JudikaturAUSL EGMR

Bsw10425/19 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
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21. Juni 2022

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache P. W. gg. Österreich, Urteil vom 21.6.2022, Bsw. 10425/19.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK, § 21 StGB; § 126 StPO § 127 StPO - Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher trotz (teilweise) divergiernder Gutachten.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am Abend des 7.5.2016 wurde die Bf im Zuge einer Amtshandlung aggressiv und versetzte, nach Androhung der Festnahme, einer Polizistin Schläge gegen die Brust. Nach Festnahme und Untersuchung durch den Amtsarzt wurde sie, da ihre Haft- und Deliktsfähigkeit nicht mit absoluter Sicherheit festgestellt werden konnte, ins Krankenhaus eingewiesen. Im Rahmen des daraufhin eingeleiteten Unterbringungsverfahrens nach dem UbG kam der Sachverständige Dr. M. F. in seinem Gutachten vom 17.5.2016 zum Ergebnis, dass die Bf an einer schizoaffektiven Störung leide.

Im Ermittlungsverfahren wurde Dr. W. S. als psychiatrischer Sachverständiger zur Frage bestellt, ob die Bf zurechnungsfähig iSv § 11 StGB sei und die Voraussetzungen für eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 StGB erfüllt seien. Mit Aktengutachten vom 7.12.2016 – die Bf erschien nicht zum angeordneten Untersuchungstermin – wurde zwar eine schizoaffektive Störung festgestellt, aber davon ausgegangen, dass die Bf zur Zeit der Straftat zurechnungsfähig gewesen sei. Der Sachverständige konnte keine Prognose über die Gefährlichkeit der Bf machen.

Auf Antrag des Verteidigers wurde ein neuerliches psychiatrisches Gutachten eingeholt, diesmal von Dr. A. K., einer Spezialistin auf dem Gebiet der Psychiatrie und Neurologie sowie Vorständin der Klinik für Psychiatrie der Universität Linz. Nach Untersuchung der Bf wurde im Gutachten vom 1.4.2017 festgehalten, dass die Bf an einer undifferenzierten Schizophrenie leide. Die Bf hätte in der Vergangenheit mehrfach die Medikation abgebrochen. Zur Zeit der Straftat hätte sie keinen Bezug zur Realität gehabt, hätte keine bewussten Entscheidungen treffen können und sei somit nicht zurechnungsfähig gewesen. Weiters ging die Sachverständige von der Gefährlichkeit der Bf hinsichtlich künftiger strafbarer Handlungen mit schweren Folgen aus.

In der Hauptverhandlung vom 8.8.2017 wurden die Bf, die Zeugen und alle Sachverständigen einvernommen. Mit Urteil des LG Linz vom 8.8.2017 wurde ausgesprochen, dass die Bf eine Tat begangen hatte, die, wenn sie zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen wäre, als versuchter Widerstand gegen die Staatsgewalt zu bestrafen wäre. Ferner wurde die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gem § 21 Abs 1 StGB ausgesprochen. Die Annahme der Zurechnungsunfähigkeit und Gefährlichkeit stützte das Gericht im Wesentlichen auf das Gutachten von Dr. A. K.

Die Nichtigkeitsbeschwerde der Bf wurde vom OGH mit Urteil vom 27.6.2018 zurückgewiesen. (Anm: OGH 27.6.2018, 13 Os 67/18d.). Ferner wurde die ebenfalls erhobene Berufung am 6.8.2018 vom OLG Linz abgewiesen. Der erhobene Beweisantrag auf ein weiteres Sachverständigengutachten wurde ebenfalls abgewiesen, weil, wie das Erstgericht ausgeführt habe, etwaige Unterschiede aufgrund divergierender Gutachtensaufträge in Unterbringungs- und Strafverfahren und der Art der Begutachtung (Aktengutachten oder persönliche Untersuchung) zustande gekommen seien und daher keine Widersprüchlichkeit iSv § 127 Abs 3 StPO vorliege. Aufgrund der seit dem jüngsten Gutachten vergangenen Zeit holte das OLG Linz ein Ergänzungsgutachten von Dr. A. K. ein. Nach einer weiteren Untersuchung befand sie, dass die Bf immer noch an undifferenzierter Schizophrenie leiden würde und ihre im letzten Gutachten getroffenen Schlüsse weiter zutreffen würden.

Am 15.10.2020 ordnete das LG Linz die bedingte Entlassung der Bf am 30.10.2020 unter Bestimmung einer Probezeit von fünf Jahren an.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behauptete eine Verletzung von Art 5 Abs 1 EMRK (Rechtmäßigkeit der Haft), Art 6 Abs 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm Art 5 EMRK aufgrund ihrer Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, nachdem sie versucht hatte, sich gegen ihre Festnahme zu wehren.

