Bsw28492/15 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Khasanov und Rakhmanov gg. Russland, Urteil vom 29.4.2022, Bsw. 28492/15.
Spruch
Art. 3 EMRK - Auslieferung von Angehörigen der ethisch usbekischen Minderheit nach Kirgisistan zulässig.
Keine Verletzung von Art. 3 EMRK im Fall der Auslieferung der Bf. von Russland nach Kirgisistan (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf sind kirgisische Staatsbürger ethnisch usbekischen Ursprungs.
1.Ereignisse im Juni 2010 in Südkirgisistan
Im Juni 2010 kam es vor dem Hintergrund der politischen Instabilität nach dem Sturz des damaligen Präsidenten und der ethnischen Trennung zwischen Kirgisistan und dem Nachbarland Usbekistan in Gebieten, in denen es eine beachtliche usbekische Gemeinschaft gab, zu ethnischen Konflikten. Mehr als 400 Personen starben, 2000 wurden verletzt und tausende wurden vertrieben.
2.Bsw 28492/15 (Khasanov gg Russland)
Herr Khasanov (»ErstBf«) wurde 1957 geboren und lebte in Osh, Kirgisistan. Er flüchtete 2010 nach Russland.
Am 13.9.2010 wurden Ermittlungen gegen ihn in Kirgisistan wegen des Verdachts der schweren Veruntreuung eingeleitet. Am 13.11.2010 wurde er in Abwesenheit angeklagt. Die kirgisischen Behörden ordneten Untersuchungshaft an und erließen einen internationalen Fahndungs- und Haftbefehl.
Der ErstBf wurde am 11.7.2013 in Russland verhaftet. Er wurde am 2.4.2014 entlassen und lebt derzeit in der russischen Region Orjol.
Am 30.7.2013 ersuchten die kirgisischen Strafbehörden um Auslieferung des ErstBf aufgrund obiger Anklage. Das Ersuchen enthielt diverse Zusagen über die ordnungsgemäße Behandlung des ErstBf, wie Garantien gegen Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, keine politischen oder diskriminierenden Gründe für die Verfolgung, sowie jede Möglichkeit der Verteidigung und das Recht auf anwaltliche Vertretung. Diese Garantien wurden am 5.2.2014 um die Möglichkeit erweitert, dass der Bf Besuche von russischem diplomatischen Personal in der Haftanstalt empfangen könne.
Am 21.2.2014 stimmte der Stellvertretende Generalstaatsanwalt Russlands der Auslieferung zu. Im zweiten Rechtsgang wies das Landesgericht Orjol am 8.4.2015 die diesbezügliche Beschwerde des ErstBf ab, da – im Anschluss an die Begründung des Präsidiums des Obersten Gerichtshofs im ersten Rechtsgang und unter Bezugnahme auf die Rsp des GH – die allgemeine Situation im Land kein vollständiges Auslieferungsverbot rechtfertige. Aufgrund der Zusagen der kirgisischen Behörden, der Möglichkeit der Überprüfung durch russisches diplomatisches Personal, Fortschritten in der menschenrechtlichen Situation, des finanziellen Charakters des Verbrechens und der Ablehnung seines Asylantrags sei der ErstBf keinem individualisierten Risiko ausgesetzt. Der Oberste Gerichtshof hielt diese Entscheidung aufrecht.
Am 14.8.2013 beantragte der ErstBf aufgrund des Risikos der Verfolgung aus ethnischen Gründen in Kasachstan Asyl. Am 20.11.2013 wies die Regionalabteilung Orjol der Fremdenbehörde den Antrag ab, da der ErstBf (unter anderem) keine vergangene oder gegenwärtige unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vorbrachte und er im Rahmen des Asylverfahrens nicht mitteilte, dass er bereits zu den Vorwürfen gegen ihn einvernommen worden sei. Sämtliche Rechtsmittel des ErstBf gegen diese Entscheidung blieben erfolglos.
3.Bsw 49975/15 (Rakhmanov gg Russland)
Herr Rakhmanov (»ZweitBf«) wurde 1986 geboren, lebte in Suzak, Kirgisistan und flüchtete 2011 nach Russland.
Am 24.7.2012 wurde er in Abwesenheit wegen Gewalttaten in Verbindung mit den Ereignissen im Juni 2010 angeklagt, unter anderem wegen Beteiligung an gewaltsamen Massenausschreitungen, gewaltsamen schweren Raubes und Mord. Sämtliche Gewalttaten seien ethnisch motiviert und gegen kirgisischstämmige Personen gerichtet gewesen. Die kirgisischen Behörden ordneten Untersuchungshaft an und erließen einen internationalen Fahndungs- und Haftbefehl.
Der ZweitBf wurde am 15.4.2014 in Russland verhaftet. Er wurde am 15.10.2015 entlassen und lebt derzeit in der Region Moskau.
Am 13.5.2014 ersuchten die kirgisischen Strafbehörden um Auslieferung des ZweitBf aufgrund obiger Anklage. Das Ersuchen enthielt dieselben Zusagen wie im Fall des ErstBf.
Am 8.7.2015 stimmte der Stellvertretende Generalstaatsanwalt Russlands der Auslieferung zu. Am 31.8.2015 wies das Landesgericht Belgorod die Beschwerde des ZweitBf ab, da im Fall behaupteter erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung neben der generellen Situation in einem Land der Einzelne auch individualisierte Risiken vorbringen müsse, was dieser nicht getan habe. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde am 14.10.2015 vom Obersten Gerichtshof abgewiesen.
Am 26.5.2014 beantragte der ZweitBf Asyl aufgrund des Risikos der Verfolgung aus ethnischen Gründen in Kasachstan. Am 3.7.2014 wurde sein Antrag abgewiesen, da der ZweitBf nach Juni 2010 von und nach Kirgisistan gereist sei, seine Familie in dessen Heimatdorf in Südkirgisistan lebe und er nie in politischen, zivilen oder religiösen Organisationen Mitglied gewesen sei. Sämtliche Rechtsmittel des ZweitBf gegen diese Entscheidung blieben erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), da sie im Fall ihrer Auslieferung nach Kirgisistan als Angehörige der ethnischen Minderheit der Usbeken einem realen Risiko der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt seien.
I.Zur behaupteten Verletzung von Art 3 EMRK
1.Allgemeine Grundsätze aus der Rsp des GH
a.Verbot, abzuschiebende Ausländer der Gefahr von Misshandlungen auszusetzen
(93) [...] Die Ausweisung eines Ausländers kann dann eine Frage unter Art 3 EMRK aufwerfen [...], wenn stichhaltige Gründe gezeigt wurden, die ein reales Risiko für eine gegen Art 3 EMRK verstoßende Behandlung [...] im Zielstaat glaubhaft machen. [...]
(94) Im Fall einer Auslieferung unterliegt ein Vertragsstaat der Pflicht zur Kooperation in internationalen Strafsachen. Diese Pflicht gilt jedoch vorbehaltlich der Verpflichtung [...], den absoluten Charakter des Verbots von Art 3 EMRK einzuhalten. Daher muss jede Behauptung eines realen Risikos einer mit Art 3 EMRK unvereinbaren Behandlung im Fall einer Auslieferung [...] dem selben Prüfungsniveau unterliegen, ungeachtet der gesetzlichen Grundlage für die Entfernung.
b.Umfang der Beurteilung: generelle Situation und individuelle Umstände
(95) Die Beurteilung des Risikos hat sich auf die vorhersehbaren Konsequenzen der Abschiebung des Bf in den Zielstaat, im Licht der generellen Situation dort und seiner oder ihrer persönlichen Umstände, zu beschränken [...].
(96) Ausgangspunkt der Beurteilung sollte die Prüfung der allgemeinen Situation im Zielland sein. [...] Sofern relevant ist zu beachten, ob im Zielland eine allgemeine Gewaltsituation vorherrscht [...]. [...] Für sich genommen verletzt eine allgemeine Gewaltsituation im Fall einer Ausweisung [...] nicht Art 3 EMRK, außer das Gewaltniveau lässt den Schluss zu, dass jede Abschiebung in dieses Land zwingend Art 3 EMRK verletzen würde. Diesen Ansatz würde der GH nur in den gravierendsten Fällen wählen [...].
