JudikaturAUSL EGMR

Bsw32467/22 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
04. Juli 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Marcel Mittendorfer gg Österreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 4.7.2023, Bsw. 32467/22.

Spruch

Art 8, 9, 34 EMRK - Fehlende Betroffenheit durch gesetzliche Covid-19-Impfpflicht mangels tatsächlicher Anwendbarkeit.

Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 5.2.2022 trat das COVID-19-Impfpflichtgesetz in Kraft. (Anm: Bundesgesetz über die Pflicht zur Impfung gegen COVID-19 [COVID-19-Impfpflichtgesetz – COVID-19-IG9, BGBl I 4/2022.) Nach seinem § 1 waren »Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet und im Bundesgebiet einen Wohnsitz [...] haben, nach Maßgabe dieses Bundesgesetzes verpflichtet, sich einer Schutzimpfung gegen Covid-19 zu unterziehen«. Die Impfpflicht galt nach § 4 Abs 1 und Abs 2 als erfüllt, wenn sich eine Person nach dem 15.3.2022 zumindest einer Erstimpfung und den gegebenenfalls erforderlichen weiteren Impfungen unterzogen hatte. Eine Durchsetzung der Impfpflicht durch Ausübung unmittelbaren Zwangs war ausdrücklich ausgeschlossen. Ein Verstoß gegen die Impfpflicht konnte jedoch als Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von bis zu € 3.600,– geahndet werden. Das Gesetz sah ein begleitendes Monitoring der epidemiologischen Situation vor und verpflichtete den Gesundheitsminister, die Nichtanwendung einzelner Bestimmungen anzuordnen, wenn die vorgesehenen Maßnahmen nicht länger als notwendig oder verhältnismäßig anzusehen waren.

Der Bf, der eine Impfung gegen Covid-19 ablehnt, stellte am 7.2.2022 beim VfGH einen Individualantrag auf Normenkontrolle, mit dem er die Aufhebung von § 10 Covid-19-IG und in eventu des gesamten Gesetzes als verfassungswidrig begehrte.

Am 11.3.2022 ordnete der Gesundheitsminister an, die §§ 1, 4 und 10 Covid-19-IG vorübergehend nicht anzuwenden. (Anm: VO betreffend die vorübergehende Nichtanwendung des COVID 19-Impfpflichtgesetzes und der COVID-19-Impfpflichtverordnung, BGBl II 103/2022.) Diese zunächst bis 31.5. geltende Nichtanwendung wurde später bis 31.8.2022 verlängert.

Der Individualantrag des Bf wurde am 29.4.2022 als unzulässig zurückgewiesen. (Anm: VfGH 29.4.2022, G 33/2022.) Der VfGH erachtete die Anfechtung von § 10 Covid-19-IG als zu eng, weil damit jene Norm, in der die Impfpflicht vorgesehen war, nicht angefochten wurde, und die Anfechtung des gesamten Gesetzes als unzulässig, weil die Bedenken nicht den einzelnen Bestimmungen zugeordnet wurden.

Aufgrund eines von einer anderen Person erhobenen Individualantrags erklärte der VfGH mit Erkenntnis vom 23.6.2022 das Covid-19-IG für verfassungskonform. (Anm: VfGH 23.6.2022, G 37/2022, V 173/2022, NLMR 2022, 302.).

Mit 29.7.2022 wurde das Covid-19-IG zur Gänze außer Kraft gesetzt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und Art 9 EMRK (hier: Gewissensfreiheit) durch die Impfpflicht sowie von Art 6 Abs 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) durch die Zurückweisung seines Individualantrags durch den VfGH.

Zu den Beschwerdevorbringen unter Art 8 und Art 9 EMRK

(25) Der Bf brachte vor, das Bestehen von Rechtsvorschriften ab dem 5.2.2022, die eine Impfpflicht und die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung im Fall einer Nichteinhaltung ab dem 15.3.2022 vorsahen, hätten einen Eingriff in seine durch Art 8 und Art 9 EMRK garantierten Rechte dargestellt.

(26) Die relevanten Bestimmungen des Covid-19-IG, nämlich die §§ 1 und 10, standen vom 5.2. bis 11.3.2022 in Kraft. Als der Bf am 28.6.2022 seine Beschwerde an den GH erhob, war die Anwendung dieser Bestimmungen bereits ausgesetzt und sie wurden später ganz aufgehoben. Der GH muss daher prüfen, ob der Bf behaupten kann, iSv Art 34 EMRK »Opfer einer Verletzung« zu sein.

Allgemeine Grundsätze zur Opfereigenschaft

(27) [...] Um eine Beschwerde erheben zu können, muss eine Person gemäß Art 34 EMRK in der Lage sein nachzuweisen, dass sie von der angefochtenen Maßnahme »unmittelbar betroffen« war. [...] Die Konvention sieht keine actio popularis vor und die Aufgabe des GH besteht in der Regel nicht darin, das einschlägige Recht und die einschlägige Praxis abstrakt zu überprüfen, sondern festzustellen, ob die Art und Weise, in der sie auf den Bf angewandt wurden oder ihn betroffen haben, zu einer Verletzung der Konvention geführt hat. [...]

(28) Eine Person kann jedoch auch ohne eine individuelle Durchführungsmaßnahme behaupten, dass ein Gesetz ihre Rechte verletzt, wenn sie entweder ihr Verhalten ändern muss oder risikiert, strafrechtlich verfolgt zu werden [...]. [...]

Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

(30) [...] Das angefochtene Gesetz wurde nie im Wege einer individuellen Maßnahme gegen den Bf oder gegen irgendeine andere Person in Österreich durchgesetzt. Denn die Bestimmungen des Covid-19-IG über die Nichterfüllung der Impfpflicht waren erst ab 15.3.2022 anwendbar und die Anwendung des Gesetzes wurde bereits am 12.3.2022 ausgesetzt. Später wurde das angefochtene Gesetz zur Gänze aufgehoben. Daher ist zu prüfen, ob der Bf durch dieses Gesetz »unmittelbar betroffen« im Sinne der Rsp des GH war.

(31) Wie der GH zunächst feststellt, hat der Bf in keiner Weise dargelegt, wie ihn das Covid-19-IG persönlich betroffen hat, obwohl es Sache des Bf ist, vernünftige und überzeugende Beweise über seinen Opferstatus vorzulegen. Er erklärte zwar ausführlich die Gründe, warum er nicht geimpft werden will [...], aber nicht, welche Auswirkungen das Covid-19-IG auf ihn hatte [...].

(32) [...] Als der Bf am 28.6.2022 seine Beschwerde an den GH erhob, waren die Bestimmungen, auf die sich sein Vorbringen im Kern bezieht – nämlich die §§ 1, 4 und 10 Covid-19-IG – bereits ausgesetzt, wenn auch nur vorübergehend. Wenige Wochen nach Erhebung seiner Beschwerde und vor dem Zeitpunkt, an dem die Rechtssache vom GH behandelt wurde, erfolgte die Aufhebung des gesamten Gesetzes einschließlich dieser Bestimmungen. Daher war der Bf [...] weder zum Zeitpunkt der Erhebung seiner Beschwerde einer Gefahr ausgesetzt, vom Covid-19-IG betroffen zu sein [...], noch wird ihm in Zukunft ein solches Risiko drohen [...].

Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(33) [...] Der Bf hat auch nicht dargelegt, wie ihn die Impfpflicht zu einem früheren Zeitpunkt vor Erhebung seiner Beschwerde unmittelbar betroffen hat, insb vor der Aussetzung des Covid-19-IG am 12.3.2022. Soweit solche substantiierten Behauptungen jedoch für seinen Fall relevant gewesen wären, hätte er sie zunächst [...] im Wege eines Individualantrags [...] dem VfGH vorlegen müssen [...]. Der von ihm gestellte Individualantrag wurde allerdings vom VfGH wegen Nichterfüllung der formalen Voraussetzungen für unzulässig erklärt. Daher stellt der GH fest, dass der Bf die in seinem Fall verfügbaren innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht ordnungsgemäß ausgeschöpft hat.

Schlussfolgerung

(34) Aus diesen Gründen kommt der GH zu dem Schluss, dass der Bf weder als »Opfer einer Verletzung« iSv Art 34 EMRK angesehen werden kann noch die innerstaatlichen Rechtsbehelfe [...] ausgeschöpft hat. Folglich muss seine Beschwerde [...] für unzulässig erklärt werden, weil sie ratione personae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ist und weil die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft wurden (einstimmig).

Zum Beschwerdevorbringen unter Art 6 EMRK

(35) Selbst unter der Annahme, dass eine echte und ernsthafte Streitigkeit über einen »zivilrechtlichen« Anspruch vorlag [...], erachtet der GH die Entscheidung des VfGH [...] nicht als willkürlich oder übertrieben formalistisch [...].

(38) Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und somit [...] [als unzulässig] zurückzuweisen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Vavřička ua/CZ, 8.4.2021, 47621/13 (GK) = NLMR 2021, 156

Zambrano/FR, 21.9.2021, 41994/21 (ZE) = NLMR 2021, 454

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 4.7.2023, Bsw. 32467/22, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 456) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.