Bsw15379/16 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Abdi Ibrahim gg. Norwegen, Urteil vom 10.12.2021, Bsw. 15379/16.
Spruch
Art. 8 EMRK, Art. 9 EMRK - Bewilligung der Adoption eines muslimischen Kindes durch christliche Familie.
Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 30.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig). Abweisung des Antrags auf Entschädigung für immateriellen Schaden (14:3 Stimmen).
Text
Begründung:
Die 1993 in Somalia geborene Bf. brachte 2009 ihren Sohn X. zur Welt. Die Geburt erfolgte bei ihrem Onkel in Kenia, der Vater anerkannte das Kind nicht. Wenige Monate später begab sich die Bf. mit X. nach Norwegen, wo sie eine Aufenthaltsberechtigung als Flüchtling erhielt.
Im September 2010 zogen die beiden in ein Eltern-Kind-Zentrum. Schon nach einer Woche wurde X. jedoch bei einer Krisenpflegemutter untergebracht, da die Bf. überfordert schien und sich nicht ausreichend um das Kind kümmerte. Am 13.12.2010 wurde X. in die Pflege einer christlichen norwegischen Familie gegeben, nachdem die Bezirkssozialbehörde die dauerhafte Unterbringung bei einer Pflegefamilie wegen der Vernachlässigung durch die Mutter als geboten erachtet hatte. Deren Wunsch, ihren Sohn einer Familie mit somalischen Wurzeln anzuvertrauen, konnte nicht entsprochen werden. Das Bezirksgericht bestätigte diese Entscheidung am 6.9.2011. Der Bf. wurde ein Kontaktrecht im Ausmaß von sechs einstündigen Treffen pro Jahr zugestanden.
Am 21.3.2014 gab die Bezirkssozialbehörde einem Antrag des Kinderwohlfahrtsdiensts auf Entziehung der elterlichen Verantwortung der Bf. für X. und auf Bewilligung der Adoption durch die Pflegeeltern statt. Die Behörde ging davon aus, dass eine Trennung des Kindes von den Pflegeeltern nicht mit dessen Wohl vereinbar wäre. Da die Bf. dauerhaft nicht in der Lage wäre, sich um ihren Sohn zu kümmern, würde die Adoption seinen Interessen am besten gerecht. Es wäre zwar wichtig für die Entwicklung der Identität des Kindes, über seine biologische Herkunft und den kulturellen Hintergrund seiner Mutter informiert zu werden, doch wäre dies kein entscheidendes Argument gegen eine Adoption.
Diese Entscheidung wurde vom Bezirksgericht am 21.11.2014 bestätigt. Das von der Bf. angerufene Landgericht befasste sich eingehend mit den religiösen und kulturellen Aspekten des Falls. Die Pflegeeltern hatten sich gegen eine offene Adoption ausgesprochen und angekündigt, X. taufen lassen zu wollen. Die Bf. hatte hingegen zwar anerkannt, dass es das Beste für ihr Kind sei, bei der Pflegefamilie aufzuwachsen, jedoch weiteren Kontakt und eine muslimische Erziehung gewünscht. Das Landgericht bestätigte, dass die Adoption dem Kindeswohl entsprechen würde. Es berücksichtigte vor allem das besondere Bedürfnis des Kindes nach einer als stabil empfundenen Umgebung. Die Adoption würde Klarheit schaffen, seine Bindung zu den Pflegeeltern stabilisieren und es zu einem neben den weiteren Kindern gleichberechtigten Familienmitglied machen. Demgegenüber müsste das Interesse der Bf. an weiterem Kontakt und an einer Erziehung im Sinne ihres ethnischen, kulturellen und religiösen Hintergrunds zurücktreten. Zudem wäre es offensichtlich nicht möglich gewesen, eine Pflegefamilie mit einem ähnlichen kulturellen Hintergrund zu finden.
Der Rechtsmittelausschuss des Obersten Gerichtshofs erklärte am 23.9.2015 eine Revision für unzulässig.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens), Art. 9 EMRK (hier: Religionsfreiheit) und von Art. 2 1. Prot. EMRK (hier: Recht der Eltern auf Erziehung und Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren religiösen Überzeugungen).
1. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 und 9 EMRK und von Art. 2 1. Prot. EMRK
(83) Die Bf. brachte ursprünglich vor, die Entziehung ihrer elterlichen Verantwortung für ihren Sohn X. und die seinen Pflegeeltern gewährte Erlaubnis, ihn zu adoptieren, hätten gegen ihr Recht auf Achtung des Familienlebens verstoßen [...].
(84) Zudem behauptete sie, diese Maßnahmen hätten eine Verletzung ihres Rechts auf Religionsfreiheit begründet [...].
(85) Im Verfahren vor der GK stützte sich die Bf. außerdem auf Art. 2 1. Prot. EMRK.
1. Umfang der Rechtssache vor der GK
(130) Der GH erinnert daran, dass Inhalt und Umfang der an die GK verwiesenen »Rechtssache« durch die Entscheidung der Kammer über die Zulässigkeit begrenzt werden. Die GK kann somit jene Teile der Beschwerde nicht behandeln, die von der Kammer für unzulässig erklärt wurden. Im vorliegenden Fall [...] erklärte die Kammer die von der Bf. erhobene Beschwerde für zulässig, die sich auf die Entziehung der elterlichen Verantwortung und die Genehmigung der Adoption ihres Sohnes X. bezog [...].
(131) [...] X. wurde 2010 zunächst bei einer Krisenpflegemutter untergebracht und dann [...] bei einer Pflegefamilie. [...]
(132) Die [sich auf die Unterbringung bei Pflegeeltern beziehenden] Verfahren in den Jahren 2010 und 2011 waren nicht Gegenstand der von der Kammer für zulässig erklärten Beschwerde und der GH hat daher keine Jurisdiktion, ihre Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK zu überprüfen. Dasselbe gilt für die Entscheidungen, mit denen ihr Recht auf Kontakt zu X. [...] eingeschränkt wurde.
(133) Dennoch wird der GH bei seiner Überprüfung der Verfahren über die Entscheidung der Bezirkssozialbehörde vom 21.3.2014 und den sich darauf beziehenden Rechtsmittelentscheidungen [...] bis zu einem gewissen Grad die vorangegangenen Verfahren und Entscheidungen berücksichtigen. [...] In einem Fall wie dem vorliegenden ist relevant, ob die zuständigen innerstaatlichen Behörden von Anfang an alle einschlägigen Anforderungen von Art. 8 EMRK berücksichtigt haben, wie sie im innerstaatlichen Recht und anderen internationalen Instrumenten wie der UN-Kinderrechtskonvention zum Ausdruck kommen.
2. Rechtliche Einordnung des Vorbringens der Bf.
(134) Ein Hauptgrund für den Antrag der Bf. auf Verweisung der Rechtssache an die GK war die Entscheidung der Kammer, alle ihre Argumente unter Art. 8 EMRK zu behandeln und nicht auch [...] unter Art. 9 EMRK.
(135) In diesem Kontext bemerkt der GH, dass die Beschwerdevorbringen [...] unter Art. 8 und Art. 9 EMRK dieselben Maßnahmen betreffen, nämlich die Entziehung ihrer elterlichen Verantwortung [...] und die Genehmigung der Adoption von X. durch seine Pflegeeltern. [...]
(136) [...] Eine Beschwerde besteht aus zwei Elementen: Sachverhaltsbehauptungen und rechtlichen Argumenten. Aufgrund des Grundsatzes jura novit curia ist der GH nicht an die von einem Bf. vorgebrachten, sich auf die Konvention [...] beziehenden rechtlichen Gründe gebunden und hat die Befugnis, [...] die Beschwerde unter anderen Artikeln [...] zu prüfen als jenen, auf die sich der Bf. gestützt hat.
(137) Während Maßnahmen jener Art, wie sie im vorliegenden Fall zu prüfen sind, nach der Rechtsprechung des GH durchwegs unter Art. 8 EMRK behandelt werden, stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang das Vorbringen der Bf. die Anwendung von Art. 9 EMRK bzw. von Art. 2 1. Prot. EMRK nach sich zieht.
(138) Was zunächst die letztgenannte Bestimmung betrifft, erinnert der GH daran, dass die Konventionsorgane bei bestimmten Gelegenheiten aufgefordert waren, unter diesem Artikel erhobene Beschwerden zu prüfen, die sich auf die Wahl einer Pflegefamilie bezogen. [...]
(139) [...] Allerdings haben sie, offensichtlich wegen der untergeordneten Bedeutung dieser Frage und der schmalen Grundlage der Beschwerden, die Reichweite dieser Bestimmung abgesehen von der Bekräftigung der Verpflichtung der Behörden, die durch Art. 2 1. Prot. EMRK garantierten Rechte der Eltern angemessen zu berücksichtigen, nicht näher beleuchtet. Es scheint, dass die meisten unter dieser Bestimmung geprüften Fälle und die in der Rechtsprechung des GH entwickelten Grundsätze die Verpflichtungen des Staates im Hinblick auf institutionalisierte Bildung und Unterricht betreffen [...]. Wie der GH weiters feststellt, stützte sich die Bf. in ihrer ursprünglichen Beschwerde, die [...] für zulässig erklärt wurde, nur auf Art. 9 EMRK [...]. Unter diesen Umständen wird die GK die Angelegenheit nicht im Hinblick auf Art. 2 1. Prot. EMRK prüfen.
(140) Zu Art. 9 EMRK [...] anerkennt der GH, dass die Ansichten der Bf. den »Grad der Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Schlüssigkeit und Bedeutung« erreichten, um in den Anwendungsbereich [...] dieser Bestimmung zu fallen. [...] Sein Kind entsprechend den eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen großzuziehen, kann für einen Elternteil als ein Weg angesehen werden, die »Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung [...] durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen«. Wenn ein Kind bei seinem biologischen Elternteil lebt, ist klar, dass dieser seine durch Art. 9 EMRK garantierten Rechte im täglichen Leben durch die Art des Genusses seiner Rechte nach Art. 8 EMRK ausüben kann. Bis zu einem gewissen Grad kann er dazu auch weiterhin in der Lage sein, wenn das Kind zwangsweise in öffentliche Obhut genommen wurde, etwa durch die Art der Wahrnehmung elterlicher Verantwortlichkeiten oder von Kontaktrechten [...]. Die zwangsweise Übernahme der Obsorge für ein Kind bringt unweigerlich Beschränkungen der Freiheit des biologischen Elternteils mit sich, seine religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen im Großziehen des Kindes zu bekennen. Aus den unten genannten Gründen erachtet es der GH allerdings im vorliegenden Fall nicht als notwendig, den Umfang von Art. 9 EMRK und dessen Anwendbarkeit auf die in Beschwerde gezogenen Angelegenheiten zu bestimmen.
(141) Nach Ansicht des GH kann das die nachteiligen Auswirkungen der Wahl der Pflegefamilie bezüglich ihres Wunsches, dass X. im Einklang mit ihrem muslimischen Glauben großgezogen wird, betreffende Vorbringen der Bf. als integraler Bestandteil ihrer sich auf ihr Recht auf Achtung des Familienlebens beziehenden Beschwerde angesehen werden [...].
(142) Vor diesem Hintergrund hält es der GH für angemessen, seine Prüfung des vorliegenden Falls auf die Vereinbarkeit der umstrittenen Maßnahmen mit dem Recht der Bf. auf Achtung des Familienlebens unter Art. 8 EMRK zu fokussieren, der allerdings im Lichte von Art. 9 EMRK auszulegen und anzuwenden ist. [...]
3. Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK
(143) Es steht außer Streit [...], dass die Maßnahmen, über die in den umstrittenen Verfahren entschieden wurde, nämlich die Entziehung der elterlichen Verantwortung der Bf. für X. und die Bewilligung seiner Adoption, einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens [...] begründeten. Der GH sieht keinen Grund zu bezweifeln, dass die Maßnahmen dem Gesetz entsprachen [...] und legitime Ziele [...] verfolgten, nämlich den Schutz der »Gesundheit und der Moral« von X. sowie seiner »Rechte«. Zu prüfen bleibt, ob die umstrittenen Maßnahmen »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« waren [...], was die Frage einschließt, ob die innerstaatlichen Behörden die durch Art. 9 EMRK geschützten Interessen der Bf. ausreichend beachteten.
(144) [...] Dieser Ansatz steht auch im Einklang mit dem Standard, der in den nationalen Rechten der großen Mehrheit der Konventionsstaaten in unterschiedlicher Form ausgedrückt und in der KRK widergespiegelt wird, namentlich in deren Art. 20 Abs. 3, wonach [bei der Aufnahme in eine Pflegefamilie und der Adoption] unter anderem die ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Herkunft des Kindes gebührend zu berücksichtigen ist.
(146) [...] Das Landgericht entschied über die [...] Adoption nach Durchführung einer zweitägigen Verhandlung, an der die Bf. und ihre Anwältin teilnahmen. Acht Zeugen wurden befragt, darunter [...] vier Experten. Der Senat des Landgerichts bestand aus drei Berufsrichtern, einem Psychologen und einem Laien. Ähnlich umfangreiche Verfahren waren zuvor von der Bezirkssozialbehörde und vom Bezirksgericht durchgeführt worden.
(147) [...] Bei seiner Entscheidung, entgegen den Wünschen der biologischen Mutter die Unterbringung von X. in einer Pflegefamilie durch seine Adoption zu ersetzen, stützte sich das Landgericht auf die folgenden Gründe: X. hatte viereinhalb Jahre in der Pflegefamilie gelebt; er hatte auf Kontakt zur Bf. negativ reagiert; er hatte eine Bindung zu seinen Pflegeeltern hergestellt und er war ein verletzliches Kind, das Stabilität brauchte. Zudem würde die Adoption – im Gegensatz zur fortgesetzten Pflegeunterbringung – die Möglichkeit eines künftigen Antrags der Bf. auf Rückkehr des Kindes zu ihr ausschließen und das Potential für Konflikte zwischen ihr und den Pflegeeltern hinsichtlich der unterschiedlichen kulturellen und religiösen Ansichten beseitigen.
(148) Der GH nimmt zudem zur Kenntnis, dass das Landgericht die Ansicht der Bf. anerkannte, wonach zur damaligen Zeit die fortgesetzte Fremdunterbringung das Beste für X. wäre. [...] Das Interesse der Bf. an einer Verhinderung der Adoption scheint sich somit damals in erster Linie aus der endgültigen und abschließenden Natur der Maßnahme ergeben zu haben. Da die Pflegeeltern keine sogenannte »offene Adoption« wünschten, die weiteren Kontakt mit sich gebracht hätte, hätte die Adoption für die Bf. de facto und de jure den Verlust jeglichen Rechts auf zukünftigen Kontakt zu ihrem Kind mit sich gebracht. Außerdem beruhte das Interesse der Bf. an einer Fortsetzung der Pflegeunterbringung anstelle einer Adoption auf der Wahrscheinlichkeit, dass Letztere zu einer ihren Wünschen widersprechenden religiösen Konversion ihres Sohnes führen würde.
(149) [...] Eine Adoption bringt in der Regel eine Lösung der familiären Bindungen in einem Grad mit sich, der [...] nur unter sehr außergewöhnlichen Umständen zulässig ist und nur gerechtfertigt sein kann, wenn sie durch eine überwiegende Notwendigkeit begründet ist, die sich auf das Wohl des Kindes bezieht. Dies ist so, weil es in der Natur der Adoption liegt, dass keine Aussicht auf Rückgängigmachung oder eine Wiedervereinigung der Familie besteht [...]. Angesichts der Natur der Angelegenheit und der Schwere der auf dem Spiel stehenden Interessen ist im Hinblick auf solche Entscheidungen eine strengere Überprüfung geboten.
(150) Vor diesem Hintergrund muss betont werden, dass die Bf. und ihr Sohn trotz ihres Zugeständnisses im Adoptionsverfahren, dass die Pflegeunterbringung von X. fortgesetzt werden sollte und unabhängig davon, ob die langfristige Fremdunterbringung [...] gerechtfertigt war, ein Recht auf Achtung des Familienlebens [...] behielten. Die Tatsache, dass die Bf. keine Rückgabe des Kindes beantragte, befreite die Behörden nicht von ihrer generellen Verpflichtung, das Interesse von X. an der Aufrechterhaltung familiärer Bindungen zur Bf. zu berücksichtigen, ihre persönliche Beziehung zu erhalten und eine Möglichkeit für sie zu schaffen, Kontakt zu einander zu haben, soweit dies machbar und mit dem Wohl von X. vereinbar war. Diese Überlegungen sind zentral bei der Prüfung des GH, ob die innerstaatlichen Behörden relevante und ausreichende Gründe vorbrachten um zu zeigen, dass die Umstände des Falls so außergewöhnlich waren, dass sie eine vollständige und endgültige Lösung der Bindungen zwischen X. und der Bf. rechtfertigen konnten [...].
