Bsw2840/10 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache OOO Memo gg Russland, Urteil vom 15.3.2022, Bsw. 2840/10.
Spruch
Art. 10 EMRK - Rufschädigungsklage einer Behörde verstößt gegen Meinungsäußerungsfreiheit.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Keine Entschädigung mangels Antrag.
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Das bf Unternehmen betreibt das Online-Medienportal »Kavkazskiy Uzel« (»Der Knoten des Kaukasus«), das sich der politischen und menschenrechtlichen Situation im Süden Russlands, einschließlich der Region Wolgograd, widmet.
Im Jahr 2008 stellte die Verwaltungsbehörde der Region Wolgograd, eine juristische Person des öffentlichen Rechts, die Zahlung von Förderungen iHv 5.294.000,– Rubel (ca € 145.000,–) an die Stadt Wolgograd ein. Die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung wurde in der Region scheinbar öffentlich diskutiert. Am 1.7.2008 publizierte »Kavkazskiy Uzel« einen Artikel mit der Überschrift »Herr S.: Büro des Bürgermeisters von Wolgograd zerstritt sich mit der Verwaltungsbehörde der Region Wolgograd aufgrund einer Busfabrik«. Auf Grundlage eines Interviews mit Herrn S., Experten beim »Fonds für die Entwicklung der Informationspolitik«, behandelte der Artikel mutmaßliche Nahebeziehungen zwischen Bediensteten der Verwaltungsbehörde der Region Wolgograd und der Busfabrik Volzhanin. Diese hätten im Zuge eines Vergabeverfahrens der Stadt Wolgograd für die Busfirma lobbyiert, die jedoch einem billigeren Bieter unterlag. Daher könne, so der Artikel, nicht ausgeschlossen werden, dass der Entzug von Förderungen seitens der
Verwaltungsbehörde ein »Racheakt« für den Ausgang des Vergabeverfahrens gewesen sei.
Am 2.10.2008 brachte die Verwaltungsbehörde der Region Wolgograd eine Zivilklage wegen Rufschädigung gegen das bf Unternehmen sowie die Redaktionsleitung des Medienportals ein. Sie begehrte den Widerruf einiger Passagen des Artikels mit der Begründung, dass die fraglichen Tatsachenbehauptungen falsch seien und das »geschäftliche Ansehen« der Verwaltungsbehörde beeinträchtigt hätten. Das bf Unternehmen erwiderte, dass die bestrittenen Passagen Werturteile waren, eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse behandelten und die Klägerin als Verwaltungsbehörde eher der Kritik ausgesetzt werden dürfe als Privatpersonen.
Am 8.4.2009 gab das Bezirksgericht Ostankinskiy/Moskau der Klage statt und verurteilte das bf Unternehmen zur Veröffentlichung eines Widerrufs. Die Berufung wurde vom Stadtgericht Moskau abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Das bf Unternehmen behauptete eine Verletzung von Art 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).
I.Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK
1.Zulässigkeit
(25) [...] Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
2.In der Sache
(33) Während zwischen den Parteien nicht strittig ist, dass die Entscheidung des Bezirksgerichts vom 8.4.2009, die am 16.7.2009 vom Stadtgericht Moskau bestätigt wurde, einen Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung des bf Unternehmens darstellt, sind die Parteien unterschiedlicher Auffassung darüber, ob der gegenständliche Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war, ein »legitimes Ziel« iSv Art 10 Abs 2 EMRK verfolgte und verhältnismäßig war [...].
a.Ob der Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war
(34) Der GH bemerkt, dass der Wortlaut von Art 152 Russisches Zivilgesetzbuch in der damaligen Fassung einem Bürger zum Schutz seiner Ehre, Würde und seines geschäftlichen Rufes das Recht gewährte, [...] Klage auf Rufschädigung [bzw Kreditschädigung] zu erheben. Hinsichtlich des geschäftlichen Rufes wurde die Anwendbarkeit der Bestimmung explizit auf juristische Personen erweitert [...]. Da die Verwaltungsbehörde der Region Wolgograd eine juristische Person ist, und trotz Fehlens einer nationalen stRsp zum »geschäftlichen Ruf« von Behörden, ist der GH bereit zu akzeptieren, dass der gegenständliche Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war.
b.Ob der Eingriff ein »legitimes Ziel« verfolgte
(35) Einleitend hält der GH fest, dass Klägerin des gegenständlichen zivilrechtlichen Rufschädigungsverfahrens die [oberste] Verwaltungsbehörde eines Verwaltungsgebiets der Russischen Föderation ist.
(36) Die Regierung brachte vor, dass der gegenständliche Eingriff das legitime Ziel des »Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer« verfolgt hätte. Das bf Unternehmen bestritt dies mit dem Argument, dass die Verwaltungsbehörde der Region Wolgograd keinen »geschäftlichen Ruf« für sich in Anspruch nehmen könne.
(37) Der GH betont, dass die in Art 10 Abs 2 EMRK genannten legitimen Ziele abschließend sind. Strenggenommen bietet diese Bestimmung – aufgrund ihres Ausnahmecharakters und der besonderen Rolle [der Meinungsfreiheit] in der Gesellschaft – nur Schutz für eine Staatsgewalt, [nämlich] die Judikative [...].
(38) In der stRsp des GH [...] ist das Recht auf Schutz des guten Rufes Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens gemäß Art 8 EMRK. [...]
(39) Dennoch ist der »Schutz des guten Rufes ... anderer« iSv Art 10 Abs 2 EMRK nicht nur auf natürliche Personen beschränkt, dies ungeachtet des unterschiedlichen Interesses an einem guten Ruf zwischen juristischen Personen und [...] einem Einzelnen als Mitglied der Gesellschaft, fehlt Ersteren doch die moralische Dimension der menschlichen Würde [...].
(40) Der GH hat ein legitimes »Interesse am Schutz des wirtschaftlichen Erfolgs und der Funktionsfähigkeit von Unternehmen, zum Vorteil der Inhaber und Mitarbeitenden, aber auch für das größere wirtschaftliche Wohl«, anerkannt [...]. Diese Erwägungen sind jedoch nicht auf ein Organ mit Hoheitsgewalt anzuwenden, das nicht direkt am unternehmerischen Wettbewerb teilnimmt.
(41) Hinsichtlich des Schutzes des guten Rufes öffentlicher Organe hat der GH im Fall Lombardo ua/MT angenommen, dass dieses Ziel bei einem Rufschädigungsverfahren des Gemeinderats einer Stadt mit weniger als 12.000 Einwohnern legitim sein kann – aber mit dem Hinweis, dass ein Verbot der Kritik [...] an Handlungen oder Unterlassungen eines gewählten Organs zum Schutz »des guten Rufes oder der Rechte anderer« nur in außergewöhnlichen Fällen gerechtfertigt sein kann. [...] Im Fall Romanenko ua/RU zu einem zivilrechtlichen Rufschädigungsverfahren der gerichtlichen Geschäftsabteilung, die Teil der Russischen Föderation war, nahm der GH die Existenz eines legitimen Ziels des »Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer« an [...], [allerdings] unter Anführung gewichtiger Gründe, dass öffentlichen Organen in Rufschädigungsverfahren keine Klagslegitimation zukommen solle. Darauf aufbauend verwarf der GH [auch] im Fall eines Rufschädigungsverfahrens des Universitätsklinikums Kopenhagen, einer Körperschaft des
öffentlichen Rechts, gegen Journalisten das Vorbringen der bf [Journalisten], wonach Art 10 Abs 2 EMRK nur den guten Ruf der Judikative schütze [...].
(42) In den nachfolgenden [...] Entscheidungen gegen Russland hatte der GH, weil die Parteien die Existenz eines legitimen Zieles nicht bestritten, bei der Beurteilung von Beschwerden nach Art 10 EMRK wegen Rufschädigungsverfahren eines Gefängnisses und zweier Wärter [...], einer Universität [...], des Büros des Leitenden Militärstaatsanwalts [...], der Wahlkommission [...] und einer Regionalabteilung der Partei Vereinigtes Russland [...], oder einer russischen Verwaltungsbehörde [...] die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs zu beurteilen.
(43) Da zwischen den Parteien strittig ist, ob der gegenständliche Eingriff ein legitimes Ziel nach Art 10 Abs 2 EMRK verfolgt hatte, unter Berücksichtigung des gestiegenen Bewusstseins der Risiken gerichtlicher Verfahren mit Blick auf die Einschränkung der öffentlichen Beteiligung für die Demokratie, wie dies vom Menschenrechtskommissar des Europarats betont wurde, (Anm: Mijatovic 27.10.2020, Time to take action against SLAPPs coe.int/en/web/commissioner/-/time-to-take-action-against-slapps .) sowie unter Berücksichtigung des Machtungleichgewichts zwischen Klägerin und Beklagtem im gegenständlichen Fall, hält es der GH für angebracht, im vorliegenden Fall festzustellen, ob der Eingriff – also die zivilrechtliche Klage auf Rufschädigung der Verwaltungsbehörde der Region Wolgograd gegen das bf Unternehmen, einem Medienportal – das legitime Ziel des »Schutzes des guten Rufes anderer« nach Art 10 Abs 2 EMRK verfolgte.
(44) [...] Organe der Verwaltung, die mit Hoheitsgewalt ausgestattet sind, unterscheiden sich wesentlich von juristischen Personen wie öffentlichen oder staatlichen Unternehmen, die am wirtschaftlichen Wettbewerb teilnehmen. Letztere sind auf ihren guten Ruf angewiesen, um Kunden zu akquirieren und Gewinn zu erzielen, während erstere eingerichtet wurden, um der Öffentlichkeit zu dienen, und von den Steuerzahlern finanziert werden. Um Machtmissbrauch und Korruption in einem öffentlichen Amt in einer Demokratie zu verhindern, müssen sämtliche Aktivitäten einer Behörde Gegenstand der genauen Überprüfung nicht nur durch gesetzgebende und gerichtliche Organe sein, sondern auch durch die öffentliche Meinung [...].
(45) [...] Tatsächlich wäre es eine ernsthafte Bedrohung für die Freiheit der Medien, wenn Organe der Verwaltung, die [...] jeglichen nachteiligen Anschuldigungen des »Gerichts der öffentlichen Meinung« im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit entgegentreten können, von der Kritik der Medien geschützt würden, indem ihnen ein Schutz ihres »geschäftlichen Rufs« gewährt wird. Die Legitimation von Verwaltungsorganen, Rufschädigungsverfahren gegen Mitglieder der Medien einzuleiten, stellt eine übermäßige und unverhältnismäßige Belastung für die Medien dar und könnte zwangsläufig einen abschreckenden Effekt auf die Medien in ihrer Aufgabe als Informationsübermittler und public watchdog haben [...].
(46) Der GH ist der Ansicht, dass sich die Interessen eines mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Exekutivorgans zum Schutz seines guten Rufes aufgrund seiner Rolle in einer demokratischen Gesellschaft wesentlich vom Recht auf guten Ruf einer natürlichen Person und den Interessen [an einer guten] Reputation juristischer Personen, die am Markt teilnehmen, [ob] privat oder öffentlich, unterscheiden.
(47) Daraus folgt, dass zivilrechtliche Rufschädigungsverfahren, die in eigenem Namen von einem Organ eingebracht werden, das Hoheitsgewalt ausübt, als generelle Regel nicht der Verfolgung des legitimen Ziels des »Schutzes des guten Rufes ... anderer« nach Art 10 Abs 2 EMRK dienen. Dies schließt nicht aus, dass einzelne Mitglieder eines öffentlichen Organs, die hinsichtlich der beschränkten Anzahl der Mitglieder und der Art der Anschuldigungen [...] »leicht identifizierbar« sind, ermächtigt werden können, Rufschädigungsverfahren in eigenem Namen zu führen.
(48) Gegenständlich ist die Klägerin im Rufschädigungsverfahren die höchste Verwaltungsbehörde der Region Wolgograd. Es ist kaum vorstellbar, dass sie ein »Interesse am Schutz ihres wirtschaftlichen Erfolgs und [ihrer] Funktionsfähigkeit« oder »für das größere ökonomische Wohl« hatte [...], das einen Rechtsschutz erfordern würde. Auch kann nicht davon gesprochen werden, dass ihre Mitglieder genauso »leicht identifizierbar« wären wie [zB] die Mitglieder der Wasser- und Forstkommission in Luxemburg [...] oder Mitglieder des Gemeinderats Fgura, der [nur] 12.000 Einwohner repräsentierte [...]: Im Jahr 2010 hatte die Region Wolgograd über 2,5 Millionen Einwohner. Jedenfalls wurde die [...] Klage im Namen der juristischen Person eingebracht [...], nicht [im Namen] eines individuellen Mitglieds.
(49) Daher kommt der GH zum Schluss, dass das zivilrechtliche Rufschädigungsverfahren der Verwaltungsbehörde der Region Wolgograd gegen das bf Unternehmen keines der legitimen Ziele in Art 10 Abs 2 EMRK verfolgte. Wo aufgezeigt wurde, dass ein Eingriff kein »legitimes Ziel« verfolgte, ist eine Untersuchung, ob dieser »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war, nicht erforderlich [...].
(50) Folglich hat eine Verletzung von Art 10 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richter Ravarani, Serghides und Lobov).
II.Entschädigung nach Art 41 EMRK
Das bf Unternehmen machte keine gerechte Entschädigung geltend, weshalb kein Zuspruch unter Art 41 EMRK erfolgt.
Vom GH zitierte Judikatur:
Sener/TR, 18.7.2000, 26680/95 = ÖJZ 2001, 696
Thoma/LU, 29.3.2001, 38432/97
Steel und Morris/GB, 15.2.2005, 68416/01 = NL 2005, 27 = MR 2005, 86
Lombardo ua/MT, 24.4.2007, 7333/06
Dyuldin und Kislov/RU, 31.7.2007, 25968/02
Romanenko ua/RU, 8.10.2009, 11751/03
Morice/FR, 23.4.2015, 29369/10 (GK) = NLMR 2015, 153
Frisk und Jensen/DK, 5.12.2017, 19657/12
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.3.2022, Bsw. 2840/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2022, 140) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.