(97) In Fällen, in denen ein Bf behauptet, Mitglied einer Gruppe zu sein, die systematisch Misshandlungen ausgesetzt ist, [...] ist Art 3 EMRK anwendbar, wenn er aufzeigt, soweit erforderlich aufgrund verfügbarer Quellen, dass es ernste Gründe gibt, an derartige Praktiken und seine Mitgliedschaft in der betreffenden Gruppe zu glauben [...].
(98) Die Beurteilung dieser Behauptungen unterscheidet sich von der Prüfung der generellen Gewaltsituation einerseits [...] und individueller Umstände andererseits.
(99) Der erste Schritt [...] ist, im Rahmen der »allgemeinen Situation der Risikobeurteilung« zu prüfen, ob die Existenz einer Gruppe, die systematischer Misshandlung ausgesetzt ist, aufgezeigt wurde. Bf, die Mitglieder dieser [...] Gruppe sind, sollen nicht die allgemeine Situation beschreiben, sondern die Existenz einer Praxis oder eines erhöhten Risikos der Misshandlung für ihre Gruppe [...]. Danach sollten sie ihre Mitgliedschaft in dieser Gruppe darlegen [...].
(100) In Fällen, in denen trotz begründeter Angst vor Verfolgung hinsichtlich bestimmter risikoerhöhender Umstände nicht nachgewiesen werden kann, dass eine Gruppe einer systematischen Misshandlung ausgesetzt ist, haben die Bf [...] weitere besondere Unterscheidungsmerkmale aufzuzeigen, die sie einem realen Risiko der Misshandlung aussetzen könnten. Können solche individuellen Umstände nicht aufgezeigt werden, wird der GH keine Verletzung von Art 3 EMRK feststellen [...].
(101) In Fällen, in denen [...] die betreffenden Personen im Fall ihrer Abschiebung einem realen Risiko einer Behandlung entgegen Art 3 EMRK ausgesetzt wären, untersuchte der GH anschließend, ob die in diesem Fall erhaltenen Zusicherungen ausreichend waren, um jedes Risiko der Misshandlung zu beseitigen [...]. Jedoch sind Zusicherungen nicht [schon] für sich genommen ausreichend, um einen angemessenen Schutz gegen das Risiko von Misshandlungen zu bieten. Es ist zu prüfen, ob Zusicherungen in ihrer praktischen Anwendung eine ausreichende Garantie bieten, dass der Bf vor dem Risiko von Misshandlungen geschützt wird. Das Gewicht, mit dem Zusicherungen zu berücksichtigen sind, hängt in jedem Einzelfall von den zum maßgeblichen Zeitpunkt herrschenden Umständen ab.
c.Art der Beurteilung durch den GH
(102) [...] Nach Art 1 EMRK obliegt die primäre Verantwortung zur Umsetzung und Durchführung der garantierten Rechte und Freiheiten den nationalen Behörden. Das Beschwerdeverfahren vor dem GH ist daher subsidiär [...].
(103) Der GH muss jedoch davon überzeugt sein, dass die von den Behörden des Vertragsstaats durchgeführte Beurteilung angemessen und hinreichend sowohl von inländischen Dokumenten als auch von Materialien anderer verlässlicher und objektiver Quellen, wie zB anderer Vertrags- oder Nicht-Vertragsstaaten, Agenturen der UN und namhaften NGOs, unterstützt ist [...].
(104) Darüber hinaus ist es nicht Aufgabe des GH, [...] die Tatsachenbeurteilung der nationalen Gerichte durch seine eigene zu ersetzen. Diese Gerichte haben, als generelle Regel, direkt die Beweise zu beurteilen [...].
(105) Generell können die nationalen Behörden am besten nicht nur die Faktoren, sondern insb die Glaubwürdigkeit von Zeugen beurteilen, da sie die Möglichkeit haben, den betreffenden Einzelnen [...] anzuhören und sein Verhalten zu bewerten. Ihre Beurteilung ist jedoch Gegenstand der Überprüfung durch den GH [...].
