JudikaturAUSL EGMR

Bsw11519/20 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
KI-Recht
04. Juli 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Glukhin gg Russland, Urteil vom 4.7.2023, Bsw. 11519/20.

Spruch

Art 8, 10 EMRK - Identifikation eines Demonstranten mittels Gesichtserkennungstechnologie.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Verletzung von Art 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 9.800,– für immateriellen Schaden; € 6.400,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf fuhr am 23.8.2019 mit einer lebensgroßen Pappfigur des politischen Aktivisten Konstantin Kotov in der Moskauer U-Bahn und hielt ein Transparent mit der Aufschrift: »Verarschst du mich? [wörtlich: You must be f**king kidding me.] Ich bin Konstantin Kotov. Mir drohen bis zu fünf Jahre [Gefängnis] nach [Artikel] 212.1 [russisches Strafgesetzbuch] für friedliche Proteste.« Einige Tage zuvor war Herr Kotov verhaftet und wegen wiederholten Verstoßes gegen die Vorschriften über »öffentliche Veranstaltungen« angeklagt worden. Dies erregte in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit.

Von einer Anti-Extremismus-Einheit der Polizei wurden Screenshots eines öffentlichen Telegram-Kanals angefertigt, auf dem Fotos und ein Video des Bf mit der Pappfigur zu sehen waren. Auch der Text auf dem Transparent war deutlich zu lesen. Videoaufzeichnungen von Überwachungskameras in den U-Bahn-Stationen wurden von der Anti-Extremismus-Einheit ausgewertet und schließlich konnte der Bf identifiziert werden. Am 30.8.2019 wurde der Bf festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, er habe in der U-Bahn-Station und in der U-Bahn mit einem »schnell (de)montierten Gegenstand« eine Solodemonstration abgehalten. Dafür wäre eine vorherige Anmeldung bei den örtlichen Behörden notwendig gewesen. Das Gericht verurteilte den Bf – gestützt auf die Screenshots des Telegram-Kanals und die Screenshots der Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras in der U-Bahn – wegen der Abhaltung der Solodemonstration zu einer Geldstrafe iHv etwa € 283,–. Der Bf rügte im Rechtsschutzverfahren insb, dass die zur Identifizierung seiner Person durchgeführten operativen Fahndungsmaßnahmen rechtswidrig gewesen seien, weil das Gesetz über operative Fahndungsmaßnahmen die Durchführung solcher Maßnahmen zur Ermittlung von Verwaltungsübertretungen nicht zulasse und folglich diese Beweise rechtswidrig seien. Es sei der Grundsatz der Unparteilichkeit verletzt worden und die Verurteilung wegen einer friedlichen Solodemonstration habe sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt. Die Verurteilung des Bf wurde im Rechtsschutzverfahren mit der Begründung bestätigt, diese sei wegen Nichtvorlage einer vorherigen Demonstrationsanmeldung rechtmäßig gewesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 6 (Recht auf ein faires Verfahren), Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und Art 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung).

Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK

(47) Der GH prüft das Vorbringen gemäß Art 10 EMRK unter Berücksichtigung der allgemeinen Grundsätze, die iZm Art 11 EMRK aufgestellt wurden [...].

Zulässigkeit

(48) [...] Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(49) Der Bf machte geltend, dass seine Verurteilung wegen Nichtanmeldung seiner Solodemonstration rechtswidrig gewesen sei. Die Figur von Herrn Kotov sei aus einem Stück Pappe zusammengesetzt gewesen und könne daher nicht als »schnell (de)montierter Gegenstand« angesehen werden; er sei nicht verpflichtet gewesen, seine Solodemonstration [...] anzumelden. Auf jeden Fall erfüllten die geltenden Rechtsvorschriften nicht das »Qualitätserfordernis des Rechts«.

(51) Der GH weist darauf hin, dass der Schutz von Art 10 EMRK nicht auf das gesprochene oder geschriebene Wort beschränkt ist, da Ideen und Meinungen auch durch nonverbale Ausdrucksmittel oder durch das Verhalten einer Person mitgeteilt werden können [...]. In Anbetracht der Art und des Kontexts des Verhaltens des Bf ist der GH der Auffassung, dass er versucht hat, durch seine Handlungen seine Meinung zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse zu äußern, in Bezug auf welche es nur wenig Spielraum für Beschränkungen nach Art 10 Abs 2 EMRK gibt.

(52) Die Begleitung des Bf zur Polizeiwache, die administrative Festnahme und die Verurteilung wegen einer Ordnungswidrigkeit stellten einen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung dar [...].

(54) Was das Merkmal »gesetzlich vorgesehen« betrifft, enthält die Bestimmung über »schnell (de)montierte Gegenstände« keine Kriterien, die es einer Person ermöglichen, vorauszusehen, welche Art von Gegenständen unter diese Bestimmung fallen könnte. In Anbetracht der Art der Solodemonstration des Bf und in Ermangelung weiterer Klarstellungen zum Anwendungsbereich und zur Art der Anwendung der einschlägigen Bestimmungen durch höhere russische Gerichte oder einer detaillierten Analyse durch die innerstaatlichen Gerichte im konkreten Fall des Bf stellt der GH fest, dass es Zweifel daran gibt, dass die Art der Anwendung der angefochtenen Rechtsvorschriften hinreichend vorhersehbar war, um das Qualitätserfordernis im vorliegenden Fall zu erfüllen [...].

(55) Doch selbst unter der Annahme, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und die legitimen Ziele der »Aufrechterhaltung der Ordnung« und des »Schutzes der Rechte anderer« verfolgte, war er aus dem folgenden Grund nicht »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig«.

(56) Die Solodemonstration des Bf ist unbestreitbar friedlich und ohne Störung verlaufen. Die Straftat, wegen der er verurteilt wurde, bestand lediglich darin, dass er es verabsäumt hatte, seine Solodemonstration bei den Behörden anzumelden. Sie enthielt kein weiteres belastendes Element in Bezug auf verwerfliche Handlungen wie Verkehrsbehinderung, Sachbeschädigung oder Gewalttätigkeit [...]. Es wurde nicht nachgewiesen, dass die Handlungen des Bf das gewöhnliche Leben und andere Aktivitäten in einem Ausmaß gestört haben, das über jenes hinausgeht, das unter den gegebenen Umständen normal oder unvermeidlich war. Es wurde auch nicht behauptet, dass seine Handlungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die Verkehrssicherheit dargestellt hätten. Die Behörden zeigten jedoch nicht das erforderliche Maß an Toleranz gegenüber der friedlichen Solodemonstration des Bf. Sie berücksichtigten die oben genannten relevanten Elemente nicht und bewerteten nicht, ob die Verwendung einer Pappfigur, die ein

Transparent hielt, eine Meinungsäußerung des Bf darstellte. Die einzige relevante Überlegung war die Notwendigkeit, rechtswidriges Verhalten zu bestrafen. Dies ist in diesem Kontext nicht ausreichend iSv Art 10 EMRK, da keine erschwerenden Umstände vorlagen [...]. Somit haben es die Gerichte verabsäumt, »relevante oder ausreichende Gründe« anzuführen, um den Eingriff in das Recht des Bf auf freie Meinungsäußerung zu rechtfertigen.

(57) Es liegt folglich eine Verletzung von Art 10 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

Zulässigkeit

(59) [...] Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Vorliegen eines Eingriffs

Allgemeine Grundsätze

(64) [...] Der GH stellt fest, dass es selbst in einem öffentlichen Kontext einen Bereich der Interaktion einer Person mit anderen gibt, der in den Bereich des »Privatlebens« fallen kann [...]. [...]

(65) Die bloße Datenspeicherung, die das Privatleben einer Person betrifft, stellt einen Eingriff iSv Art 8 EMRK dar. [...] Bei der Feststellung, ob die von den Behörden gespeicherten personenbezogenen Daten einen [...] Aspekt des Privatlebens betreffen, wird der GH den spezifischen Kontext, in dem die fraglichen Informationen aufgezeichnet und gespeichert wurden, die Art der Aufzeichnungen, die Art und Weise, in der diese Aufzeichnungen verwendet und verarbeitet wurden, und die möglicherweise erzielten Ergebnisse gebührend berücksichtigen [...].

(66) Da es Anlässe gibt, bei denen sich Menschen wissentlich oder absichtlich an Aktivitäten beteiligen, die in der Öffentlichkeit aufgezeichnet oder wiedergegeben werden bzw werden können, können die vernünftigen Erwartungen einer Person in Bezug auf die Privatsphäre ein wichtiger, wenn auch nicht notwendigerweise entscheidender Faktor bei dieser Beurteilung sein. [...] Sobald eine systematische oder dauerhafte Aufzeichnung personenbezogener Daten, insb von Bildern einer identifizierten Person, erfolgt, können Überlegungen zum Privatleben aufkommen. Das Bild einer Person stellt eines der wichtigsten Attribute ihrer Persönlichkeit dar, da es die einzigartigen Merkmale der Person offenbart und sie von anderen Personen unterscheidet. Das Recht jeder Person auf den Schutz ihres Bildes ist daher ein wesentlicher Bestandteil der persönlichen Entwicklung und setzt das Recht voraus, die Verwendung dieses Bildes zu kontrollieren. Während das Recht auf Kontrolle einer solchen Verwendung in den meisten Fällen die Möglichkeit beinhaltet, die Veröffentlichung ihres Bildes abzulehnen, umfasst es auch das Recht der Person, der Aufnahme, Aufbewahrung und Reproduktion des Bildes durch eine andere Person zu widersprechen [...].

(67) Der GH hat bereits festgestellt, dass die Erhebung und Speicherung von Daten über bestimmte Personen durch die Behörden zu einem Eingriff in das Privatleben dieser Personen führen, selbst wenn diese Daten ausschließlich die öffentlichen Aktivitäten der Person betreffen [...], wie etwa die Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen [...]. [...]

Anwendung auf den vorliegenden Fall

(68) Im vorliegenden Fall entdeckte die Polizei bei einer routinemäßigen Überwachung des Internets Fotos und ein Video des Bf bei einer Solodemonstration, die in einem öffentlichen Telegram-Kanal veröffentlicht wurden. Die Beamten fertigten Screenshots des Telegram-Kanals an, speicherten sie und wandten angeblich Gesichtserkennungstechnologie an, um den Bf zu identifizieren. Nachdem die Polizei den Ort auf dem Video als eine der Stationen der Moskauer U-Bahn erkannt hatte, sammelte sie auch Videoaufzeichnungen von Überwachungskameras, die an dieser Station sowie an zwei anderen Stationen, die der Bf passiert hatte, installiert waren. [Die Polizei] fertigte von diesen Videoaufzeichnungen Screenshots an und speicherte sie. Auch sollen die in der Moskauer U-Bahn installierten Live-Gesichtserkennungskameras benutzt worden sein, um den Bf einige Tage später ausfindig zu machen, zu verhaften und ihn wegen einer Verwaltungsübertretung zu bestrafen. Die Screenshots des Telegram-Kanals und der Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras wurden später als Beweismittel im Verwaltungsstrafverfahren gegen den Bf verwendet [...].

(69) [...] Der GH erkennt, dass der Bf Schwierigkeiten hatte, seine Behauptungen zu beweisen. Die Polizei ist [...] nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht verpflichtet, Aufzeichnungen über den Einsatz der Gesichtserkennungstechnologie zu erstellen oder betroffenen Personen Zugang zu solchen Aufzeichnungen zu gewähren, weder automatisch noch auf Antrag [...].

(70) Zur Identifikation des Bf anhand der Fotos und des auf dem Telegram-Kanal veröffentlichten Videos stellt der GH fest, dass die fraglichen Fotos und das Video zwar keine Informationen enthielten, die eine Identifikation des Bf ermöglicht hätten, er aber innerhalb von weniger als zwei Tagen identifiziert wurde. Im Polizeibericht [...] wurde nicht erläutert, welche operativen Fahndungsmaßnahmen zu seiner Identifikation ergriffen worden waren. Der Versuch des Bf, die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen aufzuzeigen, scheiterte, da die Gerichte seine Beschwerden allesamt zurückwiesen [...]. Unter diesen Umständen [...] konnte der Bf annehmen, dass in seinem Fall Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt worden war. [...] In zahlreichen Fällen [...] wurde Gesichtserkennungstechnologie zur Identifikation von an Protestveranstaltungen teilnehmenden Personen in Russland eingesetzt [...].

(72) Vor dem Hintergrund, [...] dass das innerstaatliche Recht keine amtliche Aufzeichnung oder Mitteilung über den Einsatz der Gesichtserkennungstechnologie vorsah, es keine andere Erklärung für die Identifikation des Bf gab und die Regierung den Einsatz der Live-Gesichtserkennungstechnologie stillschweigend anerkannte, nimmt der GH [...] an, dass die Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt wurde. [...]

(73) Der GH kommt zum Ergebnis, dass die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Bf im Rahmen des gegen ihn eingeleiteten Verwaltungsstrafverfahrens, einschließlich des Einsatzes der Gesichtserkennungstechnologie [...], einen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens iSd Art 8 Abs 1 EMRK darstellte.

Rechtfertigung des Eingriffs

(78) Der GH ist der Auffassung, dass im gegenständlichen Fall die Fragen der Rechtmäßigkeit und des Vorliegens eines legitimen Ziels nicht von der Frage getrennt werden können, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war [...]. [Die Fragen] werden daher im Folgenden gemeinsam geprüft.

(79) Nach Angaben der innerstaatlichen Behörden und der Regierung hatten die gegen den Bf ergriffenen Maßnahmen eine Rechtsgrundlage [im innerstaatlichen Recht] [...].

(80) Der GH hält fest, dass operative Fahndungsmaßnahmen nur im Zusammenhang mit einem nach innerstaatlichem Recht als gerichtlich strafbar eingestuften Delikt durchgeführt werden können [...]. Das Gesetz über operative Suchaktivitäten konnte daher nicht als Rechtsgrundlage für die im vorliegenden Fall, der eine Verwaltungsübertretung betraf, getroffenen Maßnahmen dienen [...].

(81) [Weitere innerstaatliche Normen] gaben der Polizei Befugnisse zur Untersuchung von Verwaltungsübertretungen und zur Sammlung von Beweisen, einschließlich Beweisen mit personenbezogenen Daten [...]. [...] Ein Dekret sah die Installation von Überwachungskameras mit Live-Gesichtserkennung in der Moskauer U-Bahn vor, die der Polizei zugänglich waren [...]. Der GH erkennt daher an, dass die gegen den Bf ergriffenen Maßnahmen eine Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht hatten.

(82) [...] Der GH ist der Auffassung, dass es beim Einsatz der Gesichtserkennungstechnologie wesentlich ist, über detaillierte Regeln sowohl für den Anwendungsbereich als auch für die Anwendung der Maßnahmen sowie über strenge Schutzmaßnahmen gegen die Gefahr von Missbrauch und Willkür zu verfügen. Die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen wird umso größer sein, wenn es um den Einsatz der Technologie zur Live-Gesichtserkennung geht.

(83) Der GH hat starke Zweifel, dass die innerstaatlichen Rechtsvorschriften das »Qualitätserfordernis des Rechts« erfüllen. [...] Es scheint die Verarbeitung biometrischer personenbezogener Daten – auch mit Hilfe der Gesichtserkennungstechnologie – in jedem Gerichtsverfahren erlaubt zu sein [...]. Das innerstaatliche Recht enthält keine Beschränkungen hinsichtlich der Art der Situationen, die zum Einsatz der Gesichtserkennungstechnologie führen können, der verfolgten Zwecke, der Personengruppen, die betroffen sein können, oder der Verarbeitung sensibler personenbezogener Daten. Darüber hinaus verwies die Regierung nicht auf Verfahrensgarantien, die den Einsatz der Gesichtserkennungstechnologie in Russland begleiten [...].

(84) Der GH geht ferner davon aus, dass die angefochtenen Maßnahmen das legitime Ziel der Verbrechensverhütung verfolgten.

(85) Der GH hält es für unbestritten, dass die Bekämpfung der Kriminalität [...] in hohem Maße vom Einsatz moderner wissenschaftlicher Ermittlungs- und Identifizierungstechniken abhängt. [...] Die einzige vom GH zu prüfende Frage ist, ob die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Bf im vorliegenden Fall nach Art 8 Abs 2 EMRK gerechtfertigt war [...].

(86) Bei der Beurteilung der Frage, ob die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Bf »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war, wird der GH zunächst das Ausmaß des tatsächlichen Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens bewerten [...]. Er stellt fest, dass die Polizei die digitalen Bilder des Bf erfasst, gespeichert und verwendet hat, um mit Hilfe der Gesichtserkennungstechnologie biometrische personenbezogene Daten des Bf zu extrahieren und zu verarbeiten: erstens, um ihn anhand der Fotos und des auf dem Telegram-Kanal veröffentlichten Videos zu identifizieren, und zweitens, um ihn zu lokalisieren und festzunehmen, während er mit der Moskauer U-Bahn unterwegs war. Der GH ist der Auffassung, dass diese Maßnahmen einen besonderen Eingriff darstellen, insb was die Technologie zur Live-Gesichtserkennung betrifft [...]. Es ist daher [...], damit die Maßnahmen als »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« angesehen werden können, das höchste Maß an Rechtfertigung für den Einsatz

der Live-Gesichtserkennungstechnologie erforderlich. Zudem enthielten die verarbeiteten personenbezogenen Daten Informationen über die Teilnahme des Bf an einer friedlichen Demonstration und legten daher seine politische Meinung offen. Sie fielen somit in die besonderen Kategorien sensibler Daten, für die ein erhöhtes Schutzniveau gilt [...].

(88) Der GH stellt fest, dass der Bf wegen einer geringfügigen Straftat verfolgt wurde, die darin bestand, dass er eine Solodemonstration ohne vorherige Anmeldung abhielt – ein Vergehen, das nach innerstaatlichem Recht eher als Verwaltungsübertretung denn als Straftat eingestuft wird. Ihm wurde nie vorgeworfen, während seiner Demonstration verwerfliche Handlungen wie Verkehrsbehinderung, Sachbeschädigung oder Gewalttaten begangen zu haben. Es wurde nie behauptet, dass seine Aktionen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die Verkehrssicherheit darstellten. Der GH hat bereits festgestellt, dass das Verwaltungsstrafverfahren gegen den Bf dessen Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt hat [...]. Er ist der Auffassung, dass der Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie, die in hohem Maße in die Privatsphäre eingreift, um Teilnehmer an friedlichen Protestaktionen zu identifizieren und zu verhaften, eine abschreckende Wirkung im Hinblick auf das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit

haben könnte.

(89) Unter diesen Umständen entsprach der Einsatz der Gesichtserkennungstechnologie zur Identifizierung des Bf anhand der auf dem Telegram-Kanal veröffentlichten Fotos und des Videos – und erst recht der Einsatz der Live-Gesichtserkennungstechnologie zur Lokalisierung und Verhaftung des Bf während seiner Fahrt mit der Moskauer U-Bahn – keinem »dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis«.

(90) [...] Der GH kommt zum Ergebnis, dass der Einsatz einer stark in die Privatsphäre eingreifenden Gesichtserkennungstechnologie im Zusammenhang mit der Ausübung des in der EMRK verankerten Rechts auf freie Meinungsäußerung durch den Bf mit den Idealen und Werten einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft, die durch die Konvention erhalten und gefördert werden sollen, unvereinbar ist. Die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Bf mit Hilfe der Gesichtserkennungstechnologie im Rahmen eines Verfahrens wegen einer Verwaltungsübertretung – zum einen, um ihn anhand der auf dem Telegram-Kanal veröffentlichten Fotos und des Videos zu identifizieren, und zum anderen, um ihn während seiner Fahrt mit der Moskauer U-Bahn ausfindig zu machen und festzunehmen – kann nicht als »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« angesehen werden.

(91) Es liegt somit eine Verletzung von Art 8 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 6 EMRK

(92) Der Bf brachte nach Art 6 EMRK vor, dass das gegen ihn geführte Verwaltungsstrafverfahren mangels Anklägers unfair gewesen sei. In Anbetracht des Sachverhalts, des Vorbringens der Parteien und der Feststellungen nach den Art 8 und 10 EMRK ist der GH der Auffassung, dass es nicht erforderlich ist, gesondert über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerde nach Art 6 EMRK zu entscheiden [...] (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 9.800,– für immateriellen Schaden; € 6.400,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

S. und Marper/GB, 4.12.2008, 30562/04, 30566/04 (GK) = NLMR 2008, 356 = EuGRZ 2009, 299

Kudrevičius ua/LT, 15.10.2015, 37553/05 (GK) = NLMR 2015, 447

Novikova ua/RU, 26.4.2016, 25501/07 ua

Navalnyy/RU, 15.11.2018, 29580/12 ua (GK) = NLMR 2018, 543

López Ribalda ua/ES, 17.10.2019, 1874/13, 8567/13 (GK) = NLMR 2019, 403

Gaughran/GB, 13.2.2020, 45245/15 = NLMR 2020, 37

Karuyev/RU, 18.1.2022, 4161/13 = NLMR 2022, 41

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.7.2023, Bsw. 11519/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 349) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.