I.Zur behaupteten Verletzung von Art 5 EMRK

(38) Die Bf brachte vor, dass ihre Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher [...] weder notwendig noch verhältnismäßig gewesen sei und deshalb gegen Art 5 Abs 1 EMRK verstoßen habe [...].

1.Zulässigkeit

(39) [...] Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2.In der Sache

a.Allgemeine Grundsätze nach stRsp des GH

(48) [...] Einem Einzelnen kann seine Freiheit aufgrund einer »psychischen Erkrankung« nur entzogen werden, wenn die folgenden drei Mindestvoraussetzungen erfüllt sind: Erstens muss zuverlässig nachgewiesen werden, dass [die Person] psychisch krank ist, maW muss eine echte psychische Störung von einer zuständigen Behörde auf Grundlage eines objektiven medizinischen Gutachtens festgestellt werden. Zweitens muss die psychische Störung in Art oder Ausmaß eine zwangsweise Unterbringung rechtfertigen. Drittens hängt die Rechtmäßigkeit einer fortgesetzten Unterbringung vom Fortbestehen einer solchen Störung ab [...].

(49) Bei der Entscheidung, ob jemand als »psychisch kranke« Person inhaftiert werden soll, ist den nationalen Behörden ein gewisses Ermessen einzuräumen, da es vorrangig diesen obliegt, die vor ihnen in einem bestimmten Fall erbrachten Beweise zu würdigen. Die Aufgabe des GH ist es, im Rahmen der Konvention die Entscheidungen dieser Behörden zu überprüfen [...].

(50) Hinsichtlich der ersten Voraussetzung [...] wiederholt der GH, dass, obwohl die nationalen Behörden ein gewisses Ermessen haben, [...] die in Art 5 Abs 1 EMRK genannten Zulässigkeitsgründe der Freiheitsentziehung eng auszulegen sind. Ein psychischer Zustand muss von bestimmter Schwere sein, um als »echte« psychische Störung iSv Art 5 Abs 1 lit e EMRK zu gelten, da er so schwerwiegend sein muss, dass eine Behandlung in einer Einrichtung für psychisch Kranke erforderlich ist [...].

(51) Eine Freiheitsentziehung einer psychisch kranken Person kann nicht Art 5 Abs 1 lit e EMRK entsprechen, wenn sie ohne das Gutachten eines medizinischen Sachverständigen angeordnet wurde. Alles andere kann dem in Art 5 EMRK verbürgten Schutz vor Willkür nicht gerecht werden [...]. Die genaue Ausgestaltung und das diesbezügliche Verfahren können nach den Umständen variieren. [...]

(52) Zu den Voraussetzungen des »objektiven medizinischen Gutachtens« ist der GH der Ansicht, dass generell die nationalen Behörden besser als er dazu in der Lage sind, die Qualifikationen des jeweiligen medizinischen Sachverständigen zu beurteilen. [...]

(53) Zudem umfasst die Objektivität des medizinischen Gutachtens das Erfordernis, dass es hinreichend aktuell ist. Die Frage, ob das Gutachten hinreichend aktuell war, hängt von den spezifischen Umständen des Falls ab [...].

(54) Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung zur Freiheitsentziehung einer »psychisch kranken« Person, nämlich dass die psychische Störung in Art oder Ausmaß eine zwangsweise Unterbringung rechtfertigen muss, betont der GH, dass das Ausmaß der psychischen Störung eine zwangsweise Unterbringung rechtfertigen kann, wenn für die betreffende Person eine Therapie, Medikation oder andere klinische Behandlung zur Heilung oder Linderung ihres Zustands notwendig ist, aber auch wenn die Person Kontrolle und Aufsicht benötigt, um sie zB davon abzuhalten, sich oder anderen Personen Schaden zuzufügen [...].

(55) Der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem die psychische Erkrankung der Person iSv Art 5 Abs 1 lit e EMRK zuverlässig festgestellt werden muss, ist der Zeitpunkt der Erlassung der Maßnahme, mit der dieser Person aufgrund ihres Zustands die Freiheit entzogen wird. Wie jedoch aus der dritten Mindestvoraussetzung [...] hervorgeht, [...] sind sämtliche Änderungen des psychischen Zustands des Inhaftierten nach Erlassung der Unterbringung zu berücksichtigen [...].

(57) Ferner haben in erster Linie die nationalen Gerichte die wissenschaftliche Qualität verschiedener psychiatrischer Sachverständigengutachten zu beurteilen und haben in dieser Hinsicht einen bestimmten Ermessensspielraum. Haben die nationalen Gerichte sämtliche Aspekte der unterschiedlichen Gutachten zur Notwendigkeit der psychiatrischen Unterbringung einer Person untersucht, wird der GH nicht einschreiten, es sei denn, ihre Feststellungen sind willkürlich oder unwissenschaftlich [...].

b.Anwendung der obigen Grundsätze auf den gegenständlichen Fall

(60) Die Bf brachte im Wesentlichen vor, dass die Maßnahme angesichts der ihr zugrundeliegenden geringfügigen Straftat unverhältnismäßig war und dass aufgrund der unterschiedlichen Schlussfolgerungen der Sachverständigen ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen gewesen wäre. [...]

(61) Der GH hält zunächst fest, dass im Strafverfahren gegen die Bf zwei Sachverständigengutachten [...] eingeholt wurden, die feststellten, dass die Bf an einer schizoaffektiven Störung (Dr. W. S.) oder undifferenzierten Schizophrenie litt (Dr. A. K.) [...]. Ähnlich kam Dr. M. F., der während der Unterbringungsverfahren 2016/17 konsultiert wurde, zum Ergebnis, dass die Bf in den jeweiligen Verfahren an einer schizoaffektiven Störung oder »paranoiden Schizophrenie« litt [...]. Alle involvierten Sachverständigen waren medizinische Experten in Psychiatrie und Neurologie. Zwei von ihnen, nämlich Dr. A. K. und Dr. M. F., zogen ihre Schlussfolgerungen nach einer persönlichen Untersuchung. Alle Gutachten wurden 2016 und 2017 erstattet, das ist die Zeit, in der die zugrundeliegende Straftat begangen wurde (2016) und das Strafverfahren gegen die Bf geführt wurde (2016/17). Daher waren sie angesichts der Umstände des Falls hinreichend aktuell. Ferner diagnostizierten alle Experten einen Typ einer schizophrenen

Störung, die zweifelsohne ernst genug ist, um als »echte« psychische Störung angesehen zu werden, die eine Behandlung in einer Anstalt notwendig machen kann.

(62) Zum Vorbringen der Bf, dass Dr. A. K., auf deren Gutachten das LG sein Urteil vorrangig stützte, nicht in der Liste der Sachverständigen registriert war [...], wiederholt der GH zunächst, dass die nationalen Behörden besser als er dazu in der Lage sind, die Qualifikationen der fraglichen medizinischen Sachverständigen zu beurteilen und dass es in erster Linie den innerstaatlichen Gerichten obliegt, die wissenschaftliche Qualität unterschiedlicher psychiatrischer Sachverständigengutachten zu beurteilen (vgl Rn 57). Gegenständlich hält der GH fest, dass § 126 StPO nicht verlangt, dass vom Gericht bestellte Sachverständige in der gerichtlichen Sachverständigenliste enthalten sind [...]. [...] Ferner unterliegen alle Sachverständigen, ob sie nun in der Liste registriert sind oder nicht, denselben Rechten und Pflichten, insb der Pflicht, Befund und Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen nach den Regeln ihrer Wissenschaft abzugeben (§ 127 Abs 2 StPO). In diesem Zusammenhang hält der GH auch fest, dass

Dr. A. K. eine anerkannte Expertin mit universitärer Lehrbefugnis und Vorständin der Klinik für Psychiatrie der Universität Linz ist. Die Bf stellte ihre Qualifikation als Sachverständige im nationalen Verfahren nicht in Frage. Ferner bemerkt der GH, dass sich der erste Verteidiger der Bf gegen die Verwendung des Gutachtens von Dr. W. S. aussprach, der zum Schluss kam, dass die Bf zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen sei, und die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür beantragte, dass die Bf zur Tatzeit nicht zurechnungsfähig war [...]. Daher sieht der GH keinen Grund zu bezweifeln, dass die psychische Störung der Bf auf Grundlage objektiver medizinischer Gutachten festgestellt wurde.

