JudikaturAUSL EGMR

Bsw66328/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Zivilrecht
03. Februar 2022

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache N. M. u.a. gg. Frankreich, Urteil vom 3.2.2022, Bsw. 66328/14.

Spruch

Art. 14 EMRK, Art. 1 1. ZPEMRK - Rückwirkender Ausschluss von Schadenersatz für "wrongful birth".

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 1 1. ZPEMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Frage der Anwendung von Art 41 EMRK im Hinblick auf den materiellen und immateriellen Schaden wird unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer Einigung zwischen dem belangten Staat und den Betroffenen vorbehalten (einstimmig). € 24.902,50 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf sind französische Staatsbürger. Im Mai 2001 wurde die ErstBf schwanger. Sie ließ in der Folge eine gründliche pränatale Untersuchung vornehmen. Es wurden drei Ultraschalluntersuchungen und ein Test auf Trisomie 21 durchgeführt, wobei jeweils keine Anomalie festgestellt wurde.

Am 30.12.2001 wurde der Sohn A. der Bf geboren. Er kam mit einer Reihe von Fehlbildungen, die als VACTERL-Syndrom bezeichnet werden, zur Welt. In seinem Fall zählten dazu eine anorektale Fehlbildung, Anomalien der Nieren, eines Wirbels und einer seiner oberen Gliedmaßen sowie eine Gesichtsasymmetrie. Von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen wurde festgestellt, dass im Rahmen der pränatalen Untersuchungen eine Fehldiagnose erfolgt war und die Bf auf Grundlage dessen nicht vollständig über den Gesundheitszustand ihres ungeborenen Kindes informiert worden waren.

Am 22.6.2006 brachten die Bf eine Schadenersatzklage gegen das Krankenhaus ein, in der sie eine Reihe von Ansprüchen geltend machten. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage der zeitlichen Anwendung der Bestimmungen von Art 1 des Gesetzes vom 4.3.2002, die in Art L 114-5 des Sozial- und Familiengesetzbuchs (im Folgenden: CASF) kodifiziert wurden. Art 1 dieses Gesetzes sieht vor, dass die Möglichkeit der Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs für eine fehlerhafte Behandlung insofern eingeschränkt ist, als die besonderen Belastungen, die sich aus der lebenslangen Behinderung des Kindes ergeben, nicht geltend gemacht werden können.

Am 30.12.2008 entschied das Verwaltungsgericht Amiens, dass die genannte Bestimmung, die die Anspruchsgrundlagen der Bf einschränken würde, auf den in Frage stehenden Fall nicht anwendbar sei, und gab dem Schadenersatzbegehren der Bf statt. Das Krankenhaus erhob dagegen am 9.3.2009 Beschwerde, woraufhin auch die Bf am 13.7.2009 ein Rechtsmittel einlegten.

Zwischenzeitlich erging eine Entscheidung des Conseil constitutionnel (2010-2 QPC), in der jene Bestimmung aufgehoben wurde, die vorsah, dass Art L 114-5 CASF auch auf die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes vom 4.3.2002, das heißt dem 7.3.2002, anhängigen Verfahren anzuwenden ist.

In seinem Urteil vom 16.11.2010 lehnte das Berufungsgericht in Douai – sich auf die Entscheidung des Conseil constitutionnel stützend – die Anwendung der Bestimmungen von Art L 114-5 CASF ebenfalls ab. Dagegen legten wiederum beide Parteien Rechtsmittel ein. Der Conseil d’État entschied am 13.5.2011, dass Art L 114-5 CASF auf den vorliegenden Fall anwendbar sei, da die Bf ihre Schadenersatzansprüche erst nach dem 7.3.2002 geltend gemacht hätten. Sie verfügten daher über keinerlei Forderungsrechte, die Eigentum iSv Art 1 1. ZPEMRK dargestellt hätten. Der Conseil d’État hielt zwar fest, dass insofern ein unbestreitbarer kausaler Zusammenhang zwischen der Nachlässigkeit des Krankenhauses und dem von den Bf erlittenen Schaden bestand, als ihnen die Möglichkeit genommen wurde, die Schwangerschaft abzubrechen. Allerdings könne wegen der Bestimmung des Art L 114-5 CASF, der die Berücksichtigung der besonderen Kosten verbiete, die sich aus der Behinderung des Kindes ergeben, der Forderung nach einer Begleichung der durch die Behinderung verursachten Kosten durch das Krankenhaus nicht stattgegeben werden. Den Bf wurde jedoch aufgrund anderer Ansprüche ein Schadenersatz iHv € 80.000,– für immateriellen Schaden zugesprochen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) durch die Zurückweisung ihrer Schadenersatzklage in Zusammenhang mit den Kosten, die sich aus der lebenslangen Behinderung ihres Sohnes bzw dessen Betreuung ergeben, wobei der Schaden, das heißt die aus der Behinderung des Kindes resultierenden Kosten, durch eine Fehldiagnose des Krankenhauses im Rahmen einer pränatalen Untersuchung verursacht worden sei.

I.Zu den vorläufigen Einreden der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs

(35) [...] Gemäß Art 35 Abs 1 EMRK kann [der GH] erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs angerufen werden. Zweck von Art 35 EMRK ist es, den Vertragsstaaten Gelegenheit zu geben, behauptete Verletzungen zu verhindern oder zu beheben [...], bevor sie [dem GH] vorgelegt werden. Art 35 Abs 1 EMRK muss mit einer gewissen Flexibilität und ohne übermäßigen Formalismus angewendet werden. Er verlangt allerdings nicht nur, dass die Beschwerden den zuständigen innerstaatlichen Gerichten vorgelegt wurden und dass von wirksamen Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde [...]. Die Beschwerde, mit der der GH befasst werden soll, muss davor zumindest im Wesentlichen in der innerstaatlich vorgeschriebenen Form und Frist den zuständigen nationalen Gerichten vorgelegt worden sein.

(36) Im vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass die drei von den Bf angerufenen innerstaatlichen Gerichte durchaus über die Beschwerden nach Art 1 1. ZPEMRK und Art 14 EMRK abgesprochen haben. Aus den vorgelegten Unterlagen geht allerdings hervor, dass sich die innerstaatlichen Gerichte, da sie von den Bf nicht einmal in der Sache mit Beschwerden nach Art 6 Abs 1 und Art 8 Abs 1 EMRK befasst wurden, weder im Hinblick auf diese Bestimmungen noch hinsichtlich auf innerstaatlichem Recht beruhender Rügen gleicher oder ähnlicher Wirkung äußern konnten. Es ist daher den von der Regierung vorgebrachten Einreden betreffend die Nichterschöpfung des Instanzenzugs stattzugeben.

(37) Daraus folgt, dass die Beschwerden unter Art 6 Abs 1 und Art 8 Abs 1 EMRK als unzulässig zurückzuweisen sind [...] (einstimmig).

II.Zur behaupteten Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK

1.Zulässigkeit

(41) [...] Im Sinne der Rechtsprechung [des GH] kann sich ein Bf nur insofern auf eine Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK stützen, als die streitigen Entscheidungen sein »Eigentum« im Sinne dieser Bestimmung betreffen. Der Begriff des »Eigentums« kann sowohl »bestehendes Eigentum« als auch Vermögenswerte und – unter gewissen, genau beschriebenen Umständen – Forderungen umfassen. Damit eine Forderung als iSd Art 1 1. ZPEMRK relevanter »Vermögenswert« erachtet werden kann, muss der Gläubiger nachweisen, dass sie eine ausreichende Grundlage im innerstaatlichen Recht hat, beispielsweise aufgrund gefestigter Rechtsprechung der Gerichte. Sobald dies gegeben ist, kann der Begriff der »berechtigten Erwartung« angewendet werden.

(42) In einer ganzen Reihe von Fällen hat der GH entschieden, dass die Bf keine »berechtigte Erwartung« hatten, da nicht davon ausgegangen werden konnte, dass sie eine sofort fällige und ausreichend gesicherte Forderung besaßen. [...] Wenn die betroffenen Vermögensinteressen in Form einer Forderung bestehen, können sie nur als »Vermögenswert« betrachtet werden, wenn sie eine ausreichende Grundlage im innerstaatlichen Recht haben, zum Beispiel aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung der Gerichte.

(43) Der GH verweist diesbezüglich auf die [...] Rechtssache Pressos Compania Naviera S.A. ua/BE, in der es um Schadenersatzforderungen für Schiffsunfälle ging, im Rahmen derer behauptet wurde, dass sie durch die Fahrlässigkeit belgischer Lotsen verursacht worden wären. [...] Der GH stellte fest, dass die Schadenersatzforderung mit dem Eintritt des Schadens entsteht, während die gerichtliche Entscheidung nur deren Bestehen bestätigt und den Betrag festlegt. Auf Grundlage der Art und Weise, wie die Forderungen im innerstaatlichen Recht vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung der belgischen Gerichte behandelt werden würden, ging der GH davon aus, dass die Bf behaupten konnten, eine »berechtigte Erwartung« im Hinblick auf die Erfüllung ihrer Forderungen betreffend die in Frage stehenden Unfälle zu haben. Die auf diese Weise festgestellte »berechtigte Erwartung« stellte allerdings nicht als solche einen Vermögenswert dar; sie bezog sich auf die Art und Weise, in der die als »Vermögenswert«

qualifizierte Forderung im innerstaatlichen Recht behandelt würde, und speziell auf die Annahme, dass die ständige Rechtsprechung der nationalen Gerichte weiterhin in Bezug auf bereits verursachte Schäden gelten würde.

(44) Die [...] Rechtssachen Maurice/FR und Draon/FR, die ähnlich gelagert sind wie der vorliegende Fall, veranschaulichen die Tragweite des Begriffs der »berechtigten Erwartung«. In diesen beiden Fällen machten die Eltern der Kinder, die mit einer während der Schwangerschaft nicht entdeckten Behinderung geboren wurden, vor Inkrafttreten von Art 1 des Gesetzes vom 4.3.2002 Schadenersatzansprüche vor den innerstaatlichen Gerichten geltend. Sich auf die Rechtssache Pressos Compania Naviera S.A. ua/BE [...] stützend, entschied der GH, dass die Anwendung der im Rahmen von Art 1 des Gesetzes vom 4.3.2002 festgelegten Regeln auf anhängige Verfahren eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung der Forderungen derjenigen darstellte, die diese Verfahren gegen [die Schädiger] eingeleitet hatten [...] und dass daher eine Verletzung der aus Art 1 1. ZPEMRK resultierenden Rechte der Bf erfolgte.

(45) Indem er auf einen Zeitpunkt vor Inkrafttreten des strittigen Gesetzes abgestellt hat, hat der GH [...] geprüft, ob die Voraussetzungen für eine verschuldensabhängige Haftung gegeben waren und festgestellt, dass die Bf über eine Forderung verfügten, die als »Vermögenswert« zu [charakterisieren] war. Nachdem er [...] geprüft hat, wie diese Forderung im Rahmen des innerstaatlichen Rechts ohne Anwendung des strittigen Gesetzes behandelt worden wäre, ist der GH davon ausgegangen, dass die Bf unter Berücksichtigung des Urteils Quarez und der seither ergangenen ständigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in diesem Gebiet berechtigterweise erwarten konnten, Ersatz für den ihnen zugefügten Schaden einschließlich der besonderen Aufwendungen, die sich aus der lebenslangen Behinderung ihres Kindes ergeben, zu erhalten.

(46) Der GH ist zu dem Schluss gekommen, dass die rückwirkende Anwendung des Gesetzes vom 4.3.2002 zur Folge hatte, dass die Eltern »einen bereits bestehenden [...] und zu ihrem Eigentum gehörenden Vermögenswert verloren, nämlich einen festgestellten Schadenersatzanspruch, dessen Höhe sie gemäß der von den innerstaatlichen Höchstgerichten festgelegten Rechtsprechung berechtigterweise erwarten durften«.

(47) In Bezug auf den vorliegenden Fall muss auf das innerstaatlich anzuwendende Recht zum Zeitpunkt des Eingriffs, auf den sich die Bf beziehen, Rücksicht genommen werden, um festzustellen, ob Eigentum iSv Art 1 1. ZPEMRK bestand: Es handelt sich um das [...] System der Verschuldenshaftung. [...] Weder das Krankenhaus noch die Regierung bestreiten, dass die im Rahmen der Ultraschalluntersuchungen [...] erfolgte Fehldiagnose [...] einen Schaden verursacht hat. Der einzige strittige Punkt ist das Datum des anspruchsbegründenden Ereignisses. Die Regierung, die sich der Lösung des Conseil d’État in seiner Entscheidung vom 31.3.2014 anschließt, behauptet, dass weil sie nicht vor dem 7.3.2002 ein Verfahren eingeleitet haben, die Bf zu diesem Zeitpunkt über kein Forderungsrecht betreffend den Schadenersatz verfügt hätten, das seinerseits »Eigentum« iSv Art 1 1. ZPEMRK darstellt.

(48) Der GH kann sich dieser Behauptung nicht anschließen. [...] Die innerstaatlichen Gerichte haben im Rahmen der ergangenen Entscheidungen und in allen Stadien dieses Verfahrens unmissverständlich festgestellt, dass ein Fehler sowie ein direkter Kausalzusammenhang zwischen dem begangenen Fehler und dem erlittenen Schaden vorlagen. Die Gerichte waren [...] der Ansicht, dass im vorliegenden Fall der Fehler des Krankenhauses dazu führte, dass die Bf glaubten, dass das gezeugte Kind keine Anomalie aufweist und dass die Schwangerschaft normal ausgetragen werden kann, während die Bf deutlich ihren Willen zum Ausdruck gebracht haben, das Risiko einer Schädigung am Erbgut vermeiden zu wollen. Der dadurch begangene Fehler hat die Bf daher davon abgehalten, jede weitere Untersuchung vorzunehmen, die sie im Hinblick auf einen Schwangerschaftsabbruch zu therapeutischen Zwecken machen hätten können. Um zu dieser Feststellung zu gelangen, haben sich die Gerichte zunächst auf die Quarez-Rechtsprechung [...] gestützt,

sodann auf die Bestimmungen des Gesetzes vom 4.3.2002, die im Übrigen die Voraussetzungen für die Herstellung eines Kausalzusammenhanges zwischen dem Fehler [...] und dem Schaden der Eltern des behindert geborenen Kindes nicht geändert haben.

(49) Die Voraussetzungen der Haftung des Krankenhauses waren daher gegeben und die Bf verfügten folglich über eine Schadenersatzforderung hinsichtlich der Kosten der Betreuung ihres infolge einer Fehldiagnose [...] behindert geborenen Kindes, die als »Vermögenswert« zu [charakterisieren] ist. Im Hinblick auf den Zeitpunkt, zu dem diese Forderung nach innerstaatlichem Recht ohne die strittige Anwendung der Bestimmungen von Art L 114-5 CASF entstanden wäre, sind sich die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte sowie der ordentlichen Gerichte, wie bereits wiederholt wurde, einig: Ein Schadenersatzanspruch – egal welcher Art – entsteht zu jenem Zeitpunkt, an dem das Ereignis eintritt, das direkt kausal dafür ist, und zwar unabhängig vom Zeitpunkt [...] der Klageerhebung in Zusammenhang mit diesem Schaden. Der GH ist unter Berücksichtigung der allgemeinen französischen Rechtsgrundsätze sowie der ständigen Rechtsprechung im Bereich der Haftung, nach der eine Schadenersatzforderung mit Eintritt des Schadens

entsteht, der das verursachende Ereignis darstellt, der Auffassung, dass die Bf berechtigterweise erwarten konnten, dass sie ihren Schaden, der aus den Kosten der Betreuung ihres behinderten Kindes resultiert, ab Schadenseintritt, das heißt der Geburt dieses Kindes, ersetzt bekommen können. [...]

(50) Daraus folgt, [...] dass die Bf über eine Forderung verfügten, von der sie berechtigterweise erwarten konnten, dass sie entsprechend dem allgemeinen Recht über die Verschuldenshaftung erfüllt wird, da es sich um einen Schaden handelte, der vor Inkrafttreten des strittigen Gesetzes eingetreten ist. Sie verfügten daher über »Eigentum« iSv Art 1 Abs 1 Satz 1 1. ZPEMRK, der somit im vorliegenden Fall anzuwenden ist.

(51) Feststellend, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig ist, [...] erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

2.In der Sache

a.Liegt ein Eingriff in das Recht auf »Eigentum« vor?

(56) Nach der Rechtsprechung des GH enthält Art 1 1. ZPEMRK, der im Wesentlichen das Recht auf Eigentum gewährleistet, drei unterschiedliche Bestimmungen: Die erste, die sich im ersten Satz des ersten Absatzes findet und allgemeiner Natur ist, bringt den Grundsatz der Achtung des Eigentums zum Ausdruck; die zweite, im zweiten Satz desselben Absatzes, betrifft den Entzug des Eigentums und macht ihn von gewissen Bedingungen abhängig; was die dritte sich im zweiten Absatz findende betrifft, erkennt sie den Vertragsstaaten die Befugnis zu, den Gebrauch von Eigentum untereinander im Einklang mit dem Allgemeininteresse zu regeln. Die zweite und die dritte Bestimmung, die besondere Beispiele für Eingriffe in das Eigentumsrecht betreffen, müssen im Licht des in der ersten Bestimmung verankerten Grundsatzes ausgelegt werden.

(57) [...] Im vorliegenden Fall wird nicht bestritten, dass die Anwendung der Bestimmungen von Art L 114-5 CASF, die den Ersatz der aus der Betreuung [...] ihres behinderten Sohnes resultierenden Kosten grundsätzlich ausschließen [...], einen Eingriff darstellt, der als Entzug des Eigentums iSv Art 1 Abs 1 Satz 2 1. ZPEMRK zu werten ist. [Der GH] muss daher prüfen, ob der angefochtene Eingriff nach dieser Bestimmung gerechtfertigt ist.

b.Zur Frage, ob der Eingriff gerechtfertigt war

(58) Die Parteien sind sich hinsichtlich der Frage uneinig, ob der strittige Eingriff [...] »durch Gesetz vorgesehen« war.

(59) Der GH weist zunächst darauf hin, dass jeder Eingriff in die von Art 1 1. ZPEMRK geschützten Rechte dem Erfordernis der Rechtmäßigkeit entsprechen muss. Das Bestehen einer gesetzlichen Grundlage im innerstaatlichen Recht allein reicht allerdings nicht aus, um dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit zu entsprechen. Die Rechtsgrundlage bedarf darüber hinaus einer gewissen Qualität, nämlich mit der Rechtsstaatlichkeit vereinbar zu sein und Garantien gegen Willkür zu gewährleisten. Die gesetzlichen Vorschriften, auf die sich ein Eigentumsentzug stützt, müssen daher ausreichend zugänglich, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbar sein. Abweichungen in der Rechtsprechung können zu Rechtsunsicherheit führen, was mit den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar ist.

(60) Im vorliegenden Fall stellt der GH zunächst fest, dass gemäß [...] der Entscheidung Nummer 2010-2 QPC des Conseil constitutionnel Art 2 [...] des Gesetzes vom 11.2.2005, das heißt das gesamte Übergangsgesetz, das die rückwirkende Anwendbarkeit von Art L 114-5 CASF vorgesehen hat, aufgehoben wurde. Wie aus dem von der Dienststelle des Generalsekretariats des Conseil constitutionnel verfassten Kommentar hervorgeht, lässt die Aufhebung dieser Übergangsbestimmungen im Hinblick auf die zeitliche Anwendbarkeit des Gesetzes unmittelbar Platz für die Anwendung der allgemeinen Rechtsregeln.

(61) Daraus folgt unter Berücksichtigung der gesamthaften Aufhebung des Übergangsgesetzes und in Ermangelung einer anderen gesetzlichen Bestimmung, die dies ausdrücklich vorsieht, dass Art L 114-5 CASF nicht auf Sachverhalte angewendet werden kann, die sich vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 4.3.2002 ereignet haben, unabhängig davon, wann das Verfahren nach den allgemeinen Rechtsregeln über die zeitliche Anwendbarkeit des Gesetzes eingeleitet wurde.

(62) Der GH weist an zweiter Stelle auf die Diskrepanz zwischen der vom Conseil d’État [...] vorgenommenen Auslegung des Willens des Gesetzgebers und der Tragweite der vom Conseil constitutionnel ausgesprochenen Aufhebung sowie jener des Kassationshofs hin. Unter diesen Umständen kann er nicht davon ausgehen, dass die Rechtmäßigkeit des Eingriffs, der aus der Anwendung von Art L 114-5 CASF gemäß der Entscheidung des Conseil d’État vom 31.3.2014 resultiert, eine Grundlage in einer ständigen [...] Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte finden konnte. Der GH gelangt zu dem Ergebnis, dass der rückwirkende Eingriff in das Vermögen der Bf nicht als »durch Gesetz vorgesehen« iSv Art 1 1. ZPEMRK zu erachten ist.

(63) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK im Hinblick auf die [...] beiden Bf (einstimmig).

III.Zur behaupteten Verletzung von Art 14 EMRK iVm Art 1 1. ZPEMRK

(65) Angesichts seiner Feststellung einer Verletzung im Hinblick auf das Recht der beiden [...] Bf in Bezug auf ihr Eigentum hält es der GH nicht für erforderlich, die Beschwerde der Bf nach Art 14 EMRK iVm Art 1 1. ZPEMRK zu prüfen (einstimmig).

IV.Entschädigung nach Art 41 EMRK

(71) Der GH ist der Auffassung, dass unter den Umständen des vorliegenden Falles die Frage der Anwendung von Art 41 EMRK im Hinblick auf den materiellen und immateriellen Schaden nicht [Sache des GH ist]. Sie sollte daher unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer Einigung zwischen dem belangten Staat und den Betroffenen vorbehalten werden (einstimmig). € 24.902,50 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Pressos Compania Naviera S.A. ua/BE, 20.11.1995, 17849/91 = ÖJZ 1996, 275

Kopecký/SK, 28.9.2004, 44912/98 (GK) = NL 2004, 225

Draon/FR, 6.10.2005, 1513/03 (GK) = NL 2005, 233

Maurice/FR, 6.10.2005, 11810/03 (GK) = NL 2005, 233

Lekic/SI, 11.12.2018, 36480/07 (GK) = NLMR 2018, 566

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.2.2022, Bsw. 66328/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2022, 49) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise