Bsw13344/20 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache A. L. gg Frankreich, Urteil vom 7.4.2022, Bsw. 13344/20.
Spruch
Art. 8 EMRK - Verspätete Entscheidung über Vaterschaft für ein von Leihmutter geborenes Kind.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 20.450,94- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf schaltete 2012 gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Ma. ein Online-Inserat um eine Frau zu finden, die sich als Leihmutter zur Verfügung stellen würde. Frau B. erklärte sich in der Folge bereit, sich gegen Bezahlung mit den Spermien des Bf befruchten zu lassen. Ihr gemeinsames Kind S. wurde am 8.3.2013 geboren. B. übergab das Kind allerdings gegen Bezahlung von € 15.000,– an das Ehepaar R. und teilte dem Bf und seinem Partner mit, dass es verstorben sei. Dem Ehepaar R. waren weder die Abstammungsverhältnisse von S. bekannt noch die Existenz des Bf und seines Partners.
Noch vor seiner Geburt war S. von Frau B. und Herrn Ma. anerkannt worden. Außerdem erfolgte am 17.9.2012 bei einem anderen Standesamt eine Anerkennung durch Frau B. und Herrn R., der auch in der Geburtsurkunde des Kindes als Vater genannt wird.
Am 26.3.2013 äußerte eine Mitarbeiterin der Entbindungsklinik gegenüber der Staatsanwaltschaft den Verdacht, dass S. im Rahmen eines Leihmutterschaftsvertrags gezeugt worden sei, woraufhin Ermittlungen eingeleitet wurden. B. wurde wegen Betrugs verurteilt, der Bf und sein Partner sowie später das Ehepaar R. wegen Anstiftung zur Aussetzung eines Kindes.
Am 19.7.2013 brachte der Bf eine Klage ein, mit der er die Vaterschaft anfocht und die Feststellung seiner eigenen Vaterschaft in Bezug auf S. beantragte.
Der Klage des Bf wurde am 23.3.2017 stattgegeben, da er erwiesenermaßen der Vater des Kindes war und B. nicht bestritt, mit seinen Samenzellen befruchtet worden zu sein. Vom Erstgericht wurde angeordnet, dass S. den Namen des Bf führen solle, es übertrug dem Bf das alleinige elterliche Sorgerecht und legte den Wohnsitz des Kindes ab Ende 2017 bei ihm fest. Bis dahin sollte der Bf ein schrittweise ansteigendes Kontaktrecht zu S. haben. Herr R. erhob gegen dieses Urteil Berufung. Die Vollstreckung der vom Erstgericht verfügten Anordnungen wurden am 28.7.2017 durch einstweilige Verfügung des Berufungsgerichts in Rouen ausgesetzt. Am 31.5.2018 hob das Berufungsgericht die erstinstanzliche Entscheidung auf und erklärte die Anträge des Bf für unbegründet.
Dagegen erhob der Bf Beschwerde, die am 12.9.2019 vom Cour de cassation zurückgewiesen wurde.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), da sein Antrag auf Feststellung der Vaterschaft in Bezug auf seinen biologischen Sohn [...] abgewiesen wurde.
I.Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
1.Zulässigkeit
(35) [...] Der GH [...] hat wiederholt entschieden, dass ein Verfahren zur Feststellung oder Anfechtung der Vaterschaft eines Einzelnen dessen Privatleben iSv Art 8 EMRK betrifft. Der Begriff des Privatlebens umfasst wichtige Aspekte der persönlichen Identität, wie etwa Vaterschaft und Abstammung.
(36) [...] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen [...] unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
2.In der Sache
(46) Die Zurückweisung des Antrags des Bf betreffend die rechtliche Feststellung seiner Vaterschaft zu S., dessen biologischer Vater er erwiesenermaßen ist, stellt einen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens dar. Dies war zwischen den Parteien [...] unstrittig.