(151) Der GH ist sich zudem der Vorrangigkeit des Interesses des Kindes im Entscheidungsprozess bewusst. Der zur Entziehung der elterlichen Verantwortung und zur Bewilligung der Adoption führende Prozess zeigt jedoch, dass die innerstaatlichen Behörden nicht versuchten, eine tatsächliche Abwägung zwischen den Interessen des Kindes und jenen seiner biologischen Familie vorzunehmen, sondern sich auf die Interessen des Kindes konzentrierten anstatt zu versuchen, beide Interessensspektren in Einklang zu bringen. Zudem zogen sie nicht ernsthaft die Möglichkeit einer Aufrechterhaltung des Kontakts des Kindes zu seiner biologischen Familie in Betracht. Der GH ist in diesem Zusammenhang nicht davon überzeugt, dass die zuständigen Behörden die potentielle Bedeutung der Tatsache angemessen berücksichtigten, dass die Bf. keine Aufhebung der Fremdunterbringung beantragt, sondern sich nur der Adoption widersetzt hatte, weil sie das Recht auf Kontakt zu ihrem Kind nicht verlieren wollte. Da die Entscheidung des Landgerichts weitgehend auf einer Beurteilung der Bindungen von X. zu seiner Pflegefamilie beruhte, scheint die Tatsachengrundlage, auf die es sich bei dieser Einschätzung stützte, Versäumnisse im Entscheidungsfindungsprozess zu offenbaren.
(152) In dieser Hinsicht bemerkt der GH, dass die Frage des Kontakts zwischen der Bf. und X. und insbesondere dessen Reaktionen auf die seit seiner Pflegeunterbringung stattgefundenen Besuche vor dem Landgericht eine zentrale Rolle spielten. [...] Die fragliche Entscheidung wurde in einem Kontext getroffen, in dem es seit der Unterbringung tatsächlich sehr wenig Kontakt zwischen der Bf. und ihrem Sohn gegeben hatte. Die Bezirkssozialbehörde hatte am 10.12.2010 [...] entschieden, der Bf. ein Recht auf Kontakt im Umfang von vier zweistündigen Besuchen pro Jahr einzuräumen und das Bezirksgericht [...] hatte sechs einstündige Besuche pro Jahr gewährt. Zwischen 2013 und der Entscheidung des Landgerichts hatte X. die Bf. offenbar nur zweimal getroffen. Dieser spärliche Kontakt [...] bot nach Ansicht des GH wenig Hinweise, aus denen eindeutige Schlüsse darüber gezogen werden hätten können, ob es im besten Interesse von X. lag, der Bf. kein Recht auf künftigen Kontakt zu ihm zu gewähren [...].
(153) Wie der GH zudem bemerkt, konzentrierten sich die in der Entscheidung des Landgerichts dargelegten Gründe im Wesentlichen auf die potentiellen Effekte einer Trennung von X. von seinen Pflegeeltern und einer Rückkehr zu seiner Mutter, nicht aber auf die Gründe für eine Beendigung jeglichen Kontakts zwischen X. und der Bf. In dieser Hinsicht scheint das Landgericht dem Widerstand der Pflegeeltern gegen eine »offene Adoption« mehr Gewicht beigemessen zu haben als dem Interesse der Bf. an der Möglichkeit eines fortgesetzten Familienlebens mit ihrem Kind in Form von Kontakt zu ihm.
(154) Der GH hat außerdem Vorbehalte betreffend die Betonung der Notwendigkeit durch das Landgericht, die Bf. daran zu hindern, irgendwann in der Zukunft mit rechtlichen Mitteln die Pflegeunterbringung oder die Kontaktregelung anzufechten. Auch wenn es tatsächlich Beispiele geben mag, wo wiederholte Gerichtsverfahren aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem betroffenen Kind schaden können und daher zu berücksichtigen sind, kann der Rückgriff auf Rechtsbehelfe durch einen biologischen Elternteil nicht automatisch als ein für die Adoption sprechender Faktor zählen. [...] Die Verfahrensrechte biologischer Eltern, einschließlich ihres Rechts auf Zugang zu Verfahren zur Aufhebung einer Pflegeunterbringung oder zur Lockerung von Kontaktbeschränkungen [...] bilden einen integralen Bestandteil ihres Rechts auf Achtung des Familienlebens [...].
(155) Zum besonderen Aspekt des [...] muslimischen Glaubens der Bf. und ihres Wunsches, X. möge im Einklang mit ihrem religiösen Glauben und Hintergrund großgezogen werden, ist anzumerken, dass das Landgericht die Notwendigkeit anerkannte, das Interesse an der Gewährleistung der Bindung von X. zum Umfeld seiner Pflegefamilie gegen andere gewichtige Überlegungen abzuwägen. Die Letzteren bezogen sich nicht nur auf [...] den Unwillen der Adoptiveltern, eine offene Adoption zu beantragen, sondern auch auf Aspekte der ethnischen Herkunft, Kultur und Religion sowie der religiösen Konversion [...].
(156) In diesem Zusammenhang holte das Landgericht Stellungnahmen von zwei Experten ein, die Informationen über im Islam bestehende Hindernisse für eine Adoption vorlegten. Einer dieser Experten betonte, dass jeder Fall anhand der Bedürfnisse des Kindes beurteilt werden müsste.
(157) Zudem kam das Landgericht nach einer Prüfung völkerrechtlicher Quellen zu dem Schluss, dass sich aus diesen nicht ergebe, dass die Adoption eines Kindes mit muslimischem Hintergrund in Norwegen verboten wäre. Der GH nimmt insbesondere den Verweis des Landgerichts auf Art. 20 Abs. 3 KRK zur Kenntnis, der bekräftigt, dass bei der Einschätzung möglicher Lösungen, einschließlich der Adoption, »die erwünschte Kontinuität in der Erziehung des Kindes sowie die ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Herkunft des Kindes gebührend zu berücksichtigen« sind – mit anderen Worten auf einen Standard, der in der Sache den Anforderungen der Konvention entspricht.
(158) Das Landgericht prüfte auch, wie die Bf. angesichts ihrer religiösen Werte eine Adoption empfinden würde. Es äußerte sich auch zur Wahl der Pflegefamilie und vermutete in diesem Kontext, dass keine Pflegeeltern mit einem kulturellen Hintergrund, der jenem der Bf. ähnlicher war, zur Verfügung gestanden wären. Es bemerkte, dass der ernste Mangel an Pflegeeltern, die Minderheiten angehören, bekannt war und die ursprüngliche Unterbringung von X. unabhängig davon, wie die Wahl der Pflegeeltern ansonsten beurteilt wurde, sich auf die Einschätzung auswirkte, was zur Zeit seines Urteils den besten Interessen von X. entsprach. Das Landgericht nahm weiters in den Blick, welche Werte zur Zeit der möglichen Adoption angesichts seiner Erziehung durch die Pflegeeltern als eigene von X. berücksichtigt werden konnten. Dabei merkte es an, dass die fraglichen religiösen Unterschiede auch Schwierigkeiten im Hinblick auf die Fortsetzung der Pflegeunterbringung schaffen konnten, bevor es im Endeffekt zum Schluss gelangte, dass entscheidend wäre, wie die Adoption Klarheit schaffen, die Entwicklung der Identität von X. stärken und ihn zu einem gleichberechtigten Mitglied der Familie machen konnte, in der er lebte.
(159) Der GH weist erneut darauf hin, dass sich seine Jurisdiktion im vorliegenden Fall auf die Verfahren von 2013 bis 2015 beschränkt. Folglich fällt die 2010 getroffene Entscheidung über die Wahl der Pflegefamilie von X. nicht darunter. Wie aus der oben dargelegten Begründung des Landgerichts hervorgeht, war die [...] Wahl der Pflegefamilie allerdings insofern eine relevante Überlegung bei der 2015 erfolgenden Beurteilung der Frage der Entziehung der elterlichen Verantwortung und der Bewilligung der Adoption, als die ursprüngliche Unterbringung sich erheblich darauf auswirkte, was zur Zeit des Urteils als in den besten Interessen von X. liegend angesehen wurde.
(160) Die belangte Regierung legte im Verfahren vor dem GH Unterlagen vor, die zeigen, dass sich die innerstaatlichen Behörden damals bemüht hatten, eine den Interessen der Bf. entsprechende Pflegefamilie zu finden. [...]
(161) [...] Die Rechte der Bf. gemäß Art. 8 EMRK, ausgelegt im Licht von Art. 9 EMRK, konnten nicht nur durch das Finden einer ihrem kulturellen und religiösen Hintergrund entsprechenden Pflegefamilie gewahrt werden. Der GH verweist auf die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Einschätzung der unterschiedlichen Interessen, die in derartigen Fällen während des gesamten Verfahrens zu berücksichtigen sind, wobei das Kindeswohl vorrangig bleiben muss, und auf die vergleichsweise breite Übereinkunft im internationalen Recht, wonach die innerstaatlichen Behörden in Fällen wie dem vorliegenden eine Bemühungspflicht trifft und keine Erfolgspflicht. Auch kann der GH anhand der vorliegenden Informationen nicht bezweifeln, dass sich die Behörden – wenn auch letztlich erfolglos – zunächst darum bemühten, eine Pflegefamilie für X. zu finden, die aus dieser Perspektive passender gewesen wäre. Allerdings ist die GK, wie schon die Kammer, der Ansicht, dass es die danach getroffenen Regelungen über den regelmäßigen Kontakt der Bf. zu ihrem Kind, die schließlich in der Bewilligung der Adoption von X. gipfelten, verabsäumten, das Interesse der Bf. angemessen zu berücksichtigen, X. die Aufrechterhaltung zumindest gewisser Bindungen zu seinen kulturellen und religiösen Wurzeln zu erlauben.
(162) Angesichts all dieser Überlegungen ist der GH nicht davon überzeugt, dass die innerstaatlichen Behörden bei der Entziehung der elterlichen Verantwortung der Bf. für X. und der Bewilligung seiner Adoption [...] dem Recht der Bf. auf Achtung des Familienlebens und insbesondere dem wechselseitigen Interesse von Mutter und Kind an der Aufrechterhaltung ihrer familiären Bindungen und persönlichen Beziehung und damit der Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben, ausreichendes Gewicht beigemessen haben. Die zur Unterstützung der Entscheidung vorgebrachten Gründe waren nicht ausreichend um zu zeigen, dass die Umstände des Falls so außergewöhnlich waren, dass sie eine völlige und endgültige Lösung der Bindungen zwischen X. und der Bf. rechtfertigen hätten können, oder dass diese Entscheidung durch eine überwiegende, sich auf das Wohl von X. beziehende Notwendigkeit begründet gewesen wäre. Die Schwere des Eingriffs und das Gewicht der auf dem Spiel stehenden Interessen betonend, berücksichtigt der GH auch, dass im Entscheidungsfindungsprozess [...] nicht sichergestellt wurde, dass alle Ansichten und Interessen der Bf. angemessene Berücksichtigung fanden. Es hat folglich eine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).
2. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 30.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Lemmens und Richterin Motoc); Abweisung des Antrags auf Entschädigung für immateriellen Schaden (14:3 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richter Lemmens und Richterin Motoc sowie von Richter Serghides).
Vom GH zitierte Judikatur:
Olsson/S (Nr. 1) v. 24.3.1988 = EuGRZ 1988, 591
K. und T./FIN v. 27.4.2000
Elsholz/D v. 13.7.2000 (GK) = NL 2000, 143 = EuGRZ 2001, 595 = ÖJZ 2002, 71
Sommerfeld/D v. 8.7.2003 (GK) = NL 2003, 196 = EuGRZ 2004, 711
Moretti und Benedetti/I v. 27.4.2010
Neulinger und Shuruk/CH v. 6.7.2010 (GK) = NLMR 2010, 211
Strand Lobben u.a./N v. 10.9.2019 (GK) = NLMR 2019, 393
Pedersen u.a./N v. 10.3.2020
M. L./N v. 22.12.2020
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.12.2021, Bsw. 15379/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 530) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.