(63) Zur Frage, ob die psychische Störung der Bf in Art oder Ausmaß eine zwangsweise Unterbringung notwendig machte, betont der GH, dass sich das LG [...] vorrangig auf das Gutachten von Dr. A. K. stützte [...]. In diesem Zusammenhang ist es für den GH von Bedeutung, dass Dr. A. K. die Bf persönlich untersuchen konnte, während Dr. W. S. dies nicht konnte, da die Bf die Ladung zur Untersuchung nicht wahrnahm. Dr. W. S. hatte daher sein Gutachten ausschließlich auf den Akteninhalt zu stützen und [...] konnte keine Prognose über [die Begehung] künftiger strafbarer Handlungen mit schweren Folgen machen [...]. Zugleich war das Gutachten von Dr. A. K. sehr detailliert und über 29 Seiten lang. Weiters setzte sie sich in der Hauptverhandlung ausführlich mit den Gutachten von Dr. W. S. und Dr. M. F. [...] auseinander, die verlesen wurden, und erklärte die Unterschiede zwischen diesen [...].

(64) Der GH stellt ferner fest, dass die Bf nach der Beschreibung nicht wahrnehmen konnte, an einer Störung zu leiden, eine negative Einstellung gegenüber einer Behandlung zeigte und in der Vergangenheit manchmal eine Medikation verweigerte [...]. Alle diese Faktoren wurden von den nationalen Gerichten bei der Entscheidung, dass die Bf einzuweisen und nicht ambulant zu behandeln war, geprüft. Daher ist der GH überzeugt davon, dass die Notwendigkeit der Freiheitsentziehung der Bf angesichts der Umstände ihres Falls aufgezeigt wurde.

(65) Zur Frage des durch objektive medizinische Gutachten belegten Fortbestehens der psychischen Störung während der Zeit der Unterbringung der Bf hält der GH fest, dass ihre Unterbringung mit Urteil des LG vom 8.8.2017 angeordnet wurde, dies auf Grundlage des Gutachtens von Dr. A. K. vom 1.4.2017. Obwohl das Berufungsgericht am 6.8.2018, ein Jahr später, die Einweisung bestätigte, tat es dies erst, nachdem es ein Ergänzungsgutachten [...] eingeholt hatte, dies aufgrund der Zeitspanne seit Erstattung des Sachverständigengutachtens [...]. [...] Daher ist der GH überzeugt davon, dass, als das Berufungsgericht die ursprüngliche Einweisung bestätigte, das Fortbestehen der psychischen Störung der Bf hinreichend durch einen objektiven medizinischen Nachweis bestätigt wurde. In diesem Kontext hält der GH ferner fest, dass am 15.10.2020, mehr als zwei Jahre später, dasselbe LG die bedingte Entlassung aus der Unterbringung anordnete [...]. Während dem GH keine Informationen über in diesem Kontext eingeholte Gutachten übermittelt wurden, sei festgehalten, dass in Übereinstimmung mit § 25 StGB vorbeugende Maßnahmen [...] nur solange zu vollziehen sind, wie es ihr Zweck erfordert, und dass die Notwendigkeit einer solchen Unterbringung von einem Gericht amtswegig zumindest ein Mal im Jahr zu prüfen ist [...].

(66) Während sich der GH darüber bewusst ist, dass die Bf des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt beschuldigt wurde, was die Bf als geringfügige Straftat und daher im Hinblick auf die gegen sie verhängte Sanktion der Unterbringung als vorbeugende Maßnahme als unverhältnismäßig erachtete [...], betont er, dass Art 5 Abs 1 lit e EMRK weder strafbare Taten vorsieht, für die eine Person aufgrund »psychischer Krankheit« inhaftiert werden kann, noch diese Bestimmung die Begehung einer Vortat für die Haft voraussetzt [...]. MaW ist es bei der Überprüfung der Einhaltung von Art 5 Abs 1 lit e EMRK bei Freiheitsentziehung einer Person nicht entscheidend, ob die Tat geringfügig war oder nicht. [...] Dennoch nimmt der GH die momentane Diskussion über die weitreichende Reform des Systems der vorbeugenden Maßnahmen in Österreich zur Kenntnis, insb ihr Ziel, die stRsp des GH zu wahren, (Anm: Zu Österreich zB EGMR 16.7.2015, 7997/08 (Kuttner gg Österreich), NLMR 2015, 316 (Bugelnig); EGMR 20.7.2017, 11537/11

(Lorenz gg Österreich), NLMR 2017, 326 (Kieber).) den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der vorbeugenden Unterbringung zu stärken und die Qualität der Risikoprognose erheblich zu verbessern. Dies umfasst das Ziel, die Qualität der hierbei erstatteten Sachverständigengutachten zu verbessern, zB durch Einführung von Mindestqualitätsstandards für derartige Gutachten [...]. (Anm: Vgl insb den Entwurf des Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetzes 2021, 128/ME XXVII. GP.)

(67) Zusammenfassend erlauben die vorstehenden Erwägungen den Schluss, dass zur Zeit der Anordnung der Einweisung der Bf in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher am 8.8.2017 ihre psychische Krankheit zuverlässig aufgezeigt wurde, also eine echte psychische Störung vor einer zuständigen Behörde auf Grundlage objektiver medizinischer Gutachten festgestellt wurde, und dass ihre psychische Störung in Art oder Ausmaß eine zwangsweise Unterbringung rechtfertigte. Ferner wurde vor Bestätigung der Fortsetzung der Maßnahme am 6.8.2018 das Fortbestehen ihrer psychischen Störung verlässlich aufgrund eines objektiven medizinischen Nachweises bestätigt.

(68) Daher wurde Art 5 Abs 1 lit e EMRK nicht verletzt (einstimmig).

II.Zur behaupteten Verletzung von Art 6 EMRK

(69) Die Bf brachte vor, dass die Ablehnung ihres Antrags auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens über ihren Geisteszustand zur Tatzeit ihr Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 Abs 1 EMRK verletzt hätte [...].

(74) [...] Die Zulässigkeit von Beweismitteln, wie die Frage, ob weitere Beweismittel einzuholen sind, ist grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte. Ferner bemerkt der GH, dass die Bf ausreichende Gelegenheit hatte, die während des Verfahrens eingeholten Gutachten anzufechten und sich gegen deren Verwendung auszusprechen, und dass sie tatsächlich von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat. Vor dem GH wurde kein Argument vorgebracht, dass ihn an der Qualität der Sachverständigengutachten der diversen im Verfahren beigezogenen Gutachter zweifeln ließe. Es gibt keinen Grund für den GH festzustellen, ob Art 6 EMRK gegenständlich in seinem zivilen oder strafrechtlichen Aspekt anwendbar ist [...], weil die Feststellungen der nationalen Gerichte jedenfalls keinen Anschein der Willkür oder offensichtlicher Unvernunft aufzeigen [...]. Daher ist dieser Beschwerdepunkt offensichtlich unbegründet und muss gemäß Art 35 Abs 3 lit a und Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

III.Zur behaupteten Verletzung von Art 14 iVm Art 5 EMRK

(75) Die Bf brachte vor, dass es im nationalen Recht keine Straftat gewesen wäre, die ihre Einweisung in eine Anstalt gerechtfertigt hätte, wenn sie eine andere Person geschlagen hätte, die kein Beamter sei. [...]

(81) Einleitend hält der GH fest, dass es Zweifel darüber gibt, ob der gegenständliche Fall eine Ungleichbehandlung aufgrund eines »Status« iSv Art 14 EMRK darstellt. Diese Frage kann jedoch offen gelassen werden, da dieser Beschwerdepunkt in jedem Fall aus anderen Gründen offensichtlich unbegründet ist. Ausgangspunkt für den GH ist die Definition der Straftat, der die Bf beschuldigt wurde, nämlich dem Widerstand gegen die Staatsgewalt, der in § 269 StGB definiert ist als »wer eine Behörde mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt und wer einen Beamten mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung an einer Amtshandlung hindert« [...]. Im nationalen Recht ist klar, dass – während die Anwendung von »Gewalt« ein notwendiges Tatbestandsmerkmal zur Begehung dieser Tat ist – ihr Zweck nicht darin liegt, das Schlagen eines Polizisten zu bestrafen, sondern (in diesem Fall) den Versuch zu bestrafen, den Polizisten an der Ausübung des hoheitlichen Akts der Festnahme zu hindern, was dem besonderen Schutz zuwiderläuft, den

der österreichische Gesetzgeber bei Durchsetzung und Ausübung der Staatsgewalt gewährleisten wollte. Die Bestimmung ist nicht anwendbar, wenn dieselbe Handlung an einer Privatperson begangen wird, da letztere nicht ermächtigt ist, Hoheitsakte in Ausübung der Staatsgewalt zu erlassen. Die Bf ist daher nicht in einer vergleichbaren Situation wie jemand, der eine Privatperson geschlagen hat. Daher ist diese Beschwerde unsubstantiiert und muss als offensichtlich unbegründet gem Art 35 Abs 3 lit a und Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Stanev/BG, 17.1.2012, 36760/06 (GK) = NLMR 2012, 23

Ilnseher/DE, 4.12.2018, 10211/12, 27505/14 (GK) = NLMR 2018, 526

Rooman/BE, 31.1.2019, 18052/11 (GK) = NLMR 2019, 28

Hodžic/HR, 4.4.2019, 28932/14

Denis und Irvine/BE, 1.6.2021, 62819/17, 63921/17 (GK) = NLMR 2021, 234

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.6.2022, Bsw. 10425/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2022, 240) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise