Bsw8000/21 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Jurisic gg Kroatien (Nr. 2), Urteil vom 7.7.2022, Bsw. 8000/21.
Spruch
Art. 8 EMRK, Art. 46 EMRK - Zuständigkeit des EGMR zur Prüfung nach seinem Urteil ergriffener familienrechtlicher Maßnahmen.
Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).
Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
In seinem Urteil Jurišic/HR vom 16.1.2020 stellte der GH eine Verletzung von Art 8 EMRK aufgrund der fehlenden Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen fest, die dem Bf ein Recht auf Kontakt zu seinem 2006 geborenen Sohn eingeräumt hatten. Die Überwachung der Durchführung dieses Urteils durch das MK ist nach wie vor anhängig.
Das innerstaatliche Verfahren zur Vollstreckung der Entscheidung vom 14.5.2010 über das Kontaktrecht des Bf wurde am 29.1.2020 eingestellt, nachdem mehrere Gutachter zum Ergebnis gelangt waren, dass eine zwangsweise Durchsetzung gegen den Widerstand des Kindes nicht mit dessen Wohl vereinbar wäre. Das Gericht verwies in seiner Entscheidung auf ein bereits anhängiges weiteres Verfahren zur Änderung des Kontaktrechts, das 2019 von der Mutter angestrengt worden war. In diesem Verfahren bestimmte das Gericht am 2.11.2020, dass der Bf seinen Sohn einmal pro Woche an einem neutralen Ort im Beisein einer Sozialarbeiterin treffen durfte. Sobald sich wieder ein Vertrauensverhältnis gebildet habe, würde der Kontakt ausgeweitet. Das Gericht verwies in seiner ausführlich begründeten Entscheidung auf die tiefe Zerrüttung zwischen den Eltern, die fehlende Kooperationsbereitschaft der Mutter und die Unwilligkeit des Bf, professionelle Unterstützung beim Aufbau einer Beziehung zu seinem Sohn in Anspruch zu nehmen.
Beide Eltern würden durch ihr Verhalten, das ausschließlich auf die Durchsetzung der eigenen Interessen gerichtet sei, die Rechte und die Gesundheit ihres Kindes beeinträchtigen. Diese Entscheidung wurde am 10.5.2021 vom Gespanschaftsgericht Zagreb bestätigt.
Aufgrund dieser Entscheidung versuchte der Bf am 2.1. und am 9.1.2021, das Kind in Begleitung einer Sozialarbeiterin zu besuchen. Beim ersten Besuch öffnete niemand die Tür, beim zweiten erklärte das Kind, den Bf nicht sehen zu wollen. Als die Mutter am 25.6.2021 das Kind zum Treffpunkt brachte, kam es zu einem Streit, woraufhin das Kind den Ort verließ. Auch das folgende Treffen verlief ähnlich. Bei drei weiteren Terminen im Juli und August 2021 sprach das Kind nicht mit dem Bf und erklärte, keinen Kontakt zu ihm haben zu wollen.
Die Mutter wurde am 23.9.2021 wegen der 2015 erfolgten Vereitelung des Kontakts zwischen ihrem Sohn und dem Bf zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt. Weitere Strafverfahren wegen Begehung desselben Delikts zwischen 2018 und 2021 sind anhängig.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens), da er trotz all der in seinem Fall ergangenen neuen Entscheidungen nach wie vor keinen regelmäßigen Kontakt zu seinem Sohn gehabt habe.
I.Zulässigkeit
(29) Die Frage der Befolgung der Urteile des GH durch die Mitgliedstaaten fällt nicht in seine Zuständigkeit, solange sie nicht im Kontext eines Verfahrens nach Art 46 Abs 4 und Abs 5 EMRK aufgeworfen wird. Gemäß Art 46 Abs 2 EMRK hat das MK die Befugnis, die Durchführung der Urteile des GH zu überwachen und die vom belangten Staat ergriffenen Maßnahmen zu beurteilen. Diese Rolle des MK bei der Durchführung der Urteile [...] hindert den GH allerdings nicht daran, eine neue Beschwerde zu behandeln, die vom belangten Staat zur Durchführung eines Urteils ergriffene Maßnahmen betrifft, wenn diese Beschwerde relevante neue Informationen enthält, die sich auf Angelegenheiten beziehen, über die im ersten Urteil nicht entschieden wurde.