(106) Wenn der Bf nicht bereits abgeschoben wurde, muss der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung [der Zeitpunkt] sein, zu dem der GH den Fall prüft [...]. Eine vollständige Ex-nunc-Prüfung ist geboten, wenn Informationen, die nach der finalen Entscheidung der nationalen Gerichte hervorgekommen sind, zu berücksichtigen sind [...]. [...] Dies zeigt, dass das Ex-nunc-Prinzip eine Absicherung in Fällen bietet, in denen seit der gerichtlichen Entscheidung und der Prüfung der Beschwerde vor dem GH erhebliche Zeit vergangen ist und sich die Situation im Empfangsstaat [...] verschlechtert oder verbessert haben könnte.
(107) Der GH betont, dass jede Feststellung in solchen Fällen über die allgemeine Situation in einem bestimmten Land und deren Dynamik sowie die Feststellung des Vorhandenseins einer bestimmten schutzbedürftigen Gruppe ihrem Wesen nach eine faktische Ex-nunc-Bewertung ist, die der GH auf der Grundlage des vorliegenden Materials vornimmt.
(108) In einigen Kammerentscheidungen hatte der GH zu prüfen, ob sich die allgemeine Situation im Zielland hinsichtlich des Risikos der Misshandlung seit seinen vorherigen Urteilen, in denen er Risiken festgestellt hatte, verändert hat oder nicht [...]. Dabei hat der GH eine »Verbesserung« nicht als eigenes Element oder Kriterium gewertet, das bei Beurteilung der allgemeinen Situation zu erfüllen ist, sondern diesen Gedanken lediglich zur Beschreibung der Entwicklungen im betreffenden Land verwendet [...]. Dies hat er auch in den Fällen gemacht, in denen Verbesserungen der allgemeinen Situation [...] unzureichend waren [...]. Dementsprechend ist jede Beurteilung, ob es eine Verbesserung oder Verschlechterung der allgemeinen Situation in einem bestimmten Land gab, eine faktische Beurteilung und der Abänderung seitens des GH im Licht verändernder Umstände zugänglich. Es spricht daher nichts dagegen, dass eine Kammer in einem einzelfallbezogenen Urteil eine solche Überprüfung der allgemeinen Situation vornimmt.
d.Beweislastverteilung
(109) Die Beurteilung der Existenz eines realen Risikos muss notwendigerweise streng sein [...]. Es obliegt grds dem Bf, Beweise zu erbringen, die ernsthafte Gründe [...] eines realen Risikos der Behandlung entgegen Art 3 EMRK nahelegen [...]. Wurden solche Beweismittel beigebracht, liegt es an der Regierung, jegliche dadurch aufgeworfene Zweifel zu beseitigen [...].
(110) Hinsichtlich Behauptungen über ein individuelles Risiko haben Personen, die eine Verletzung von Art 3 EMRK durch ihre Abschiebung behaupten, soweit wie praktisch möglich Materialien und Informationen beizubringen, die den nationalen Behörden [...] und dem GH eine Beurteilung des mit der Abschiebung einhergehenden Risikos ermöglichen [...]. [...]
(111) [...] Bei Behauptungen, die sich auf ein bekanntes generelles Risiko beziehen und bei denen Informationen über dieses Risiko aus zahlreichen Quellen nachweisbar sind, folgt aus den staatlichen Verpflichtungen nach Art 2 und 3 EMRK, dass die Behörden von sich aus eine Bewertung dieses Risikos vornehmen müssen [...].
(112) Diese Grundsätze gelten auch für Behauptungen über die Zugehörigkeit zu einer vulnerablen Gruppe [...].
e.Relevante Materialien
(114) Bei der Beurteilung des Gewichts, das den Materialien über ein Land beizumessen ist, hat der GH entschieden, dass deren Quelle zu berücksichtigen ist, insb ihre Verlässlichkeit und Objektivität. Hinsichtlich von Berichten sind die Kompetenz und Reputation des Autors, die Ernsthaftigkeit, mit der Untersuchungen durchgeführt wurden, die Konsistenz der Schlussfolgerungen und deren Bekräftigung durch andere Quellen relevante Erwägungen [...].