(47) Ein solcher Eingriff verstößt gegen Art 8 EMRK, es sei denn er ist »gesetzlich vorgesehen«, verfolgt ein [...] legitimes Ziel [...] und ist zu dessen Verwirklichung »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig«.
a.Gesetzlich vorgesehen
(48) Wie die Regierung betont, war dieser Eingriff, dessen rechtliche Grundlage das im französischen Recht bestehende Verbot von Verträgen über Leihmutterschaften darstellt, gesetzlich vorgesehen. Der GH stellt fest [...], dass die Art 16-7 und 16-9 des Zivilgesetzbuchs explizit die Nichtigkeit von Leihmutterschaftsvereinbarungen statuieren und festhalten, dass es sich dabei um eine Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen den ordre public handelt.
b.Legitimes Ziel
(49) Der Eingriff verfolgte zumindest eines der in Art 8 Abs 2 EMRK aufgezählten Ziele: den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, insb jener des betroffenen Kindes.
c.Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft
i.Allgemeine Grundsätze
(50) Es bleibt festzustellen, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war, um das verfolgte Ziel zu erreichen, wobei unter dem Begriff der »Notwendigkeit« ein Eingriff verstanden wird, der auf einem zwingenden gesellschaftlichen Bedürfnis gründet und insb im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig ist. [...] Der GH muss unter gesamtheitlicher Betrachtung des Sachverhalts prüfen, ob die innerstaatlichen Gründe zur Rechtfertigung [des Eingriffs] im Hinblick auf Art 8 Abs 2 EMRK geeignet und ausreichend waren. Es ist nicht seine Aufgabe, an die Stelle der nationalen Behörden zu treten, die direkte Beziehungen zu allen Beteiligten haben, sondern die Entscheidungen, die sie in Ausübung ihres Ermessens getroffen haben, im Licht der EMRK zu beurteilen.
(51) [...] Der GH hat einerseits festgestellt, dass der Ermessensspielraum üblicherweise eingeschränkt ist, wenn ein besonders wichtiger Aspekt der Existenz oder der Identität eines Einzelnen betroffen ist, was der Fall ist, wenn es um die Abstammung [...] geht. Andererseits hat der GH in der Sache Ahrens/DE [...] festgestellt, dass er weiter ist, wenn es darum geht, den Rechtsstatus des Kindes festzustellen, als bei der Entscheidung über Fragen in Bezug auf Rechte betreffend die Aufrechterhaltung der Bindung zwischen einem Kind und einem Elternteil. Aus diesem Punkt und insb in Ermangelung eines Konsenses zwischen den Vertragsstaaten in dieser Frage leitete der GH ab, dass die Entscheidung darüber, ob ein Einzelner berechtigt sein sollte, die rechtlich festgestellte Vaterschaft in Bezug auf ein Kind anzufechten, von dem er glaubt, der biologische Vater zu sein, in den Ermessensspielraum der Staaten fällt. Er hat gleichzeitig festgestellt, dass deren Ermessensspielraum wichtig ist, wenn es darum geht,
einander widerstreitende Grundrechte zweier Personen gegeneinander abzuwägen.
(52) Die vom Staat getroffenen Entscheidungen entziehen sich allerdings nicht der Kontrolle durch den GH. Es obliegt ihm, die Argumente sorgfältig zu prüfen, die [...] der gewählten Lösung zugrunde liegen, und zu untersuchen, ob ein gerechter Ausgleich zwischen den berührten Interessen geschaffen wurde. Dabei muss er den maßgeblichen Grundsatz berücksichtigen, nach dem jedes Mal, wenn es um die Situation eines Kindes geht, das Wohl des Kindes Vorrang haben muss.
(53) [...] In einem Dreieckskonflikt zwischen dem sozialen und rechtlichen Vater, dem biologischen Vater und der Mutter des Kindes sind daher die Forderungen des biologischen Vaters, ein Recht auf Information oder ein Kontaktrecht zum Kind zu erlangen oder einen vollen rechtlichen Status als Vater, anhand des Kindeswohls zu beurteilen.
(54) Im Rahmen seiner Kontrolle obliegt es im Übrigen dem GH zu prüfen, ob der Entscheidungsprozess in seiner Gesamtheit dem Bf den erforderlichen Schutz seiner Interessen gewährleistet hat. Dies umfasst eine Prüfung der Dauer des Verfahrens. Eine besondere Sorgfaltspflicht ist durchaus geboten, wenn die Beziehung einer Person mit ihrem Kind auf dem Spiel steht, zumal der Zeitablauf zur Folge haben kann, dass die Frage durch vollendete Tatsachen entschieden wird.
(55) Es obliegt jedem Vertragsstaat, sich mit einem angemessenen und ausreichenden rechtlichen Instrumentarium auszustatten, um die Einhaltung der positiven Verpflichtungen aus Art 8 EMRK sicherzustellen, worunter die Verpflichtung zur besonderen Sorgfalt fällt, wenn es um die Beziehung eines Einzelnen zu seinem Kind geht.
ii.Anwendung im vorliegenden Fall
(56) Im vorliegenden Fall veranlassen die in Rn 51 genannten Grundsätze den GH dazu, dem belangten Staat einen erheblichen Ermessensspielraum einzuräumen, da es insb darum ging, die von der EMRK geschützten Rechte abzuwägen: einerseits das Recht auf Achtung des Privatlebens des Bf, andererseits das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Kindes S., das [...] den Grundsatz des Vorrangs des Kindeswohls beinhaltet.
(57) Die Notwendigkeit, das Kindeswohl zu schützen, und der Ermessensspielraum, der den nationalen Behörden in diesem Bereich zukam, waren unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles äußerst wichtig, in dem, wie die Regierung geltend macht, gleichzeitig ein Strafverfahren gegen den Bf, seinen Partner, das Ehepaar R. sowie die Leihmutter eröffnet wurde.
(58) Was die Begründung der innerstaatlichen Gerichte betrifft, stellt der GH fest, dass das Berufungsgericht in Rouen die Anträge des Bf zwar für unbegründet erklärte, weil sie auf einer Situation beruhten, die aus einem Leihmutterschaftsvertrag resultierte, der mit einer Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen den ordre public behaftet war, sich aber auch bemühte, die berührten Interessen abzuwägen, wie der Cour de cassation in seinem Urteil vom 12.9.2019 anerkannte. Er hielt dabei fest, dass es unter Berücksichtigung der Geschichte von S. nicht notwendigerweise in dessen bestem Interesse sei, seine derzeitigen Abstammungsverhältnisse zu ändern und seine Abstammung von seinem biologischen Vater festzustellen, sondern vielmehr weiterhin beim Ehepaar R. zu leben. Der GH stellt diesbezüglich fest, dass die Schlussfolgerungen des Ad hoc-Kurators vor dem Berufungsgericht, der zur Vertretung der Interessen von S. bestellt wurde, in diese Richtung gingen. Er hat überdies geltend gemacht, dass das übergeordnete Interesse von S. erforderte, dass man ihm einen stabilen rechtlichen Status verlieh, dass sich S. unter guten Bedingungen beim Ehepaar R. entwickeln würde und dass er zwar das Recht habe, seine Abstammung zu erfahren, dass es ihm aber auch [...] zustünde, in Ruhe in der Familie zu leben, die ihn seit seiner Geburt aufgezogen hat.
(59) Der GH stellt zudem fest, dass der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen zum Urteil vom 12.9.2019 den Cour de cassation aufgefordert hat, sich bei der Beurteilung der Zulässigkeit des Antrags des biologischen Vaters nicht genauestens an die Verbote zu halten, sondern zu berücksichtigen, dass es bei der Anwendung der Regeln von Art 16 ff des Zivilgesetzbuchs eine Ausnahme gibt, nämlich ihre Unvereinbarkeit mit dem Kindeswohl. In diesem Zusammenhang stellte der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen fest, dass das Berufungsgericht das mit dem ordre public begründete Verbot der Leihmutterschaft und das vorrangige Interesse des Kindes in concreto gemeinsam geprüft hat und er war unter den gegebenen Umständen der Auffassung, dass das Berufungsgericht daraus [...] Konsequenzen gezogen hat, indem es die Klage des Bf für unzulässig erklärte. Der Cour de cassation ist den Empfehlungen seines Generalanwalts gefolgt, indem er eine solche Prüfung durchführte und zu dem Schluss kam, dass das Berufungsgericht durch die Abwägung der beteiligten Interessen, darunter jene des Kindes, denen es Vorrang einräumte, die [...] Erfordernisse von Art 8 EMRK nicht missachtet hat.
(60) Unter diesen Umständen kommt der GH zum Ergebnis, dass das Berufungsgericht unter der Kontrolle des Cour de cassation das Kindeswohl, dessen konkreter Charakterisierung es sich annahm, ordnungsgemäß ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt und dabei die biologischen Tatsachen berücksichtigt hat, auf die sich der Bf berief.
(61) Hinsichtlich des letzten Punkts geht aus der Rsp des GH hervor, dass die biologischen Tatsachen in Fällen wie dem vorliegenden unzweifelhaft Gewicht haben, dieses Element aber gegenüber dem Kindeswohl zurücktritt, wenn sie nicht übereinstimmen. Der GH verweist [...] auf die genannte Rechtssache Ahrens/DE, deren Umstände in gewissen Punkten mit den vorliegenden vergleichbar sind und wo er zum Schluss kam, dass keine Verletzung von Art 8 EMRK erfolgte.
(62) [Im Fall Ahrens/DE] hatte ein Mann [...] die Vaterschaftsanerkennung eines anderen in Bezug auf das Kind seiner ehemaligen Lebensgefährtin angefochten. Ein Gutachten [...] stellte fest, dass er der biologische Vater des Kindes war. Er konnte sein Recht im erstinstanzlichen Verfahren durchsetzen, das Berufungsgericht hob die Entscheidung allerdings unter Berücksichtigung des Kindeswohls und mit der Begründung auf, dass eine soziale und familiäre Beziehung zwischen dem Kind und demjenigen bestand, der die angefochtene Vaterschaftsanerkennung vorgenommen hatte. Der GH bedachte den Umstand, dass wenn das Verfahren erfolgreich wäre, die familiäre Bindung zwischen dem Kind und dem Mann, der es anerkannt hatte und sein sozialer Vater war, durchtrennt werden würde. [...] Art 8 EMRK könne so ausgelegt werden, dass die Vertragsstaaten verpflichtet seien zu prüfen, ob es im Interesse des Kindes liege, dem biologischen Vater zu gestatten, eine Beziehung zu seinem Kind aufzubauen, beispielsweise indem ihm ein
Kontaktrecht gewährt wird. Er fügte aber hinzu, dass dies nicht zwangsläufig eine Verpflichtung [...] erfasse, dem biologischen Vater zu e-rlauben, den Status des rechtlichen Vaters anzufechten [...] und führte aus, dass die Entscheidung, ob dem biologischen Vater in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls erlaubt wird, die Vaterschaft anzufechten oder nicht, im Ermessensspielraum des Staats liegt.
(63) Im vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass die Stattgebung der Anträge des Bf nicht nur zur Feststellung seiner Vaterschaft gegenüber S. geführt hätten, sondern auch zur Ausübung der Elternrechte durch den Bf. Was die Situation des Kindes betrifft, hätte dies seine rechtliche Beziehung zu R. und die familiäre Struktur beendet, in der es seit seiner Geburt stabil aufgewachsen ist. Der GH erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass das Berufungsgericht in Rouen im Sinne der Schlussfolgerungen des Ad hoc-Kurators entschied, der vor ihm die Interessen von S. vertrat.
(64) Der GH hält fest, dass sein Urteil in keiner Weise dem Ausgang der Schritte vorgreift, die S. oder seine gesetzlichen Vertreter gegebenenfalls in Zukunft im Hinblick auf seine Abstammung setzen werden und stellt fest, dass das Berufungsgericht in Rouen angedeutet hat, dass es im Interesse von S. sein könnte, dass er »zu gegebener Zeit« die Wahrheit über seine Abstammung erfährt und dass eventuelle Kontakte mit dem Bf beabsichtigt werden.
(65) Angesichts der bisherigen Ausführungen ist der GH der Auffassung, dass die Gründe, die das innerstaatliche Gericht der Rechtfertigung des strittigen Eingriffs zugrunde gelegt hat, nach [...] Art 8 Abs 2 EMRK stichhaltig und ausreichend waren.
(66) Im Übrigen entsprach die vom Cour de cassation bestätigte Entscheidung des Berufungsgerichts in Rouen, das Kindeswohl an erste Stelle zu setzen, nicht nur den Anforderungen seiner Rsp, sondern stellte auch das einzige Mittel dar, um die verworrene und heikle Situation zu lösen, in der sich S. befand – eine Situation, für die jeder der erwachsenen Beteiligten einen Teil der Verantwortung trug, die biologische Mutter des Kindes genauso wie der Bf, sein Partner und das Ehepaar R.
(67) Im Hinblick auf die Qualität des vorliegenden Entscheidungsprozesses stellt der GH fest, dass der Bf von einem kontradiktorischen Verfahren profitierte, im Rahmen dessen er in der Lage war, die Argumente der anderen Parteien, einschließlich des Kindes S., das von einem Ad hoc-Kurator vertreten war, zu erörtern und seine eigenen Vorbringen Gerichten zur Prüfung vorzulegen, [...] die im Rahmen begründeter Entscheidungen geurteilt haben.
(68) Es bleibt allerdings festzuhalten, dass das Verfahren insgesamt etwa sechs Jahre und einen Monat gedauert hat, was nicht mit der gebotenen besonderen Sorgfaltspflicht im Einklang steht. Tatsächlich kann, wie der GH auch schon betonte, der Zeitablauf, wenn die Beziehung einer Person mit ihrem Kind auf dem Spiel steht, dazu führen, dass die Frage durch vollendete Tatsachen entschieden wird. Der Richter des Erstgerichts benötigte fast drei Jahre und acht Monate für seine Entscheidung. Das Kind S., das am 8.3.2013 geboren wurde, war zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts etwa vier Monate alt (19.7.2013). Es war vier Jahre alt, als die Entscheidung erlassen wurde (23.3.2017). Das Berufungsgericht, das am 23.3.2017 angerufen wurde, hat am 31.5.2018 entschieden, also innerhalb eines Jahres und etwas mehr als zwei Monaten. Das Kind war damals also [...] fünf Jahre alt. [...] Der Cour de cassation, der am 31.7.2018 angerufen wurde, hat sein Urteil am 12.9.2019 erlassen, also ungefähr ein Jahr und eineinhalb
Monate später. S. war somit sechseinhalb Jahre alt, als das innerstaatliche Verfahren beendet wurde.
(69) Der GH ist in diesem Punkt nicht von den Erklärungen der Regierung überzeugt. Er sieht nicht, inwiefern die Komplexität des Falles diese Dauer rechtfertigte. Darüber hinaus stellt er – neben der Berücksichtigung der Anmerkungen der Regierung bezüglich der prozessualen Instrumente, von denen der Bf Gebrauch machen hätte können [...], um das Verfahren zu beschleunigen – fest, dass es den Richtern und Beratern obliegt, [...] den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu gewährleisten.
(70) [...] Das Berufungsgericht in Rouen hat in seinem Urteil vom 31.5.2018 festgestellt, dass S. seit seiner Geburt beim Ehepaar R. lebte, was darauf hindeutet, dass es sich auf einen feststehenden, dem Zeitablauf geschuldeten Sachverhalt bezog.
(71) Nach Ansicht des GH kann nicht bestritten werden, dass der Zeitablauf Auswirkungen auf die konkrete Beurteilung des Falles [...] hatte.
(72) Der vorliegende Fall unterscheidet sich diesbezüglich also von der genannten Rechtssache Ahrens/DE, die nur drei Jahre und sieben Monate bei drei gerichtlichen Instanzen gedauert hat, und der GH konnte feststellen, dass aus der Begründung des Berufungsgerichts nicht hervorging, dass der Ausgang des Verfahrens aufgrund dieser Dauer vorherbestimmt war.
(73) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art 8 EMRK, da es der belangte Staat versäumte, die ihn unter den gegebenen Umständen treffende erforderliche Sorgfaltspflicht einzuhalten (einstimmig).
(74) Unter Verweis auf [...] Rn 65 und 66 betont der GH, dass die Feststellung einer Verletzung nicht in der Weise verstanden werden kann, dass die Einschätzung des Berufungsgerichts in Rouen in Bezug auf das Kindeswohl von S. und dessen vom Cour de cassation bestätigte Entscheidung, die Anträge des Bf zurückzuweisen, in Frage gestellt werden.
II.Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 5.000,– für immateriellen Schaden; € 20.450,94 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Anayo/DE, 21.12.2010, 20578/07 = NLMR 2011, 6 = EuGRZ 2011, 124
Ahrens/DE, 22.3.2012, 45071/09 = NLMR 2012, 88
Kautzor/DE, 22.3.2012, 23338/09 = NLMR 2012, 88
Mandet/FR, 14.1.2016, 30955/12
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.4.2022, Bsw. 13344/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2022, 133) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.