(30) [...] Im spezifischen Kontext einer Verletzung eines Konventionsrechts, die andauert, nachdem der GH in einem Urteil eine Verletzung dieses Rechts während einer bestimmten Zeitspanne festgestellt hat, ist es für den GH nicht unüblich, eine zweite Beschwerde zu prüfen, die eine Verletzung dieses Rechts in einer späteren Periode betrifft. In solchen Fällen resultiert die »neue Angelegenheit« aus der Fortsetzung der Verletzung, welche die Grundlage für die erste Entscheidung des GH bildete. Die Prüfung durch den GH beschränkt sich allerdings auf die betroffenen neuen Zeitabschnitte [...].
(31) Zum vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass er in seinem Urteil vom 16.1.2020 eine Verletzung der durch Art 8 EMRK garantierten Rechte des Bf aufgrund der andauernden Nichtvollstreckung einer Entscheidung des innerstaatlichen Gerichts, mit der sein Kontakt zu seinem Sohn geregelt wurde, feststellte. [...] Im spezifischen Kontext einer fortgesetzten Verletzung der Rechte eines Bf wäre es für den GH nicht ungewöhnlich, eine zweite Beschwerde zu prüfen, die eine Verletzung dieses Rechts im daran anschließenden Zeitraum betrifft.
(32) Zudem ergingen nach dem Urteil des GH vom 26.1.2020 neue innerstaatliche Entscheidungen, nämlich jene vom 29.1.2020, mit der die Vollstreckung einer früheren Entscheidung ausgesetzt wurde, und die neue Entscheidung über den Kontakt vom 2.11.2020. Der Bf beschwerte sich ausdrücklich über diese neuen innerstaatlichen Entscheidungen, in denen die nationalen Gerichte neue Entwicklungen in der Situation der Parteien und neue Gutachten prüften und bei der Durchführung einer neuen Interessenabwägung das höhere Alter und die Wünsche des Kindes berücksichtigten. Diese Entscheidungen stellen daher neue Tatsachen dar, deren Prüfung in die Zuständigkeit des GH fällt.
(33) Unter solchen Umständen resultierte die »neue Angelegenheit« in diesem Fall nach Ansicht des GH aus der Fortsetzung der Verletzung, welche die Grundlage für das erste Urteil des GH vom 16.1.2020 bildete, sowie aus den neuen in diesem Fall ergangenen Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte. Die Prüfung des GH wird sich im vorliegenden Fall allerdings ausschließlich auf diese neue Zeitspanne beschränken.
(34) Folglich ist die Einrede der Regierung zu verwerfen.
(35) [...] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich; abweichendes gemeinsames Sondervotum von Richterin Polácková, Richter Wennerström und Richter Sabato).
II.In der Sache
(41) [...] Wie der GH in seinem Urteil vom 16.1.2020 feststellte, war der Bf praktisch seit der Geburt seines Sohnes nicht in der Lage, nennenswerten Kontakt zu diesem zu haben. Aus den oben genannten Gründen besteht die Aufgabe des GH allerdings darin zu prüfen, ob die innerstaatlichen Behörden während der Zeitspanne, die in die Zuständigkeit des GH ratione materiae fällt – also der Zeit seit Jänner 2020 – alle erforderlichen Schritte zur Erleichterung des Kontakts zwischen dem Bf und seinem Sohn gesetzt haben, die unter den spezifischen Umständen vernünftigerweise erwartet werden konnten.
(43) [...] In Fällen, in denen [...] Kinder sich dem Kontakt zu einem Elternteil widersetzen, verlangt Art 8 EMRK von den Staaten zu versuchen, die Gründe für diesen Widerstand herauszufinden und ihnen entsprechend zu begegnen. Diese Verpflichtung bezieht sich nicht auf das Ergebnis, sondern auf die Bemühungen. Sie kann vorbereitende oder gestaffelte Maßnahmen verlangen. Die Kooperation und das Verständnis aller Beteiligten ist stets ein wichtiger Faktor. Da die Behörden ihr Möglichstes tun müssen, um eine solche Kooperation zu erleichtern, verlangen die positiven Verpflichtungen nach Art 8 EMRK von ihnen allerdings, Maßnahmen zu ergreifen, um die widerstreitenden Interessen in Einklang zu bringen, wobei sie das Kindeswohl als vorrangige Überlegung im Auge behalten müssen.
(44) [...] Das Recht eines Kindes, seine Wünsche zu äußern, darf nicht dahingehend verstanden werden, dass es Kindern ein unbedingtes Vetorecht gibt, ohne dass irgendwelche anderen Faktoren berücksichtigt werden und eine Prüfung vorgenommen wird, um zu bestimmen, was in ihrem Interesse liegt. Würde ein Gericht seine Entscheidung auf die Ansichten von Kindern stützen, die – etwa wegen eines Loyalitätskonflikts oder weil sie einem Verhalten eines Elternteils ausgesetzt sind, das zu einer Entfremdung führt – offenbar nicht in der Lage sind, eine eigene Meinung über ihre Wünsche zu bilden und zum Ausdruck zu bringen, würde eine solche Entscheidung nicht Art 8 EMRK entsprechen.
(45) Zum vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass dem Bf [...] mit Urteil vom 14.5.2010 ausreichender Kontakt zu seinem Sohn eingeräumt worden war [...], sich aber keine Art der Vollstreckung, einschließlich Zwangsmaßnahmen, als zielführend erwiesen hatte. Die Gutachter kamen daher einhellig zum Schluss, dass ein derart umfangreicher Kontakt zwischen dem Bf und seinem Sohn, der sich von ihm entfremdet hatte, nicht dem Kindeswohl entsprechen würde. Sie empfahlen stattdessen eine allmähliche Herbeiführung des Kontakts [...]. Der GH [...] sieht keinen Grund, den vom innerstaatlichen Gericht in einem wohlbegründeten Urteil klar dargelegten Gründen für diese Entscheidung zu widersprechen.
(46) Im November 2020 erließ das zuständige Gericht eine neue Entscheidung [...], die auf einen stufenweisen Neubeginn des Kontakts [...] abzielte. Das Gericht prüfte in einer erneut wohlbegründeten Entscheidung die gesamte Familiensituation und verwies auf das schlechte Verhältnis zwischen den Eltern und ihre Weigerung, zu kooperieren. Während [die Mutter] keinerlei Absicht hatte, mit den Sozialarbeiterinnen zusammenzuarbeiten, bestand auch der Bf auf seinen Bedürfnissen, statt offen für die Wünsche des Kindes zu sein. Insb weigerte sich der Bf wiederholt trotz eines entsprechenden Wunsches seines Sohns, diesen in der Praxis des Psychiaters zu treffen, der das Kind seit mehreren Jahren behandelte. [...] Es ist für den GH schwierig, eine solch starre Haltung des Bf [...] zu akzeptieren, der eher von der Idee beherrscht gewesen zu sein scheint, seine eigenen Rechte durchzusetzen, als vom Wohl seines Kindes.
(47) Zudem muss der GH feststellen, dass der Bf bei mehreren Versuchen zur Verwirklichung des Kontakts [...] unkooperativ blieb. [...]
(48) [...] Die Aufgabe der innerstaatlichen Behörden wurde im vorliegenden Fall durch das negative Verhalten [der Mutter] und die Weigerung des Kindes, seinen Vater zu treffen, besonders erschwert. Der GH stellt jedoch fest, dass sie während der in seine Zuständigkeit fallenden Zeit eine Reihe von Schritten unternahmen, um dem Bf Kontakt zu seinem Sohn zu ermöglichen. Sie beschlossen einen neuen, auf das Kindeswohl abstellenden Zeitplan und organisierten eine Reihe von Versuchen zur Herstellung des Kontakts, die hauptsächlich wegen des Verhaltens beider Elternteile scheiterten. Sie verurteilten auch [die Mutter] wegen der Vereitelung des Kontakts [...] und leiteten weitere Strafverfahren gegen sie ein. [...] Der GH ist daher nicht der Ansicht, dass das Versäumnis, die Entscheidung über den Kontakt umzusetzen, auf einen Mangel an Sorgfalt seitens der zuständigen Behörden zurückgeführt werden kann.
(49) Daraus folgt, dass keine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden hat (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Schembri Orland).
Vom GH zitierte Judikatur:
Wasserman/RU (Nr 2), 10.4.2008, 21071/05 = NL 2008, 91
Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/CH (Nr 2), 30.6.2009, 32772/02 (GK) = NL 2009, 169
Liu/RU (Nr 2), 26.7.2011, 29157/09 = NLMR 2011, 239
Ivantoc ua/MD und RU, 15.11.2011, 23687/05
Ribic/HR, 2.4.2015, 27148/12
Moreira Ferreira/PT (Nr 2), 11.7.2017, 19867/12 (GK) = NLMR 2017, 332
K. B. ua/HR, 14.3.2017, 36216/13
V. D./HR (Nr 2), 15.11.2018, 19421/15
Jurišic/HR, 16.1.2020, 29419/17
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.7.2022, Bsw. 8000/21, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2022, 344) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.