(115) Der GH erkennt auch an, dass die Anwesenheit und Möglichkeiten der Berichterstattung des Autors des Materials in dem betreffenden Land berücksichtigt werden müssen. [...]
(116) Bei der Beurteilung der behaupteten Risiken kann der GH auch relevantes Material von Amts wegen sammeln. Dieser Grundsatz ist in der Rsp des GH wohletabliert [...], und es wäre im Hinblick auf Art 3 EMRK in Fällen der Ausweisung oder Abschiebung von Ausländern zu eng betrachtet, wenn der GH, als internationaler Gerichtshof für Menschenrechte, lediglich Materialien der nationalen Behörden des betreffenden Vertragsstaats berücksichtigen würde, ohne diese mit Materialien aus anderen verlässlichen und objektiven Quellen zu vergleichen [...].
2.Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den vorliegenden Fall
(118) Der GH bemerkt, dass er zwischen 2012 und 2016 in neun Fällen über die Auslieferung ethnischer Usbeken von Russland nach Kirgisistan zu entscheiden hatte [...]. In diesen Fällen hat der GH, auch wenn er die generelle menschenrechtliche Situation, obwohl hochproblematisch, nicht als jeder Auslieferung entgegenstehend betrachtete, festgestellt, dass spezifische Berichte eine gezielte und systematische Misshandlung von ethnischen Usbeken zur damaligen Zeit aufzeigten und diese daher einem realen Risiko der Misshandlung unterlagen. Der GH wird im Folgenden beurteilen, ob die gegenwärtig verfügbaren Informationen und Materialien weiterhin zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der beiden Bf im vorliegenden Fall führen, nämlich dass ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe für die Begründung eines realen Risikos ausreicht.
a.Die Umstände in den Fällen der Bf
(119) Der GH hält fest, dass nahezu sechs Jahre seit der finalen gerichtlichen Entscheidung im Fall der Bf vergangen sind. Daher muss die GK nach dem Ex nunc-Prinzip die Frage eines realen Risikos zur Zeit ihrer Prüfung des Falls beurteilen.
b.Allgemeine Situation in Kirgisistan
(120) Einleitend betont der GH, dass er trotz geäußerter Bedenken über wiederholte Fälle von Misshandlungen in Kirgisistan bislang keine ausreichende Grundlage fand zu entscheiden, dass die allgemeine Situation generell sämtliche Abschiebungen in dieses Land verbiete [...].
(121) Die verfügbaren Berichte der UN-Menschenrechtsorganisationen und der [...] NGOs über die gegenwärtige Situation in Kirgisistan zeigen weiterhin, dass Folter und Misshandlung, das Fehlen effektiver Ermittlungen und [deren] wiederkehrende Straflosigkeit ein großes Problem in Kirgisistan sind [...]. (Anm: Vgl die in Rn 122-125 des Urteils zusammengefassten Berichte, zB Dritter regelmäßiger Bericht von Kirgisistan an den UN-Menschenrechtsausschuss nach Art 40 UN-Zivilpakt; EU, Jahresbericht über Menschenrechte und Demokratie in der Welt (2019); Amnesty International, Human Rights in Eastern Europe and Central Asia (2019); Human Rights Watch, World Report (2020); Freedom House, Freedom in the World (2020).)
(126) Ungeachtet [...] rechtlicher und institutioneller Veränderungen stellt der GH fest, dass internationale Quellen weiterhin Bedenken gegen unzureichende Maßnahmen der kirgisischen Behörden zur Verhinderung von Folter und anderen Misshandlungen in der Praxis sowie zu deren verbreiteter Straflosigkeit äußern. Jedoch stützen die verfügbaren internationalen Materialien nicht die Feststellung, dass die allgemeine Situation im Land sich entweder im Vergleich zu den vorigen Beurteilungen verschlechtert hätte, in denen der GH keine Ergebnisse zum generellen Verbot von Abschiebungen nach Kirgisistan fand, oder ein Niveau erreicht hätte, das Auslieferungen in dieses Land komplett verbieten würde [...].
c.Die Situation ethnischer Usbeken in Kirgisistan
(127) Die Bf argumentierten stets [...], dass sie aufgrund ihrer usbekischen Wurzeln zu einer gefährdeten Gruppe gehörten und im Fall ihrer Auslieferung an Kirgisistan der Gefahr von Misshandlungen ausgesetzt seien. Diese Behauptungen verbinden Elemente der allgemeinen Situation in einem Land und solcher über individuelle Umstände. Daher setzen diese hinsichtlich der allgemeinen Situation einen verlässlichen und objektiven Beweis voraus, dass die fragliche Gruppe systematischer Misshandlung ausgesetzt ist, und hinsichtlich der individuellen Umstände, dass die Bf dieser Gruppe zugehörig sind (vgl Rn 99 und 111 f).
(129) Wie oben aufgezeigt wurde, stellte der GH in einigen Fällen hinsichtlich der Auslieferung von ethnischen Usbeken nach Kirgisistan fest, dass diese einem realen Risiko der Misshandlung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft ausgesetzt waren [...].
(130) Daher wird der GH seine Überprüfung auf den spezifischen Vorwurf konzentrieren, dass ethnische Usbeken einem erhöhten Risiko der Misshandlung [im Vergleich zu anderen Personen] unterliegen. Dabei wird er sämtliche Zeichen einer Verbesserung oder Verschlechterung der menschenrechtlichen Situation im Allgemeinen oder hinsichtlich einer bestimmten Gruppe oder Gegend berücksichtigen, die für die Umstände der Bf relevant sein könnten [...].
(132) Hinsichtlich der gegenwärtigen Situation bemerkt der GH, dass keine spezifischen Berichte über ethnisch basierte Folter ethnischer Usbeken existieren, im Gegensatz zu anderen ethnisch bedingten Risiken wie Unsicherheit, Diskriminierung in Fragen der Wirtschaft und Sicherheit, ethnischem Profiling und politischer Ausgrenzung [...]. Während es in Folge der ethnischen Konflikte im Juni 2010 spezifische Beweise gab, die ein erhöhtes Risiko der Misshandlung von ethnischen Usbeken zeigten, enthalten die oben genannten Berichte keine derartigen Anhaltspunkte mehr. Daher hat der GH keinen Grund zum Ergebnis zu gelangen, dass ethnische Usbeken eine Gruppe sind, die immer noch systematischer Misshandlung ausgesetzt ist. [...]
d.Die individuellen Umstände der Bf
(133) Der ErstBf wurde in Kirgisistan wegen schwerer Veruntreuung angeklagt, der ZweitBf wegen schwerer Gewalttaten [...]. Hinsichtlich der Art der Anklagen betonten die Bf in ihren Eingaben die ethnische Komponente der Anklagen gegen sie beide. Sie bestritten die Qualifikation der Anklagen seitens der Kammer als von »gewöhnlicher krimineller Art« und »nicht prima facie auf die ethnische usbekische Herkunft der Bf oder ihre daraus folgende politische Verfolgung gerichtet« [...].
(134) Hinsichtlich der Anklagen wegen Veruntreuung gegen den ErstBf merkt die GK an, dass keine stichhaltigen Beweismittel für die behauptete, diesen zugrunde liegende ethnische Voreingenommenheit vorgebracht wurden. Der ErstBf behauptete, dass das Strafverfahren gegen ihn erst 2010 eingeleitet worden sei und einer gegen ethnische Usbeken angewendeten Strategie entsprochen habe, diese zur Bezahlung von Schmiergeldern und zur Abnötigung ihres Eigentums zu zwingen. Jedoch werden diese Vorwürfe nicht durch irgendwelche spezifischen und konkreten Fakten unterstützt, außer der Referenz auf den Zeitpunkt der Eröffnung des Ermittlungsverfahrens und der Schlussfolgerung, die der GH daraus ziehen soll. Obwohl der ErstBf vorbrachte, dass die Anklagen gegen ihn weder detailliert noch durch Beweismittel substantiiert waren und dass dies die ethnisch motivierte Verfolgung zeigen würde, bemerkt der GH, dass die Anklagen gegen ihn ausreichend detailliert waren, da sie beide Opfer und den mutmaßlich von ihm veruntreuten
Betrag enthielten [...]. Da keiner seiner Vorwürfe von irgendeinem Beweis unterstützt wird und nicht über eine Spekulation hinausgeht, wurde kein verlässliches individuelles Risiko der Misshandlung in seinem Fall aufgezeigt.
(135) Hinsichtlich des ZweitBf hält der GH fest, dass die Anklagen gegen ihn schwere Gewalttaten aufgrund ethnischen Hasses während der Ereignisse im Juni 2010 betrafen. Die bloße Tatsache, dass der Bf seine Opfer mutmaßlich anhand der Ethnie auswählte und Gewalt gegen Personen kirgisischer Herkunft während ethnischer Konflikte ausübte, bedeutet nicht automatisch, dass er selbst Opfer ethnischer Verfolgung oder Voreingenommenheit ist. Seine Behauptung, das Strafverfahren gegen ihn sei konstruiert oder der Vorwurf des ethnischen Hasses gegen den kirgisischen Teil der Bevölkerung habe ihn Vorurteilen ausgesetzt, die in Misshandlungen umschlagen könnten, bedarf einer gesonderten und angemessenen Begründung. Da der ZweitBf seine Behauptung [jedoch] nicht [...] begründen konnte oder seine wiederholten Reisen nach und von Kirgisistan nach Juni 2010 sowie seinen dort bezogenen neuen Pass einige Monaten nach Einreise in Russland vernünftig erklären konnte [...], wurde kein verlässliches individuelles Risiko der
Misshandlung in seinem Fall aufgezeigt.
(136) Der GH betont, dass hinsichtlich der individuellen Umstände die Beweislast beim Bf liegt, der soweit wie praktisch möglich Material und Informationen beibringen muss, die es den Behörden des betreffenden Mitgliedstaats sowie dem GH ermöglichen, das mit seiner Abschiebung verbundene Risiko zu beurteilen (s Rn 110). Der GH stellt fest, dass die russischen Gerichte ihren Verpflichtungen aus der Konvention nachgekommen sind, indem sie das Vorliegen der individuellen Risiken, die die Auslieferung der Bf verhindern könnten, sorgfältig und angemessen geprüft haben. Beide Bf [...] haben es versäumt, vor den inländischen Gerichten, der Kammer oder der GK das Vorhandensein von politischen oder ethnischen Motiven hinter ihrer Verfolgung in Kirgisistan oder von weiteren besonderen Unterscheidungsmerkmalen nachzuweisen, die sie einem realen Risiko der Misshandlung aussetzen würden.
(138) Die GK nimmt die Zusage des belangten Staats zur Kenntnis, dass die Bf nach ihrer Auslieferung in den Genuss der von den kirgisischen Behörden gegebenen Zusicherungen kommen werden, einschließlich der überwachenden Besuche durch russisches diplomatisches Personal in Kirgisistan [...]. In Anbetracht der vorstehenden Feststellungen hält es der GH jedoch nicht für gerechtfertigt, über diese Zusicherungen in den Fällen der Bf zu entscheiden (s Rn 101).
e.Ergebnis
(139) Daher wäre Art 3 EMRK im Fall der Auslieferung der Bf von Russland nach Kirgisistan nicht verletzt (einstimmig).
II.Art 39 VerfO
(140) Der GH hält fest, dass die gegenständliche Entscheidung nach Art 44 Abs 1 EMRK endgültig ist. Daher enden die vorgehenden an die russische Regierung gemäß Art 39 VerfO am 16.6. und 12.10.2015 bezeichneten vorläufigen Maßnahmen
Vom GH zitierte Judikatur:
Salah Sheekh/NL, 11.1.2007, 1948/04 = NL 2007, 8
Saadi/IT, 28.2.2008, 37201/06 (GK) = NL 2008, 36
NA./GB, 17.7.2008, 25904/07 = NL 2008, 221
Sufi und Elmi/GB, 28.6.2011, 8319/07, 11449/07 = NLMR 2011, 164
Makhmudzhan Ergashev/RU, 16.10.2012, 49747/11
R./RU, 26.1.2016, 11916/15
F. G./SE, 23.3.2016, 43611/11 (GK) = NLMR 2016, 105
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.4.2022, Bsw. 28492/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2022, 103) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.