vom GH ein Schwellenwerttest [Ástráðsson-Test] entwickelt. Dieser besteht aus drei kumulativen Kriterien, um zu beurteilen, ob die Unregelmäßigkeiten in einem bestimmten gerichtlichen Ernennungsverfahren so schwerwiegend waren, dass sie eine Verletzung des Rechts auf ein ordentliches Gericht zur Folge hatten, und ob die staatlichen Behörden ein Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Grundsätzen hergestellt hatten [...].

(333) In der vorliegenden Rechtssache betrifft die angebliche Verletzung des Rechts auf ein »ordentliches Gericht« die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs, die beschlossen hat, die Immunität des Bf aufzuheben. Der Bf machte geltend, dass die Richter dieser Kammer vom Präsidenten der Republik auf Empfehlung des neuen Obersten Gerichtshofs im Sinne der Rsp des GH unter offensichtlicher Verletzung des innerstaatlichen Rechts ernannt worden seien.

(340) Der GH stellte in der Rechtssache Reczkowicz/PL fest, dass ein offensichtlicher Verstoß gegen das innerstaatliche Recht vorlag, der die grundlegenden Verfahrensregeln für die Ernennung von Richtern in die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs beeinträchtigte. Dies aus dem Grund, dass die Ernennung auf Empfehlung des mit dem Änderungsgesetz 2017 eingerichteten Landesjustizrats erfolgte, der eine Einrichtung darstellte, die keine ausreichenden Garantien für die Unabhängigkeit von der Legislative oder Exekutive mehr bot. Die Unregelmäßigkeiten im Ernennungsverfahren beeinträchtigten die Legitimität der Disziplinarkammer in einem solchen Ausmaß, dass sie [...] nicht die Eigenschaften eines »Gerichts« iSv Art 6 Abs 1 EMRK besaß und weiterhin nicht besitzt [...]. Der Wesenskern dieses Rechts war daher beeinträchtigt [...].

(341) In Anbetracht seiner Gesamtwürdigung im Rahmen des Dreistufentests stellte der GH in der Rechtssache Reczkowicz/PL fest, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs kein »auf Gesetz beruhendes Gericht« war, und erkannte in dieser Hinsicht eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK [...].

(343) Der GH [...] kommt zum Ergebnis, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs, die den Fall des Bf geprüft hat, kein »auf Gesetz beruhendes Gericht« war.

(344) [...] Die Frage, ob diese Unregelmäßigkeiten auch die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eben jenes Gerichts beeinträchtigt haben, wurde bereits bejaht (Reczkowicz/PL, Rz 284) und bedarf keiner weiteren Prüfung [...].

(345) Folglich liegt eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK in Bezug auf das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht vor (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).

Zur Opfereigenschaft des Bf im Hinblick auf die übrige Beschwerde

(347) Der Bf hat seinen Opferstatus iSv Art 34 EMRK in Bezug auf die behaupteten Verletzungen der Art 8, 10 und 13 EMRK nicht verloren.

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

(348) Der Bf behauptete eine Verletzung seines Rechts auf Achtung des Privatlebens durch die verschiedenen Disziplinarverfahren [...] und den Beschluss der Disziplinarkammer vom 18.11.2000, mit dem seine Immunität aufgehoben und er [...] suspendiert wurde. [...]

Zulässigkeit

(375) Die Gründe für beide umstrittenen Maßnahmen bezogen sich auf die Ausübung der Amtspflichten des Bf und standen in keinem Zusammenhang zu seinem Privatleben. Folglich kann die Anwendbarkeit von Art 8 EMRK nur durch [...] die Konsequenzen [...] begründet werden.

(376) Nach Ansicht der Regierung kann sich der Bf nicht auf Art 8 EMRK stützen, um eine Schädigung seines Ansehens geltend zu machen, weil diese aus seinen eigenen Handlungen resultiere. [...] Das behauptete Fehlverhalten ist nach Ansicht des GH nicht offensichtlich. Daher kann er den in Gillberg/SE entwickelten Grundsatz nicht anwenden, wonach sich niemand unter Berufung auf Art 8 EMRK über nachteilige Auswirkungen auf das Privatleben beschweren kann, wenn sich diese behaupteten Wirkungen auf die Konsequenzen eines rechtswidrigen Verhaltens beschränken, die für den Bf vorhersehbar waren.

Hinsichtlich der Vorermittlungen

(377) [...] Die Frage der Anwendbarkeit von Art 8 EMRK stellt sich im Hinblick auf zwei Vorermittlungen [...], nämlich jene betreffend die behauptete unerlaubte Weitergabe von Informationen aus dem Ermittlungsverfahren und jene betreffend sein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. [...] Der GH wird sich dabei auf die letztgenannten Vorermittlungen konzentrieren, da die Angelegenheit der mutmaßlichen Weitergabe von Informationen besser im Kontext der Überprüfung des Beschlusses der Disziplinarkammer vom 18.11.2020 zu behandeln ist. Die übrigen drei Vorermittlungen werden im Kontext der Prüfung der Beschwerde unter Art 10 EMRK behandelt.

(378) [...] Die Vorerhebungen wurden an einem nicht näher bekannten Datum eingestellt, ohne dass der Bf darüber informiert wurde. [...]

(379) Dennoch [...] waren solche Vorermittlungen wegen des Verdachts, ein richterlicher Akt des Bf könnte ein disziplinarrechtliches Fehlverhalten darstellen, geeignet, sich nachteilig auf die richterliche Integrität und das berufliche Ansehen des Bf auszuwirken. Der EuGH erklärte das [...] Ersuchen um Vorabentscheidung [...] für unzulässig. Zugleich sprach er jedoch aus, dass »nationale Bestimmungen, nach denen gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben, nicht zugelassen werden können.« (Anm: EuGH 26.3.2020, C-558/18 und C-563/18, Rz 58.) Angesichts dessen ist der GH der Ansicht, dass die Einleitung der umstrittenen Vorermittlungen sich in einem Ausmaß auf das Privatleben des Bf auswirkte, das ausreicht, um die Anwendbarkeit von Art 8 EMRK nach sich zu ziehen.

Zum Beschluss der Disziplinarkammer vom 18.11.2020

(382) [...] Die Disziplinarkammer entschied, dass sich der Bf strafrechtlich verantworten müsse, weil er im Fall der »Säulenhallen-Abstimmung« mutmaßlich Informationen aus den Ermittlungen offengelegt hatte, während er in einer öffentlichen Verhandlung seine Gründe dafür erläutert hatte, die Entscheidung eines Staatsanwalts aufzuheben, mit der dieser die Ermittlungen eingestellt hatte. Wie der GH betonen möchte, betraf die dem Bf vorgeworfene Straftat eine Handlung, die er in Ausübung seines Amts gesetzt hatte, und keine gewöhnliche Straftat [...].

(384) Selbst unter Berücksichtigung der vorläufigen Natur des Verfahrens über die Aufhebung der Immunität des Bf stellten die Feststellungen der Disziplinarkammer, wonach es einen begründeten Verdacht gebe, der Bf – ein erfahrener Strafrichter – habe in Ausübung seines Amts eine strafbare Handlung begangen, nach Ansicht des GH eindeutig den Kern seiner richterlichen Integrität, Kompetenz und Professionalität in Frage. Damit waren diese Feststellungen eindeutig geeignet, sich nachteilig auf das berufliche Ansehen des Bf auszuwirken. [...] Eine weitere Folge der Feststellungen der Disziplinarkammer besteht darin, dass der Bf zumindest in den Augen von Teilen der Öffentlichkeit als seines richterlichen Amts unwürdig angesehen werden könnte.

(385) [...] Was die Suspendierung betrifft, stellt der GH fest, dass diese Maßnahme dem Bf die Möglichkeit nahm, seine richterliche Arbeit fortzusetzen und während der relevanten Zeitspanne in dem beruflichen Umfeld zu leben, in dem er seine Ziele der beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung verfolgen konnte. [...]

(386) Zu guter Letzt ist nach Ansicht des GH der Kontext des Falls zu beachten. Der Bf war einer der aktivsten und deutlichsten Kritiker der Justizreformen, die rechtsstaatliche Standards und die richterliche Unabhängigkeit untergruben. [...]

(387) Angesichts von Art und Dauer der verschiedenen negativen Auswirkungen der Einleitung von Vorermittlungen betreffend das Ersuchen des Bf um Vorabentscheidung sowie der Aufhebung seiner Immunität und der folgenden Suspendierung ist der GH der Ansicht, dass sich die umstrittenen Maßnahmen sehr erheblich auf sein Privatleben auswirkten und damit in den Anwendungsbereich von Art 8 EMRK fallen. Diese Einrede der Regierung ist daher zu verwerfen.

(405) Der GH stellt fest, dass das Vorbringen nach Art 8 EMRK, soweit es sich auf die Einleitung von Vorermittlungen betreffend das vom Bf gestellte Vorabentscheidungsersuchen und den Beschluss der Disziplinarkammer vom 18.11.2020 bezieht, weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK angeführten Grund unzulässig ist. Es ist daher für zulässig zu erklären (mehrheitlich; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek). Im Übrigen wird die Beschwerde unter Art 8 EMRK für unzulässig erklärt (einstimmig).

In der Sache

(428) Wie oben dargelegt, beeinträchtigten die Einleitung von Vorermittlungen betreffend das Vorabentscheidungsersuchen des Bf sowie die Aufhebung seiner Immunität und die anschließende Suspendierung von der Ausübung richterlicher Tätigkeiten sein Privatleben in ganz erheblichem Maße. Die angefochtenen Maßnahmen stellten daher einen Eingriff in das Recht des Bf auf Achtung seines Privatlebens dar.

Zur Voruntersuchung betreffend das Vorabentscheidungsersuchen

(434) [...] Der stellvertretende Disziplinarbeauftragte leitete Vorermittlungen zu dem vom Bf am 4.9.2018 in einer Strafsache an den EuGH gerichteten Ersuchen um Vorabentscheidung ein, da er der Ansicht war, dass das Ersuchen unter Verstoß gegen Art 267 AEUV gestellt worden war [...]. Die Untersuchung wurde zu einem unbestimmten Zeitpunkt eingestellt, ohne dass der Bf darüber informiert wurde. Es wurde keine Disziplinaranzeige gegen ihn erstattet.

(435) Der GH stellt fest, dass die Vorermittlungen auf der Grundlage von § 114 Abs 1 Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit 2001 eingeleitet wurden. Er ist jedoch der Ansicht, dass sich die maßgebliche Frage nach der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme auf die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht bezieht. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Vorabentscheidungsersuchen des Bf [...] geprüft wurde. Der EuGH stellte fest, dass aus den Vorlagebeschlüssen kein Anknüpfungspunkt zwischen der Vorschrift des Unionsrechts, auf die sich die Vorabentscheidungsfragen bezogen, und den Rechtsstreitigkeiten in den Ausgangsverfahren ersichtlich sei, und erklärte beide Anträge für unzulässig. [...] Der EuGH stellte unter anderem fest, dass Bestimmungen des nationalen Rechts, die nationale Richter aufgrund der Tatsache, dass sie ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht haben, einem Disziplinarverfahren aussetzen, nicht zulässig sein können. Schon die bloße Aussicht, wegen der Vorlage eines solchen

Vorabentscheidungsersuchens disziplinarrechtlich belangt zu werden, sei geeignet, die wirksame Ausübung des den nationalen Richtern eingeräumten Ermessens zu beeinträchtigen. Der EuGH betonte, dass es für diese Richter auch eine für die richterliche Unabhängigkeit wesentliche Garantie darstelle, nicht disziplinarrechtlich belangt zu werden, weil sie ein solches Ermessen zur Anrufung des EuGH ausgeübt hätten, das ausschließlich in ihre Zuständigkeit falle [...].

(436) Der GH verweist auch auf wichtige Feststellungen des EuGH in seinem Urteil C-791/19 vom 15.7.2021 in der Rechtssache Kommission/Polen, in dem er unter anderem festgestellt hat, dass Polen gegen seine Verpflichtungen aus Art 267 Abs 2 und 3 AEUV verstoßen hat, indem zugelassen wurde, dass das Recht der Gerichte, Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird. Der EuGH verwies auf die Praxis des Disziplinarbeauftragten, Vorermittlungen zu Entscheidungen einzuleiten, mit denen polnische ordentliche Gerichte Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet hatten, insb auch im Fall des Bf. Er stellte fest, dass diese Praxis die Gefahr bestätige, dass die Disziplinarordnung dazu benutzt werde, [...] Druck und eine abschreckende Wirkung auf die Richter auszuüben. Dies sei geeignet, den Inhalt der gerichtlichen Entscheidungen, die diese Richter zu treffen hätten, zu beeinflussen. Der EuGH betonte, dass alle staatlichen

Behörden und insb der Disziplinarbeauftragte [...] die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Art 267 AEUV strikt einhalten müssen. Der EuGH stellte weiters fest, dass allein der Umstand, dass der Disziplinarbeauftragte die vorgenannten Vorermittlungen durchführt, geeignet ist, die Unabhängigkeit der Richter, die Gegenstand dieser Ermittlungen sind, zu beeinträchtigen [...]. Der GH misst diesen Feststellungen des EuGH erhebliches Gewicht bei.

(437) In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass es unerheblich war, dass der Disziplinarbeauftragte die Vorermittlungen im Fall des Bf eingestellt und keine Disziplinaranzeige gegen ihn erstattet hat. Ausschlaggebend war, dass gegen den Bf im Zusammenhang mit der Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH ermittelt wurde [...]. Nach Ansicht des GH ist die Auferlegung oder Androhung einer Disziplinarstrafe im Zusammenhang mit dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung als außergewöhnliche Maßnahme zu betrachten und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit restriktiv auszulegen [...].

(438) In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen kann sich der GH der Schlussfolgerung des EuGH nur anschließen, dass der Eingriff in Form von Vorermittlungen im Zusammenhang mit dem Vorabentscheidungsersuchen aus den oben genannten Gründen gegen Art 267 AEUV verstößt [...]. Diese Schlussfolgerung ist gleichbedeutend mit der Feststellung, dass § 114 Abs 1 Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit 2001 in der auf den Fall des Bf angewandten Form mit Art 267 AEUV unvereinbar war, während Art 91 Abs 2 der polnischen Verfassung vorsieht, dass ein völkerrechtlicher Vertrag, der [...] ratifiziert wurde, wie der AEUV, Vorrang vor nationalen Gesetzen hat, wenn ein solcher Vertrag mit deren Bestimmungen nicht in Einklang gebracht werden kann. Daraus folgt, dass der Eingriff in das Recht des Bf auf Achtung seines Privatlebens in diesem Teil nicht »gesetzlich vorgesehen« iSv Art 8 EMRK war.

Zum Beschluss der Disziplinarkammer vom 18.11.2020

Vereinbarkeit mit dem innerstaatlichen Recht und der Rechtsstaatlichkeit

(439) Der GH stellt fest [...], dass die Entscheidung über die Aufhebung der Immunität des Bf [...] und seine Suspendierung auf [...] dem Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit 2001 beruhten. Doch auch wenn der beanstandete Eingriff eine gesetzliche Grundlage hatte, stellt sich die Frage, ob er iSd EMRK rechtmäßig war, insb ob der einschlägige Rechtsrahmen in seiner Anwendung vorhersehbar und mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar war [...].

(440) Ein Richter kann [...] gemäß Art 181 der polnischen Verfassung nicht ohne vorherige Zustimmung eines Gerichts strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, während gemäß Art 180 Abs 2 der polnischen Verfassung die Suspendierung eines Richters von seinem Amt nur durch ein Gerichtsurteil erfolgen kann [...]. [...] Der GH hat bereits festgestellt, dass die Unregelmäßigkeiten im Ernennungsverfahren die Legitimität der Disziplinarkammer insofern beeinträchtigt haben, als es ihr nach einem inhärent mangelhaften Verfahren für die Ernennung von Richtern an den Eigenschaften eines »auf Gesetz beruhenden Gerichts« [iSd Art 6 Abs 1 EMRK] fehlte und weiterhin fehlt [...].

(441) Der GH weist ferner darauf hin, dass der EuGH in seinem Urteil [...] Kommission/Polen unter anderem festgestellt hat, dass Polen gegen seine Verpflichtungen aus Art 19 Abs 1 EUV verstoßen hat, indem es insb »die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs nicht gewährleistet« hat [...]. Darüber hinaus stellte der Oberste Gerichtshof [...] fest, dass die Disziplinarkammer »strukturell nicht die Kriterien eines unabhängigen Gerichts iSv Art 47 GRC und Art 45 Abs 1 der polnischen Verfassung sowie Art 6 Abs 1 EMRK erfüllt« [...].

(442) Der GH kommt zum Ergebnis, dass die Entscheidung, mit der die strafrechtliche Verfolgung des Bf zugelassen und seine Suspendierung verfügt wurde, von einer Stelle getroffen wurde, die nicht als »Gericht« iSd EMRK angesehen werden kann, obwohl Art 181 und 180 Abs 2 der polnischen Verfassung ausdrücklich vorschreiben, dass Entscheidungen dieser Art von einem Gericht ausgehen müssen [...].

(443) Der Eingriff ist daher nicht als rechtmäßig iSv Art 8 EMRK zu qualifizieren, da er nicht auf einem »Gesetz« beruht, das dem Bf angemessene Garantien gegen Willkür bot [...]. Diese Schlussfolgerung würde [...] bereits ausreichen, um festzustellen, dass der Eingriff in das Recht des Bf auf Achtung seines Privatlebens nicht »gesetzlich vorgesehen« iSv Art 8 EMRK war.

(444) Dennoch hält es der GH für angebracht, [...] weiter zu prüfen [...], ob die Anforderungen an die »Qualität des Rechts« erfüllt wurden.

Vereinbarkeit mit den Anforderungen an die »Qualität des Rechts«

(447) Nach Ansicht des GH ist die Auferlegung oder Androhung einer strafrechtlichen Haftung im Zusammenhang mit einer Handlung, die mit der Ausübung richterlicher Funktionen zusammenhängt, als eine äußerst außergewöhnliche Maßnahme anzusehen und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit restriktiv auszulegen [...]. [...]

(448) Im Hinblick auf das Vorstehende stellt der GH fest, dass die Disziplinarkammer in ihrem Beschluss vom 18.11.2020 eine von der mündlichen Begründung des Bf ausgehende tatsächliche Gefahr für das öffentliche Interesse, insb im Hinblick auf etwaige negative Auswirkungen auf die Durchführung der Ermittlungen im Anschluss an die Entscheidung des Bf vom 18.12.2017 [...], ausgeschlossen hat. Darüber hinaus hielt es die Disziplinarkammer für erforderlich, bei der Feststellung eines hinreichenden Verdachts auch das Ausmaß des sozialen Schadens zu prüfen, der durch die vom Bf angeblich begangene Handlung verursacht wurde. Diesbezüglich stellt der GH fest, dass gemäß Art 1 Abs 2 Strafgesetzbuch eine verbotene Handlung, deren sozialer Schaden unbedeutend war [...], keine Straftat darstellt [...]. Dennoch ging die Disziplinarkammer in ihrem Beschluss vom 18.11.2020 nicht auf diesen Punkt ein, ohne dies näher zu begründen, obwohl dieses Element nach polnischem Recht zu den Tatbestandsmerkmalen jeder Straftat gehört.

(449) [...] Zur Frage des Ausmaßes des sozialen Schadens stellte die Disziplinarkammer [in ihrer Entscheidung vom 22.4.2021] fest, dass dieser unstrittig unerheblich sei. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf das Fehlen von nachteiligen Auswirkungen der Entscheidung des Bf auf die zurückverwiesene Untersuchung sowie auf die Beweggründe für seine Entscheidung in einem Fall, der in der Öffentlichkeit große Kontroversen auslöste und die Frage der Transparenz des öffentlichen Lebens betraf [...]. Die Disziplinarkammer stellte ferner fest, dass [...] nicht angegeben wurde, welche konkreten Informationen der Bf weitergegeben habe, obwohl dies für die Feststellung seiner Verantwortlichkeit von entscheidender Bedeutung war. Sie betonte, dass jede Ermessensbeschränkung in Bezug auf den Umfang der mündlichen Begründung in einem Verfahren in öffentlicher Sitzung die Kontrollfunktion eines solchen Verfahrens beseitigen würde [...]. Wichtig ist, dass die Disziplinarkammer feststellte, dass es keinen Grund für

die Annahme gab, dass der Bf in der Absicht gehandelt hatte, die geschützten Informationen aus dem Vorverfahren weiterzugeben [...]. [...] In Anbetracht aller relevanten Umstände kann der GH keine Arglist in der Handlung der Bf erkennen.

(450) Der GH betont, dass der Fall des Bf im allgemeinen Kontext der Umstrukturierung der Justiz in Polen zu sehen ist. Er stellte bereits fest [...], dass die gesamte Abfolge der Ereignisse in Polen deutlich zeigt, dass die aufeinanderfolgenden Justizreformen darauf abzielten, die richterliche Unabhängigkeit zu schwächen, beginnend mit den schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei der Wahl der Richter des Verfassungsgerichts im Dezember 2015, dann insb die Umgestaltung des Obersten Gerichtshofs und die Einrichtung neuer Kammern bei diesem, während gleichzeitig die Kontrolle des Justizministers über die Gerichte ausgeweitet und seine Rolle in Fragen der richterlichen Disziplin gestärkt wurden [...]. Die Justiz [...] – ein autonomer Zweig der Staatsgewalt – wurde durch die aufeinanderfolgenden Reformen der Einmischung durch die Exekutive und die Legislative ausgesetzt und dadurch erheblich geschwächt [...].

(451) [...] Der GH bekräftigt das Erfordernis, dem Schutz der Mitglieder der Justiz vor Maßnahmen, die ihre richterliche Unabhängigkeit und Autonomie bedrohen können, besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dies aufgrund der herausragenden Stellung, die die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft unter den staatlichen Organen einnimmt und der Gewaltenteilung sowie der Notwendigkeit, die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren [...]. [...]

(452) [...] Beim Bf handelt es sich um einen der schärfsten Kritiker der Justizreform in Polen. [Die Aussagen des] Bf wurden einer intensiven Prüfung unterzogen, denn es kam zur Einleitung von fünf [disziplinarrechtlichen] Vorermittlungen [...]. Darüber hinaus leitete die Staatsanwaltschaft im Jänner 2018 Ermittlungen wegen der angeblichen unbefugten Weitergabe von Informationen durch den Bf ein. Im Rahmen dieser Ermittlungen beantragte der Staatsanwalt die Aufhebung der Immunität des Bf, um eine Strafverfolgung zu ermöglichen. [...]

(453) In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und der erheblichen Diskrepanzen zwischen den Feststellungen der Disziplinarkammer und der Kammer für dienstrechtliche Verantwortung in Bezug auf das Vorliegen eines hinreichenden Verdachts kommt der GH zu dem Ergebnis, dass die Auslegung von Art 241 Abs 1 Strafgesetzbuch durch die Disziplinarkammer in ihrer Entscheidung vom 18.11.2020 nicht vorhersehbar war. So konnte der Bf nicht vorhersehen, dass die mündliche Begründung seiner Entscheidung vom 18.12.2017 zur Aufhebung seiner Immunität von der Strafverfolgung und zu seiner Suspendierung führen würde. Der GH stellt daher fest, dass die Voraussetzung der Vorhersehbarkeit nicht erfüllt und der fragliche Eingriff folglich nicht »gesetzlich vorgesehen« war.

(454) Damit [...] war der Eingriff nicht rechtmäßig, weshalb vom GH nicht zu prüfen ist, ob ein [...] legitimes Ziel verfolgt wurde und ob die Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft vorlag.

(455) Es liegt somit [...] eine Verletzung von Art 8 EMRK vor (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).

Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK

(456) [...] Der GH beschloss von Amts wegen, der Regierung die [erste] Beschwerde auch unter Art 10 EMRK zur Stellungnahme zu übermitteln. In seiner zweiten Beschwerde (51751/20) machte der Bf unter Berufung auf Art 10 EMRK geltend, dass die Entscheidung der Disziplinarkammer vom 18.11.2020, mit der seine Immunität aufgehoben und er von seinen richterlichen Aufgaben suspendiert wurde, einen Verstoß gegen diese Bestimmung darstelle. [...]

Zulässigkeit

(460) Der GH stellt fest, dass das Vorbringen nach Art 10 EMRK weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK angeführten Grund unzulässig ist. Es ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

(515) [...] In Fällen, in denen es um Disziplinarverfahren gegen Richter oder deren Absetzung oder Ernennung ging, hatte der GH zunächst zu prüfen, ob die beanstandete Maßnahme einen Eingriff in die Ausübung der Meinungsfreiheit des Bf darstellte [...] oder ob sie lediglich die Ausübung des Rechts auf ein öffentliches Amt in der Rechtspflege betraf – ein Recht, das von der EMRK nicht gewährleistet ist. Um diese Frage zu beantworten, muss die Tragweite der Maßnahme bestimmt werden, indem sie in den Kontext des Sachverhalts und der einschlägigen Rechtsvorschriften gestellt wird [...].

(519) Zu den Maßnahmen, die in seinem Fall einen Eingriff begründeten, verwies der Bf auf die verschiedenen [...] Vorermittlungen und auf den Beschluss der Disziplinarkammer vom 18.11.2020, mit dem seine Immunität aufgehoben und er [...] suspendiert wurde. Was die Vorermittlungen betrifft, erachtet der GH drei von ihnen als relevant für seine Prüfung unter Art 10 EMRK, nämlich jene, die sich auf das Interview des Bf durch den Fernsehsender TVN24 am 17.7.2018 bezogen, sowie die beiden Ermittlungen betreffend die Teilnahme des Bf an öffentlichen Versammlungen in Danzig und Lublin am 28. bzw 30.9.2018.

(520) Der GH stellt fest, dass sich der Bf in seiner Eigenschaft als Richter und Mitglied der polnischen Richtervereinigung Iustitia bei zahlreichen Gelegenheiten öffentlich zu den Gesetzesreformen im Zusammenhang mit dem Justizsystem und den Auswirkungen dieser Reformen auf das Funktionieren der Gerichte geäußert [...] hat. Er kritisierte verschiedene Aspekte der Reform als unvereinbar mit der Verfassung, dem EU-Recht und der EMRK und wies auf die sich daraus ergebenden Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit und die richterliche Unabhängigkeit hin [...].

(521) Der Bf behauptete, dass die Maßnahmen, die gegen ihn als Reaktion auf seine kritischen Äußerungen betreffend die Umstrukturierung des Justizwesens durch die Regierung ergriffen wurden [...], einem Eingriff in seine Meinungsfreiheit gleichkamen. [...]

(523) Zu den angefochtenen Vorermittlungen, die der Disziplinarbeauftragte eingeleitet hat [...], stellt der GH fest, dass sie die öffentlichen Äußerungen des Bf in einer Fernsehsendung bzw im Rahmen von zwei öffentlichen Versammlungen betrafen. Es ist daher offensichtlich, dass diese Maßnahmen in erster Linie auf die Ausübung des Rechts des Bf auf freie Meinungsäußerung zurückzuführen sind.

(528) [...] Der GH ist der Ansicht, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Ausübung des Rechts des Bf auf freie Meinungsäußerung und der Entscheidung der Disziplinarkammer, seine Immunität aufzuheben und ihn von seinen richterlichen Aufgaben zu suspendieren, glaubhaft gemacht wurde.

(531) Der GH kommt zum Ergebnis, dass die angefochtenen Maßnahmen einen Eingriff in die Ausübung des durch Art 10 EMRK garantierten Rechts des Bf auf freie Meinungsäußerung darstellten [...]. Es bleibt daher zu prüfen, ob der Eingriff gemäß Art 10 Abs 2 EMRK gerechtfertigt war.

(534) [...] Der stellvertretende Disziplinarbeauftragte leitete diese Ermittlungen im Juli/August und im Oktober 2018 ein, und der Bf wurde jeweils aufgefordert, eine schriftliche Erklärung zum Gegenstand der Ermittlungen abzugeben. Diese Ermittlungen wurden zu nicht näher bezeichneten Zeitpunkten beendet, ohne dass der Bf darüber informiert wurde. Es wurde keine Disziplinaranzeige gegen ihn erstattet. Die Regierung brachte in ihrer Stellungnahme vor, dass diese Ermittlungen wegen des Verhaltens des Bf eingeleitet worden seien, das angeblich die Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit missachtet habe. Sie machte jedoch keine konkreten Angaben dazu. Der Bf wurde lediglich über die Einleitung der Ermittlungen und die an ihn gerichtete Vorladung informiert.

(535) Wie oben festgestellt, beruhte die Einleitung der Vorermittlungen auf § 114 Abs 1 Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit 2001. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das innerstaatliche Recht dem Bf angemessene Sicherungen gegen willkürliche Eingriffe der Behörden in die Ausübung seiner Meinungsäußerungsfreiheit gewährten, um die Einhaltung der Anforderungen der »Qualität des Rechts« sicherzustellen.

(536) [...] Der GH stellt fest, dass dem Bf im Verfahren [betreffend die Vorermittlungen, ob ein Disziplinarvergehen begangen wurde] ein Mindestmaß an Verfahrensgarantien hätte gewährt werden müssen, insb das Recht, über die Einstellung der Ermittlungen informiert zu werden. Fehlen solche Mindestgarantien, kann eine Voruntersuchung vom Disziplinarbeauftragten missbräuchlich eingesetzt werden und eine Form des Drucks auf den betroffenen Richter hinsichtlich der Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung darstellen. Eine solche Situation ist geeignet, eine abschreckende Wirkung auf die Ausübung dieser Freiheit zu entfalten.

(537) Damit [...] war der Eingriff in die Meinungsfreiheit des Bf in diesem Teil nicht »gesetzlich vorgesehen« iSv Art 10 EMRK.

(538) Auch der Beschluss der Disziplinarkammer vom 18.11.2020, mit dem die Immunität des Bf aufgehoben und er von seinen richterlichen Aufgaben suspendiert wurde, stellt einen Eingriff in die Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung dar [...].

(539) [...] Auch hier sind dieselben Gründe [wie oben bei den Ausführungen zu Art 8 EMRK erläutert] für das Vorbringen des Bf nach Art 10 EMRK relevant.

(540) Der GH ist zudem der Auffassung, dass die zur Verhinderung einer willkürlichen Anwendung des einschlägigen materiellen Rechts erforderlichen Verfahrensgarantien nicht geschaffen wurden. Die Entscheidung [...] über die Aufhebung der Immunität des Bf und seine Suspendierung wurde von der Disziplinarkammer getroffen, die den Anforderungen an ein »unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht« nicht genügte [...].

(541) Der beanstandete Eingriff kann daher nicht als rechtmäßig iSv Art 10 EMRK angesehen werden, da er nicht auf einem »Gesetz« beruhte, das dem Bf angemessene Garantien gegen Willkür bot. Daraus folgt, dass der Eingriff in die Meinungsfreiheit des Bf nicht »gesetzlich vorgesehen« iSv Art 10 EMRK war.

(542) Da der Eingriff im vorliegenden Fall nicht rechtmäßig war, braucht der GH nicht prüfen, ob er eines der in Art 10 Abs 2 EMRK genannten legitimen Ziele verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Der GH hält es aber dennoch für wichtig, auch zu prüfen, ob der angefochtene Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte.

(544) Der GH stellt fest, dass der Bf einer der symbolträchtigsten Vertreter der polnischen Justiz ist, der sich stets für die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz eingesetzt hat. Er stellt fest, dass der Bf seine Ansichten und seine Kritik an den Gesetzesreformen, die sich auf das Justizsystem auswirken, [...] geäußert hat, und ist der Ansicht, dass seine Äußerungen nicht über bloße Kritik aus rein beruflicher Sicht hinausgingen. Der GH stellt ferner fest, dass sich der Bf auf den kürzlich in seiner Rsp aufgestellten Grundsatz berufen hat, wonach das allgemeine Recht der Richter auf freie Meinungsäußerung, sich zu Fragen des Funktionierens der Justiz zu äußern, in eine entsprechende Pflicht umgewandelt werden kann, sich zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und der richterlichen Unabhängigkeit zu äußern, wenn diese Grundwerte bedroht sind [...]. In Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falls scheint es, dass die von den Behörden ergriffenen Maßnahmen als eine Strategie charakterisiert werden könnten, die darauf abzielte, den Bf im Zusammenhang mit den Ansichten, die er zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und der richterlichen Unabhängigkeit geäußert hatte, einzuschüchtern (oder sogar zum Schweigen zu bringen). Der GH ist der Auffassung, dass die angefochtenen Maßnahmen zweifellos eine »abschreckende Wirkung« hatten, da sie nicht nur den Bf, sondern auch andere Richter davon abgehalten haben müssen, sich an der öffentlichen Debatte über Gesetzesreformen, die die Justiz betreffen, und im Allgemeinen über Fragen zur Unabhängigkeit der Justiz, zu beteiligen [...].

(545) Der GH weist darauf hin, dass der Beschluss der Disziplinarkammer vom 18.11.2020, der eines der konstitutiven Elemente des Eingriffs in das Recht des Bf auf freie Meinungsäußerung darstellt, die Immunität des Bf von der Strafverfolgung aufhob und ihn im Zusammenhang mit einer Handlung suspendierte, die untrennbar mit der Ausübung richterlicher Pflichten verbunden war [...]. In diesem Zusammenhang weist der GH erneut darauf hin, wie wichtig es ist, die Mitglieder der Justiz vor Maßnahmen zu schützen, die ihre richterliche Unabhängigkeit und Autonomie bedrohen könnten, da die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft eine herausragende Stellung unter den staatlichen Organen einnimmt [...]. In Anbetracht des allgemeinen und besonderen Kontextes des Falls des Bf kann der GH nicht akzeptieren, dass der beanstandete Eingriff eines der legitimen Ziele iSv Art 10 Abs 2 EMRK verfolgte, auf die sich die Regierung beruft.

(546) Es liegt somit eine Verletzung von Art 10 EMRK vor, da der fragliche Eingriff nicht »gesetzlich vorgesehen« war und keines der im Sinne dieser Bestimmung zulässigen legitimen Ziele verfolgte (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 13 EMRK

(551) In Anbetracht seiner obigen Feststellungen zum Vorbringen nach Art 8 EMRK [...] hält es der GH nicht für erforderlich, die Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde des Bf nach Art 13 EMRK gesondert zu prüfen (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 30.000,– für immateriellen Schaden; € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Engel ua/NL, 8.6.1976, 5100/71 ua = EuGRZ 1976, 221

Guja/MD, 12.2.2008, 14277/04 (GK) = NL 2008, 28

Gillberg/SE, 3.4.2012, 41723/06 (GK) = NLMR 2012, 100

Harabin/SK, 20.11.2012, 58688/11

Oleksandr Volkov/UA, 9.1.2013, 21722/11 = NLMR 2013, 11

Denisov/UA, 25.9.2018, 76639/11 (GK) = NLMR 2018, 446

Ramos Nunes de Carvalho e Sá/PT, 6.11.2018, 55391/13, 57728/13, 74041/13 (GK) = NLMR 2018, 504

Guðmundur Andri Ástráðsson/IS, 1.12.2020, 26374/18 (GK) = NLMR 2020, 468

Gestur Jónsson und Ragnar Halldór Hall/IS, 22.12.2020, 68273/14, 68271/14 (GK) = NLMR 2020, 479

Reczkowicz/PL, 22.7.2021, 43447/19 = NLMR 2021, 322

Grzęda/PL, 15.3.2022, 43572/18 (GK) = NLMR 2022, 109

Żurek/PL, 16.6.2022, 39650/18

Juszczyszyn/PL, 6.10.2022, 35599/20

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 6.7.2023, Bsw. 21181/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 339) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise