JudikaturAUSL EGMR

Bsw33351/20 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Internationales Recht
20. Januar 2022

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Milankovic gg. Kroatien, Urteil vom 20.1.2022, Bsw. 33351/20.

Spruch

Art. 7 EMRK - Vorhersehbarkeit der Bestrafung eines Befehlshabers wegen 1991 in Kroatien begangener Kriegsverbrechen.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Im Juni 2011 leiteten die kroatischen Behörden eine umfassene strafrechtliche Untersuchung der Tötung von Angehörigen der serbischen Minderheit und anderer Straftaten ein, zu denen es zwischen August 1991 und Juni 1992 im Gebiet von Sisak und Naovina gekommen war. Der Bf hatte während der fraglichen Zeit das Amt des stellvertretenden Leiters der Polizei von Sisak-Moslavina bekleidet und von 18.7. bis 1.10.1991 das Kommando über alle Polizeikräfte in der Region geführt.

Am 16.12.2011 wurde Anklage gegen den Bf wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen erhoben. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hatte er diese zum Teil direkt angeordnet oder selbst ausgeführt, zum Teil durch Unterlassen begangen, weil er ihre Begehung durch die ihm unterstehenden Polizisten nicht verhindert hatte. Die Anklage stützte sich auf Art 120 Abs 1 und Art 122 des zwischen 1977 und 1997 geltenden Strafgesetzbuchs der Bundesrepublik Jugoslawien (Anm: Diese beiden Bestimmungen stellten die »in Verstoß gegen Regeln des Völkerrechts« erfolgende Tötung, Folter oder unmenschliche Behandlung von Angehörigen der Zivilbevölkerung bzw von Kriegsgefangenen sowie die Anordnung solcher Handlungen unter Strafe.) sowie auf »universell anerkannte Regeln des Völkergewohnheitsrechts über die Verantwortlichkeit von Kommandanten für von ihren Untergebenen während eines bewaffneten Konflikts begangene Taten« und auf Bestimmungen der Genfer Konventionen von 1949.

Das Gespanschaftsgericht Osijek erklärte den Bf am 9.12.2013 für schuldig im Sinne der Anklage und verurteilte ihn zu acht Jahren Haft. Im Hinblick auf die durch Unterlassung begangenen Taten stützte sich das Gericht auf Art 120 und 122 iVm Art 28 des Strafgesetzbuchs (Anm: Gemäß Art 28 Abs 2 konnte eine Straftat durch Unterlassen begangen werden, wenn der Täter zu einer Handlung rechtlich verpflichtet gewesen wäre.) und die einschlägigen Bestimmungen der 3. und 4. Genfer Konvention iVm Art 86 und 87 des 1. Protokolls zu den Genfer Konventionen. (Anm: Gemäß Art 86 sind Verletzungen auch zu ahnden, wenn sie sich aus einer Unterlassung ergeben. Art 87 bestimmt, dass militärische Führer Verletzungen der Abkommen durch die ihrem Befehl unterstellten Angehörigen der Streitkräfte verhindern und unterbinden.) Nach den Feststellungen im Urteil hatte der Bf, der die formale und tatsächliche Befehlsgewalt über die Polizeieinheiten innehatte, von der Begehung von Kriegsverbrechen durch diese gewusst. Als ihr

Befehlshaber wäre er daher aufgrund seiner Garantenstellung strafrechtlich verantwortlich. Als an einer Militärakademie ausgebildeter Offizier wäre ihm nach Ansicht des Gerichts die Strafbarkeit seines Verhaltens bewusst gewesen.

Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil am 10.6.2014 und erhöhte die Freiheitsstrafe auf zehn Jahre. Die vom Bf erhobene Verfassungsbeschwerde wurde am 10.3.2020 abgewiesen. Der Verfassungsgerichtshof verneinte zwar die Anwendbarkeit von Art 86 und 87 des 1. Protokolls zu den Genfer Konventionen auf die vor 8.10.1991 begangenen Straftaten, weil der Krieg in Kroatien vor der Anerkennung der Unabhängigkeit an diesem Datum nicht als internationaler bewaffneter Konflikt angesehen werden konnte. Allerdings wäre die Verantwortlichkeit der Befehlshaber für Kriegsverbrechen in nicht internationalen bewaffneten Konflikten zum damaligen Zeitpunkt bereits völkergewohnheitsrechtlich anerkannt gewesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 7 EMRK (Nulla poena sine lege) durch seine Verurteilung wegen Kriegsverbrechen.

I.Zur behaupteten Verletzung von Art 7 EMRK

(42) Der Bf brachte vor, seine Verurteilungen wegen Kriegsverbrechen aufgrund einer Vorgesetztenverantwortung hätten zur Zeit der Begehung der Taten keine rechtliche Grundlage im nationalen oder internationalen Recht gehabt. [...]

1.Umfang der Rechtssache

(43) Obwohl der Bf sich in erster Linie über seine Verurteilungen wegen Kriegsverbrechen beschwert, die begangen wurden, bevor der Krieg in Kroatien zu einem bewaffneten Konflikt mit internationalem Charakter wurde, zeigen seine Argumente insgesamt betrachtet, dass sich die Beschwerde auch auf seine Verurteilungen wegen nach diesem Datum begangener Kriegsverbrechen bezieht.

2.Zulässigkeit

(44) [...] Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

3.In der Sache

(51) [...] Die zentrale Aufgabe des GH besteht im vorliegenden Fall darin zu prüfen, ob zur Zeit der Begehung der Straftaten (tempore criminis) die Verurteilung des Bf wegen Kriegsverbrechen eine ausreichende rechtliche Grundlage hatte und ob für den Bf vorhersehbar war, dass sein Versäumnis, die von den seiner Befehlsgewalt unterstehenden Polizeieinheiten begangenen Kriegsverbrechen zu verhindern, seine strafrechtliche Verantwortlichkeit nach sich ziehen würde.

(52) [...] Die Verurteilung des Bf wegen Kriegsverbrechen beruhte auf Art 120 Abs 1 und Art 122 iVm Art 28 Abs 2 des Strafgesetzbuchs, wonach Personen mit einer Garantenstellung (also einer Verpflichtung zu handeln) Kriegsverbrechen durch Unterlassung begehen konnten. Bei Art 120 Abs 1 und Art 122 handelte es sich um (pauschal) verweisende Normen, die sich auf die einschlägigen Regeln des Völkerrechts bezogen. Auch wenn das Gespanschaftsgericht und der Oberste Gerichtshof der Ansicht waren, dass es sich bei den Bestimmungen des Völkerrechts [...] um jene der Art 86 und 87 des 1. Protokolls zu den Genfer Konventionen handelte, stellte der Verfassungsgerichtshof schließlich fest, dass die einschlägigen Regeln jene des Völkergewohnheitsrechts waren. Um dies zu untermauern, bezog er sich unter anderem auf die Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia – ICTY) im Fall Hadžihasanovic ua. (Anm: 4 ICTY (Appeals Chamber) 16.7.2003, Hadžihasanovic Kubura (IT-01-47), Decision on Interlocutory Appeal Challenging Jurisdiction in Relation to Command Responsibility.)

(53) Die Verurteilung des Bf wegen Kriegsverbrechen beruhte somit in erster Linie auf dem Völkerrecht und muss nach Ansicht des GH vornehmlich aus dieser Perspektive geprüft werden.

(54) Der GH muss sich [...] vergewissern, ob die Verurteilung des Bf wegen Kriegsverbrechen, die auf seiner Befehlsgewalt als Polizeikommandant in einem internen bewaffneten Konflikt beruhte, zum Zeitpunkt der Begehung der Handlungen eine ausreichend klare Grundlage im internationalen Recht hatte. Somit ist auf den Stand des Völkerrechts im Jahr 1991 abzustellen.

(55) In diesem Kontext erinnert der GH zunächst daran, dass die Konvention nicht in einem Vakuum ausgelegt werden kann, sondern so weit wie möglich im Einklang mit anderen Regeln des Völkerrechts [...] interpretiert werden sollte.

(56) [...] Das Statut des ICTY bezieht sich in seinem Art 7 Abs 3 in allgemeinen Worten auf einen »Vorgesetzten« und schränkt somit weder seine Anwendung auf militärische Befehlshaber ein noch trifft es eine Unterscheidung zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten. Das Statut ist auf schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts anwendbar, die seit 1.1.1991 [...] im früheren Jugoslawien begangen wurden. Überdies sollte das Statut das bestehende Völkerrecht widerspiegeln, nämlich jene Regeln, die »ohne jeden Zweifel Teil des Gewohnheitsrechts waren« [...].

(57) In Hadžihasanovic ua stellte das ICTY fest, dass die Anwendung des Konzepts der Vorgesetztenverantwortung für in einem internen bewaffneten Konflikt begangene Kriegsverbrechen bereits 1991 eine Regel des Völkergewohnheitsrechts war. Im Fall Celebici (Delalic) stellte das ICTY [...] fest, (Anm: ICTY 16.11.1998, Prosecutor v. Delalic, Mucic ua (IT-96-21-T).) dass der Grundsatz der Vorgesetztenverantwortung, der in Art 7 Abs 3 seines Statuts zum Ausdruck kommt, auch politische Führer und andere zivile Vorgesetzte umfasst, die sich in einer Autoritätsposition befinden.

(58) Dies wurde später in einer Reihe weiterer Urteile des ICTY sowie in einigen vor den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda gebrachten Fällen bestätigt. Der GH sieht keinen Grund, von dieser Ansicht abzuweichen, und betont, dass es nicht seine Aufgabe ist, den Stand des Völkerrechts zur damaligen Zeit verbindlich festzustellen.

(59) Allerdings ist der GH empfänglich für das Argument des Bf, wonach sich die oben genannten rechtlichen Entwicklungen hinsichtlich der Vorgesetztenverantwortung in nicht-internationalen Konflikten erst ereignet haben, nachdem die umstrittenen Ereignisse des vorliegenden Falls stattgefunden hatten. Zu dieser Frage erachtet der GH die vom ICTY in Hadžihasanovic ua dargelegte Ansicht als besonders relevant, wonach dann, wenn das Bestehen eines Grundsatzes nachgewiesen wurde, gegen seine Anwendung auf eine bestimmte Situation nicht eingewendet werden kann, dass diese Situation neu ist, wenn sie in den Anwendungsbereich dieses Grundsatzes fällt. Der GH hat selbst festgestellt, dass Art 7 EMRK kein Verbot einer solchen schrittweisen Klarstellung der Regeln strafrechtlicher Verantwortlichkeit durch eine gerichtliche Auslegung von Fall zu Fall entnommen werden kann, vorausgesetzt die daraus resultierende Entwicklung entspricht dem Kern der Straftat und konnte vernünftigerweise vorhergesehen werden. Nach Ansicht

des GH gilt dies gleichermaßen für die Entwicklung von nationalem wie von internationalem Recht.

(60) Es steht außer Zweifel, dass die Verantwortlichkeit von Befehlshabern für Kriegsverbrechen tempore criminis eine bestehende Regel des Völkerrechts war (siehe insb das 1. Protokoll zu den Genfer Konventionen). Der GH stimmt der Ansicht des ICTY in Hadžihasanovic ua zu, wonach schwer nachzuvollziehen ist, warum das Konzept nicht genauso im Kontext eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts gelten sollte. Diese Auslegung, die eine Straflosigkeit von Befehlshabern in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten verhindert, ist mit dem Wesen der Vorgesetztenverantwortung vereinbar. Insbesondere [...] wird dieses Konzept [...] aus jenem der verantwortungsvollen Führung abgeleitet, das nicht zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten unterscheidet.

(61) Zudem stimmt der GH mit den Schlussfolgerungen des ICTY im Celebici-Fall überein [...], wonach die Verantwortlichkeit von Befehlshabern nicht nur für militärische Vorgesetzte gilt [...].

(62) Was die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit betrifft, erinnert der GH zunächst daran, dass die Reichweite des Begriffs der Vorhersehbarkeit zu einem erheblichen Grad vom Inhalt des fraglichen Instruments, dem von ihm abgedeckten Gebiet und der Anzahl sowie dem Status seiner Adressaten abhängt. Zudem bekräftigt er, dass die Begriffe der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit im Hinblick auf einen befehlshabenden Offizier und die Gesetze und Gebräuche des Krieges gemeinsam geprüft werden müssen.

(63) In diesem Licht bekräftigt der GH die vom ICTY in Hadžihasanovic ua vertretene Position, wonach Vorhersehbarkeit in Fällen wie dem vorliegenden bedeutet, dass der Angeklagte in der Lage sein muss zu verstehen, dass sein Verhalten im allgemeinen Sinn kriminell ist, ohne Bezug auf eine konkrete Bestimmung, und dass Zugänglichkeit nicht die Heranziehung eines auf Gewohnheit beruhenden Gesetzes ausschließt.

(64) Angesichts des offensichtlich unrechtmäßigen Charakters der von den seinem Befehl unterstehenden Polizeieinheiten begangenen Kriegsverbrechen ist der GH der Ansicht, dass selbst die oberflächlichste Überlegung durch den Bf gezeigt hätte, dass die umstrittene Unterlassung seinerseits zumindest mit der Gefahr einherging, eine Verantwortlichkeit als Befehlshaber nach sich zu ziehen, unabhängig davon, ob diese Verbrechen während eines internationalen oder nicht-internationalen Konflikts und ob sie von einem militärischen oder einem anderen (polizeilichen) Befehlshaber begangen wurden.

(65) Dies gilt angesichts der folgenden Faktoren insbesondere im Fall des Bf:

– der Tatsache, dass er ein Polizeikommandant war und von Personen, die eine berufliche Aktivität ausüben [...], besondere Sorgfalt bei der Einschätzung der mit einer solchen Tätigkeit einhergehenden Risiken erwartet werden kann;

– der Feststellung der innerstaatlichen Gerichte, wonach der Bf ein auf einer Militärakademie ausgebildeter Offizier war, der daher sehr genau wusste, dass ihn sein Verhalten strafrechtlich haftbar machen würde;

– und der Tatsache, dass die Unabhängigkeitserklärung Kroatiens bereits am 25.6.1991 ergangen war, auch wenn sie erst am 8.10.1991 wirksam wurde.

(66) Diese Überlegungen reichen aus, um dem GH die Schlussfolgerung zu erlauben, dass die Verurteilung des Bf wegen Kriegsverbrechen aufgrund seiner Vorgesetztenverantwortung tempore criminis eine ausreichend klare rechtliche Grundlage im Völkerrecht hatte und dass es für ihn vorhersehbar war, dass ihn sein Versäumnis, die von den seinem Kommando unterstehenden Polizeieinheiten begangenen Kriegsverbrechen zu verhindern, strafrechtlich haftbar machen würde. Aus diesen Überlegungen folgt auch, dass diese Schlussfolgerung unabhängig davon gilt, ob diese Straftaten begangen wurden, bevor der Krieg in Kroatien in den frühen 1990er Jahren ein internationaler bewaffneter Konflikt wurde oder danach.

(71) Folglich hat keine Verletzung von Art 7 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Jorgic/DE, 12.7.2007, 74613/01 = NL 2007, 184

Korbely/HU, 19.9.2008, 9174/02 (GK) = NL 2008, 262 = EuGRZ 2010, 577

Kononov/LV, 17.5.2010, 36376/04 (GK) = NLMR 2010, 151

Šimšic/BA, 10.4.2012, 51552/10 (ZE)

Hassan/GB, 16.9.2014, 29750/09 (GK) = NLMR 2014, 389

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.1.2022, Bsw. 33351/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2022, 26) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise