JudikaturAUSL EGMR

Bsw57467/15 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. Dezember 2021

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Savran gg. Dänemark, Urteil vom 7.12.2021, Bsw. 57467/15.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK - Ausweisung eines an paranoider Schizophrenie leidenden niedergelassenen Migranten wegen Straftaten.

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (16:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 8 EMRK (11:6 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 20.000,– für Kosten und Auslagen (11:6 Stimmen). Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar (15:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Der Bf. kam 1991 im Alter von sechs Jahren aus der Türkei nach Dänemark, wo ihm ein Aufenthaltstitel erteilt wurde.

2001 erfolgte wegen eines Raubüberfalls eine erste Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe. Am 9.10.2007 wurde er vom Landgericht Ost wegen Körperverletzung unter besonders gefährlichen Umständen zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er sich an einem tödlichen Angriff auf einen Mann beteiligt hatte. Außerdem wurde er aus Dänemark ausgewiesen. Nach einer Rückverweisung der Sache durch den Obersten Gerichtshof wurde nach Einholung medizinischer Gutachten festgestellt, dass der Bf. an paranoider Schizophrenie litt, die seine Schuldfähigkeit ausschloss. Er wurde daher vom Landgericht für unbestimmte Zeit in eine geschlossene Einrichtung für geistig schwer Beeinträchtigte eingewiesen. Der Oberste Gerichtshof änderte dies mit Urteil vom 10.8.2009 in eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt. Die vom Landgericht Ost ausgesprochene Ausweisung wurde bestätigt.

Anfang 2012 legte die Staatsanwaltschaft den Fall des Bf. dem Stadtgericht Kopenhagen zur Überprüfung der Unterbringung vor. Im Zuge dieses Verfahrens wurde auch die mögliche Aufhebung der Ausweisung geprüft. Die behandelnden Psychiater wiesen in ihren Stellungnahmen darauf hin, dass der Bf. an paranoider Schizophrenie litt und einer Behandlung durch Spezialisten bedurfte. Insbesondere die Einhaltung seiner Medikation wäre entscheidend, um einen Rückfall in aggressive Verhaltensmuster zu verhindern. Eine solche Behandlung wäre in der Türkei für den Bf. nicht verfügbar. Das Stadtgericht Kopenhagen entschied am 14.10.2014, die Ausweisung zu widerrufen. Aufgrund eines Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft wurde dieses Urteil am 13.1.2015 vom Landgericht Ost aufgehoben. In seiner Begründung verwies das Gericht darauf, dass sowohl die vom Bf. benötigten Medikamente als auch eine psychiatrische Behandlung für ihn verfügbar wären. Die Ausweisung wäre angesichts der Schwere der von ihm begangenen Straftat auch mit

Art. 8 EMRK vereinbar.

Die dagegen erhobene Revision an den Obersten Gerichtshof wurde am 20.5.2015 nicht zugelassen. Der Bf. wurde 2015 in die Türkei abgeschoben.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) durch seine Abschiebung in die Türkei.

1. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(85) Der Bf. brachte vor, seine Abschiebung in die Türkei hätte wegen seines psychischen Gesundheitszustands gegen Art. 3 EMRK verstoßen [...].

1. Allgemeine Grundsätze zu Art. 3 EMRK

(123) [...] Ein aus einer natürlich auftretenden Krankheit erwachsendes Leiden kann von Art. 3 EMRK umfasst sein, wenn es durch eine Behandlung verschlimmert wird, die aus Maßnahmen erwächst, für die die Behörden verantwortlich gemacht werden können. Außerdem ist der GH nicht daran gehindert, das Vorbringen eines Bf. unter Art. 3 EMRK zu prüfen, wenn die Quelle des Risikos der verbotenen Behandlung im Empfangsstaat aus Faktoren erwächst, die weder direkt noch indirekt die Verantwortlichkeit der Behörden dieses Landes begründen können.

2. Ausweisung schwer kranker Fremder

(125) In seinem Urteil Paposhvili/B unternahm der GH eine prüfende Durchsicht der geltenden Grundsätze, wobei er mit dem Fall D./GB begann.

(126) Er bemerkte, dass der Fall D./GB die beabsichtigte Abschiebung eines Fremden, der an AIDS im Endstadium litt, nach St. Kitt betroffen und er festgestellt hatte, dass die Abschiebung den Bf. einem realen Risiko aussetzen würde, unter den qualvollsten Umständen zu sterben [...]. Der Fall war durch »sehr außergewöhnliche Umstände« gekennzeichnet [...]. Da er der Ansicht war, dass sein Leiden [...] das von Art. 3 EMRK geforderte Mindestmaß an Schwere erreichen würde, stellte der GH fest, dass zwingende humanitäre Überlegungen der Ausweisung des Bf. entgegenstanden.

(127) Wie der GH weiters feststellte, hatte er nach dem Fall N./GB, in dem er zum Ergebnis gelangt war, dass die Ausweisung der Bf. keine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen würde, zahlreiche Beschwerden für offensichtlich unbegründet [...] erklärt, von denen ähnliche Fragen aufgeworfen wurden [...]. Auch einige Urteile wurden erlassen, in denen immer – mit der Ausnahme von Aswat/GB [...] – festgestellt wurde, dass die Abschiebung des Bf. nicht gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde.

(128) Aus dieser Rekapitulation der Rechtsprechung schloss der GH, dass seine Praxis seit N./GB, Art. 3 EMRK nur in Fällen anzuwenden, in denen die ausgewiesene Person dem Tod nahe war, dazu führte, Personen vom Genuss dieser Bestimmung auszuschließen, die schwer krank, aber in weniger kritischem Zustand waren. Außerdem hatte die Rechtsprechung seit N./GB keine detaillierteren Leitlinien dazu geboten, was »sehr außergewöhnliche Umstände« sind [...].

(129) In diesem Zusammenhang führte der GH aus (Paposhvili/B, Rn. 183), [...] die »sehr außergewöhnlichen Umstände« sollten nach Ansicht des GH so verstanden werden, »dass sie sich auf die Ausweisung einer schwer kranken Person betreffende Situationen beziehen, in denen stichhaltige Gründe für die Annahme aufgezeigt wurden, dass sie, obwohl sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr ist, mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Empfangsstaat oder dem fehlenden Zugang zu solcher Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu werden, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt.« [...]

(130) Was die Erfüllung dieser Voraussetzungen in einer konkreten Situation betrifft, betonte der GH, dass die nationalen Behörden durch Art. 3 EMRK dazu verpflichtet werden, angemessene Verfahren einzurichten, die eine Prüfung der Befürchtungen der Bf. sowie eine Einschätzung der Risiken, die sie im Fall der Abschiebung in ihrem Empfangsstaat erwarten, erlauben. Im Kontext dieses Verfahrens [gilt Folgendes:]

(a) Es ist Sache des Bf., Beweise vorzulegen, die zeigen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, er würde im Fall der Durchführung der Maßnahme einem realen Risiko einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterzogen (Paposhvili/B, Rn. 186).

(b) Wenn solche Beweise erbracht werden, ist es Sache der Behörden des ausweisenden Staats, im Zuge der innerstaatlichen Verfahren jeden dadurch aufgeworfenen Zweifel zu zerstreuen und die behauptete Gefahr einer genauen Prüfung zu unterziehen, im Zuge derer die Behörden im ausweisenden Staat die vorhersehbaren Konsequenzen der Ausweisung auf die betroffene Person im Empfangsstaat im Lichte der dort herrschenden allgemeinen Lage und der persönlichen Umstände des Betroffenen erwägen müssen [...] (Paposhvili/B, Rn. 187). Die Auswirkung der Abschiebung auf die betroffene Person muss beurteilt werden, indem ihr Gesundheitszustand vor der Abschiebung damit verglichen wird, wie er sich nach der Überstellung in den Empfangsstaat entwickeln würde (Paposhvili/B, Rn. 188).

(c) Der ausweisende Staat muss sich im Einzelfall vergewissern, ob die im Empfangsstaat allgemein verfügbare Versorgung in der Praxis ausreichend und angemessen für die Behandlung der Krankheit des Bf. ist [...] (Paposhvili/B, Rn. 189).

(d) Der [...] Staat muss auch berücksichtigen, in welchem Umfang der Bf. tatsächlich Zugang zu dieser Behandlung haben wird [...] (Paposhvili/B, Rn. 190).

(e) Wo nach Prüfung der relevanten Informationen ernste Zweifel hinsichtlich der Auswirkung der Abschiebung auf die betroffene Person bestehen [...], muss der ausweisende Staat als Voraussetzung für die Abschiebung individuelle und ausreichende Zusicherungen des Empfangsstaats erhalten, wonach eine angemessene Behandlung verfügbar und für die betroffenen Personen zugänglich sein wird, sodass sie sich nicht in einer Art. 3 EMRK widersprechenden Situation wiederfinden (Paposhvili/B, Rn. 191).

(131) Der GH betonte in diesem Zusammenhang, dass der Maßstab nicht das im ausweisenden Staat herrschende Versorgungsniveau wäre und es nicht darum ginge, sich zu vergewissern, ob die im Empfangsstaat gewährte Versorgung jener entspricht, die vom Gesundheitssystem des ausweisenden Staates geboten wird, oder dieser unterlegen ist. Auch könne aus Art. 3 EMRK kein Recht abgeleitet werden, eine bestimmte Behandlung im Empfangsstaat zu erhalten, die für die übrige Bevölkerung nicht verfügbar ist (Paposhvili/B, Rn. 189). [...] Zuletzt wies der GH darauf hin, dass es nicht entscheidend sei, ob es sich beim Empfangsstaat um einen Mitgliedstaat der Konvention handelt.

(132) Seit dem Urteil Paposhvili/B gab es keine weitere Entwicklung in der Rechtsprechung.

3. Allgemeine Überlegungen zu den in Paposhvili/B dargelegten Kriterien

(133) Die GK erachtet es [...] als nützlich [...] zu bestätigen, dass das Urteil Paposhvili/B einen nachvollziehbaren Standard bot, der alle im Hinblick auf Art. 3 EMRK relevanten Überlegungen angemessen berücksichtigt. Er bewahrte das generelle Recht der Konventionsstaaten, Einreise, Aufenthalt und Ausweisung von Fremden zu kontrollieren, während er den absoluten Charakter von Art. 3 EMRK anerkannte. Die GK bekräftigt daher den Standard und die Grundsätze, die in Paposhvili/B dargelegt wurden.

(134) Erstens erinnert der GH daran, dass die vorgelegten Beweise »geeignet sein müssen, das Bestehen stichhaltiger Gründe« für die Annahme nachzuweisen, dass der Bf. als eine »schwer kranke Person« »mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Empfangsstaat oder dem fehlenden Zugang zu solcher Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands ausgesetzt zu werden, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt«.

(135) Zweitens werden die in Rn. 187-189 [des Urteils Paposhvili/B] aufgelisteten Verpflichtungen des ausweisenden Staats (siehe oben, Rn. 130) erst relevant, wenn diese Schwelle überwunden wurde und somit Art. 3 EMRK anwendbar ist.

(136) Drittens betont der GH die prozedurale Natur der Verpflichtungen der Konventionsstaaten nach Art. 3 EMRK in Fällen der Ausweisung schwer kranker Fremder. Er erinnert daran, dass er nicht selbst die Anträge auf internationalen Schutz beurteilt oder überprüft, wie Staaten die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden kontrollieren. Aufgrund von Art. 1 EMRK liegt die primäre Verantwortlichkeit für die Umsetzung und Durchsetzung der Konventionsrechte bei den nationalen Behörden [...]. [...]

4. Relevanz des Paposhvili-Tests im Kontext der Ausweisung psychisch kranker Fremder

(137) Der GH hat in Fällen, die die Ausweisung schwer kranker Bf. betrafen, ungeachtet der besonderen Art des ihrem Gesundheitszustand zugrunde liegenden – körperlichen oder psychischen – medizinischen Problems durchgehend dieselben Grundsätze angewendet. [...] Der Standard bezieht sich auf eine »schwer kranke Person«, ohne dass die Art der Krankheit spezifiziert würde. Er ist daher nicht auf eine bestimmte Kategorie von Krankheiten oder gar auf körperliche Beschwerden beschränkt, sondern kann sich auf jede Art, einschließlich psychischer Erkrankungen, erstrecken, vorausgesetzt die Situation der betroffenen kranken Person wird von den Paposhvili-Kriterien insgesamt erfasst.

(139) [...] Der fragliche Standard ist somit ausreichend flexibel, um auf alle Situationen angewendet zu werden, die sich auf die Abschiebung einer schwer kranken Person beziehen, ungeachtet der Art ihrer Erkrankung.

5. Anwendung der relevanten Grundsätze im vorliegenden Fall

(140) Wie die GK bemerkt, beurteilte die Kammer die Umstände des vorliegenden Falls nicht vom Standpunkt des in Rn. 183 des Paposhvili-Urteils dargelegten Schwellentests. Wie oben in Rn. 135 festgestellt, werden alle anderen Fragen erst relevant, nachdem dieser Test bestanden ist.

(141) Während Schizophrenie eine schwerwiegende psychische Krankheit ist, kann dieser Zustand als solcher nach Ansicht des GH nicht als ausreichend angesehen werden, um die Beschwerde des Bf. in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu bringen.

(142) [...] Die vom Bf. vorgelegten medizinischen Unterlagen zeigen insbesondere, dass ihm seine Krankheit bewusst war, er seine Behandlungsbedürftigkeit klar anerkannte und er kooperativ war. Sein Behandlungsplan schloss [...] zwei antipsychotische Medikamente ein: Leponex (ein Medikament mit Clozapine als Wirkstoff) in der Form von täglich einzunehmenden Tabletten, und Risperdal Consta, in Form von alle zwei Tage zu verabreichenden Injektionen. Die Gutachter brachten vor, dass ein bei einer Unterbrechung der Medikation möglicher Rückfall »schwere Folgen für den Bf. selbst und für seine Umwelt haben könnte«. Insbesondere verwiesen sie darauf, dass »eine Gefahr aggressiven Verhaltens« bestünde, und der Bf. »sehr gefährlich« werden könnte, was zu »einem erheblich erhöhten Risiko von gegen Personen gerichteten Straftaten aufgrund einer Verschlechterung der psychotischen Symptome« führen würde. [...]

(143) Während es der GH nicht als notwendig erachtet, in abstracto zu entscheiden, ob eine Person, die an einer schweren Form der Schizophrenie leidet, einem »intensiven Leiden« im Sinne des Paposhvili-Test unterworfen werden könnte, geht er nach Durchsicht der von den Parteien vorgelegten und der von den innerstaatlichen Gerichten behandelten Beweise davon aus, dass im vorliegenden Fall nicht gezeigt wurde, dass die Abschiebung des Bf. in die Türkei eine ernste, rasche und unwiederbringliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands verursacht hätte, geschweige denn eine erhebliche Herabsetzung seiner Lebenserwartung. Nach einigen der ärztlichen Stellungnahmen würde ein Rückfall [...] wahrscheinlich zu »aggressivem Verhalten« und »einem erheblich erhöhten Risiko von gegen Personen gerichteten Straftaten« führen. Dabei hätte es sich zwar um sehr ernste und nachteilige Auswirkungen gehandelt, doch hätten sie nicht zu einem »erheblichen Leiden« beim Bf. selbst geführt.

(144) Es scheint [...] niemals eine Gefahr bestanden zu haben, dass sich der Bf. selbst verletzen könnte [...]. [...]

(145) Was ein Risiko für die physische Gesundheit des Bf. durch möglicherweise von Leponex verursachte Immunschwächen betrifft, scheint dieses im Fall des Bf. eher hypothetisch gewesen zu sein. [...] In den zwei Jahren zwischen der Verschreibung von Leponex im Mai 2013 und der endgültigen Entscheidung über den Widerruf der Ausweisung am 20.5.2015 hatte er keine Symptome irgendeiner Verschlechterung seines physischen Gesundheitszustands aufgrund der Behandlung mit diesem Medikament gezeigt. In jedem Fall weisen die relevanten Belege nicht darauf hin, dass eine derartige Immunschwäche, sollte sie auftreten, »unwiederbringlich« wäre und zu »intensivem Leiden« oder einer »erheblichen Herabsetzung der Lebenserwartung« führen würde, wie dies nach dem Paposhvili-Test erforderlich wäre. [...]

(146) Selbst unter der Annahme, dass dem präventiven Zweck von Art. 3 EMRK ein gewisser Grad der Spekulation innewohnt und von der betroffenen Person kein eindeutiger Beweis dafür verlangt werden kann, dass sie einer verbotenen Behandlung unterworfen würde, ist der GH im vorliegenden Fall nicht davon überzeugt, dass der Bf. stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hätte, er würde wegen des Fehlens einer angemessenen Behandlung in der Türkei oder dem fehlenden Zugang zu einer solchen einem Risiko ausgesetzt, die in Rn. 183 des Urteils Paposhvili/B und oben in Rn. 129-134 dargelegten Konsequenzen tragen zu müssen.

(147) Diese Überlegungen reichen für die Schlussfolgerung des GH aus, dass die Umstände des vorliegenden Falls nicht [...] in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK fallen. [...]

(148) Folglich hat die Abschiebung des Bf. in die Türkei keine Verletzung von Art. 3 EMRK begründet (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Serghides).

2. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(149) Der Bf. brachte [...] vor, die Weigerung der Behörden, seine Ausweisung zu widerrufen, sowie deren Durchführung, die ein dauerhaftes Rückkehrverbot mit sich brachte, hätten gegen sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verstoßen. [...]

1. Zum Umfang der Rechtssache

(171) [...] Soweit sich die Beschwerde auf die ursprüngliche Ausweisung bezog, wurde sie von der Kammer für unzulässig erklärt, weil sie verspätet erhoben wurde. Die Kammer erklärte sie hingegen für zulässig, soweit sie das Verfahren über den Widerruf der Ausweisung betraf, erachtete es allerdings nicht für notwendig, diesen Beschwerdepunkt gesondert unter Art. 8 EMRK zu prüfen. Der GH wird daher [...] die Beschwerde unter Art. 8 EMRK nur insoweit prüfen, als sie sich auf die Weigerung der Behörden bezieht, die Ausweisungsentscheidung zu widerrufen, sowie auf die Durchführung dieser Entscheidung, die ein dauerhaftes Rückkehrverbot nach sich zog. Seine Aufgabe ist es daher nicht, die ursprüngliche Ausweisung [...] aus dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu beurteilen, sondern vielmehr zu prüfen, ob das Verfahren über den Widerruf den in der Rechtsprechung des GH entwickelten Kriterien entsprach.

2. Zum Vorliegen eines Eingriffs in das Recht des Bf. auf Achtung des Privat- und Familienlebens

(175) Der Bf. [...] kam im Alter von sechs Jahren nach Dänemark, wo er in die Schule ging und seine prägenden Jahre verbrachte. Er erhielt einen Aufenthaltstitel und blieb 14 Jahre und acht Monate rechtmäßig niedergelassen. Der GH akzeptiert daher, dass er ein »niedergelassener Einwanderer« war und folglich Art. 8 EMRK in seinem Aspekt des »Privatlebens« anwendbar ist.

(177) [...] Als die Ausweisungsentscheidung rechtskräftig wurde, war der Bf. 24 Jahre alt. Selbst wenn der GH bereit ist zu akzeptieren, dass eine Person in diesem Alter noch als »junger Erwachsener« angesehen werden kann, zeigt der Sachverhalt des vorliegenden Falls, dass der Bf. schon in seiner Kindheit [...] bei einer Pflegefamilie untergebracht wurde und [...] in verschiedenen [...] Einrichtungen wohnte. Es ist somit klar, dass er von früher Kindheit an nicht bei seiner Familie gelebt hat.

(178) Der GH ist auch nicht davon überzeugt, dass die psychische Krankheit des Bf. [...] für sich alleine als ausreichender Beleg für eine Abhängigkeit von Familienmitgliedern angesehen werden kann, um die Beziehung zwischen ihnen in den Anwendungsbereich des »Familienlebens« iSv. Art. 8 EMRK zu bringen. Insbesondere wurde nicht gezeigt, dass der Bf. [...] in einem Grad eingeschränkt war, der die Pflege und Unterstützung durch andere im täglichen Leben erforderlich gemacht hätte. [...] Unter diesen Umständen [...] erachtet es der GH als angemessen, seine Prüfung eher auf das »Privatleben« [...] zu konzentrieren.

(179) [...] Die verweigerte Aufhebung der Ausweisung des Bf. [...] und seine Abschiebung in die Türkei begründeten einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens. [...]

3. Rechtmäßigkeit und legitimes Ziel

(189) Es wurde nicht bestritten, dass der Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war [...] und dem legitimen Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten diente. [...]

4. Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

(190) [...] Die innerstaatlichen Gerichte haben offensichtlich im Kontext des Strafverfahrens gegen den Bf. eine Abwägung der betroffenen Interessen im Lichte der Kriterien, die im Hinblick auf Art. 8 EMRK relevant sind, vorgenommen, als dessen Ausweisung erstmals angeordnet wurde. [...] Zwischen 10.8.2009 (dem Datum, an dem die Ausweisungsanordnung rechtskräftig wurde) und dem 20.5.2015 (dem Datum der endgültigen Entscheidung im Verfahren über den Widerruf) ist eine beträchtliche Zeitspanne verstrichen. Die innerstaatlichen Behörden mussten daher die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung des Bf. im Verfahren über deren Widerruf prüfen und dabei alle in dieser Zeit möglicherweise eingetretenen relevanten Änderungen seiner Umstände berücksichtigen, insbesondere jene, die sich auf seinen Gesundheitszustand und sein Verhalten bezogen. In diesem Kontext erinnert der GH daran, dass der Kern der vorliegenden Rechtssache in der Vereinbarkeit des Verfahrens über den Widerruf mit den in der Judikatur des GH zu

Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien liegt.

(191) Wie der GH zunächst anmerkt, war der Bf. aufgrund seines psychischen Zustands verletzlicher als ein durchschnittlicher »niedergelassener Einwanderer«. Sein Gesundheitszustand musste als einer der relevanten Faktoren bei der Interessenabwägung berücksichtigt werden. [...]

(192) Der GH sieht keinen Grund dafür zu bezweifeln, dass auf der innerstaatlichen Ebene die medizinischen Aspekte des Falls des Bf. sehr gründlich berücksichtigt wurden. Das Landgericht nahm eine sorgfältige Prüfung des Gesundheitszustands und der Auswirkungen auf diesen vor, einschließlich der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der notwendigen medizinischen Behandlung im Fall der Abschiebung. Es berücksichtigte die Kosten der Medikamente und Behandlung, die Strecke, die dafür zurückzulegen wäre und die Verfügbarkeit ärztlicher Unterstützung in einer vom Bf. gesprochenen Sprache. Allerdings sind die medizinischen Aspekte nur einige unter mehreren Faktoren, die berücksichtigt werden müssen [...].

(193) Was die Art und Schwere der Straftaten betrifft, stellt der GH fest, dass der Bf. als Minderjähriger einen Raubüberfall beging, für den er 2001 verurteilt wurde. 2006 beteiligte er sich als Teil einer Gruppe an einem Angriff auf einen Mann, der zu dessen Tod führte. [...] Es handelte sich dabei um Gewaltdelikte, die nicht als bloße Fälle der Jugenddelinquenz angesehen werden können. Zugleich kann der GH die Tatsache nicht übersehen, dass der Bf. [...] gemäß den ärztlichen Gutachten zum Zeitpunkt der Taten sehr wahrscheinlich an einer psychischen Störung [...] gelitten hatte. Gemäß den Maslov-Kriterien muss erwogen werden, ob »sehr schwerwiegende Gründe« die Ausweisung recht-fertigten, und somit im vorliegenden Fall die Verweigerung des Widerrufs der Ausweisung zulässig war [...]. Eine im Hinblick auf die Analyse nach Art. 8 EMRK relevante Frage ist, ob die Tatsache, dass der Bf. aufgrund seiner psychischen Erkrankung bei seiner Verurteilung 2009 nach Ansicht der nationalen Gerichte [...] nicht bestraft werden konnte, das Ausmaß einschränkt, in dem sich der belangte Staat zur Rechtfertigung der Ausweisung und des [...] Rückkehrverbots auf die Straftaten stützen konnte.

(194) Nach der jüngsten Rechtsprechung [...] können schwere Straftaten einen »sehr schwerwiegenden Grund« darstellen, der eine Ausweisung rechtfertigt. Das erste Maslov-Kriterium, das auf die »Art und Schwere« der vom Bf. begangenen Straftat verweist, setzt allerdings voraus, dass das zuständige Strafgericht bestimmt hat, ob der an einer psychischen Krankheit leidende niedergelassene Einwanderer mit seinen Taten das erforderliche Maß an strafrechtlicher Schuld an den Tag gelegt hat. Die Tatsache, dass seine strafrechtliche Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt wegen seiner psychischen Erkrankung vom Gericht als ausgeschlossen anerkannt wurde, kann das Gewicht verringern, das dem ersten Maslov-Kriterium bei der Gesamtabwägung der Interessen [...] beizumessen ist.

(195) Der GH möchte klarstellen, dass er im vorliegenden Fall nicht aufgefordert ist, allgemeine Feststellungen zu treffen, sondern nur zu entscheiden, ob die von den nationalen Gerichten [...] 2015 vorgenommene Einschätzung der »Art und Schwere« der vom Bf. begangenen Straftaten die Tatsache angemessen berücksichtigt hat, dass er [...] zur Tatbegehung an einer schweren psychischen Erkrankung gelitten hatte.

(196) [...] Das Landgericht verwies in seiner Entscheidung vom 13.1.2015 über den Widerruf der Ausweisung nur kurz auf die [...] Schwere der Straftat [...]. Die Tatsache, dass der Bf. wegen seiner psychischen Erkrankung letztendlich als nicht strafbar angesehen und stattdessen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, fand keine Erwähnung. Das Landgericht unternahm auch nur einen eingeschränkten Versuch, anhand der Informationen über sein Verhalten in den vergangenen sieben Jahren zu beurteilen, ob sich die persönlichen Umstände des Bf. geändert hatten [...]. Vor diesem Hintergrund und angesichts der sofortigen und langfristigen Folgen der Durchsetzung der Ausweisung für den Bf. [...] ist der GH der Ansicht, dass die durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte des Bf. [...] von den nationalen Behörden nicht ausreichend gründlich und sorgfältig berücksichtigt wurden. Diese nahmen keine angemessene Interessenabwägung vor um festzustellen, ob diese Rechte des Bf. gegenüber dem öffentlichen Interesse an seiner

Ausweisung [...] überwogen.

(197) Wie sich aus dem dritten der Maslov-Kriterien ergibt, ist das Verhalten des Bf. während der Zeit zwischen der Tatbegehung [...] und der endgültigen Entscheidung über den Widerruf der Ausweisung besonders wichtig. Die relevanten Beweise zeigen, dass der Bf. trotz des anfänglichen Fortbestehens seiner aggressiven Verhaltensmuster in diesen Jahren begann, Fortschritte zu machen. Das Landgericht berücksichtigte diese Änderungen der persönlichen Umstände des Bf. jedoch nicht, um das Risiko einer erneuten Straffälligkeit [...] einzuschätzen.

(198) Eine weitere zu beachtende Angelegenheit ist die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Bf. zum Gaststaat und zum Zielstaat (das vierte Maslov-Kriterium). Während die Bindungen des Bf. zur Türkei begrenzt gewesen zu sein scheinen, war ihm dieses Land auch nicht gänzlich fremd. Allerdings scheint das Landgericht der Dauer des Aufenthalts des Bf. und seinen Bindungen im Gaststaat Dänemark (das zweite und das vierte Maslov-Kriterium) wenig Beachtung geschenkt zu haben [...]. [...] Der GH misst insbesondere der Tatsache besonderes Gewicht bei, dass der Bf. [...] seit dem Alter von sechs Jahren in Dänemark lebte. Auch wenn seine Kindheit und Jugend eindeutig schwierig waren, was auf Integrationsprobleme hinweist, erhielt er den größten Teil seiner Erziehung in Dänemark und alle seine engen Angehörigen leben dort. Er war auch rund fünf Jahre lang in Dänemark berufstätig.

(199) Um die Verhältnismäßigkeit der umstrittenen Maßnahme zu beurteilen, muss schließlich auch die Dauer des Rückkehrverbots berücksichtigt werden. [...]

(200) Die dänischen Gerichte hatten [...] im Verfahren über den Widerruf nach innerstaatlichem Recht keine Befugnis, die Dauer des über den Bf. verhängten Einreiseverbots zu prüfen und zu beschränken. Ihm stand auch kein anderes Verfahren zur Verfügung, in dem die Ausweisung überprüft hätte werden können. In Folge der Weigerung, diese Maßnahme im Verfahren über ihren Widerruf aufzuheben, wurde er einem unbefristeten Rückkehrverbot unterworfen. [...] Die Möglichkeit selbst einer nur kurzfristigen Einreise nach Dänemark besteht daher nur theoretisch. In Folge dessen blieb er ohne jede realistische Aussicht auf eine Einreise und erst recht auf eine Rückkehr nach Dänemark.

(201) [...] Es scheint somit, dass es das Landgericht im Verfahren über den Widerruf der Ausweisung unterließ, [...] die Änderungen der persönlichen Umstände des Bf. im Hinblick auf eine Einschätzung des Risikos einer erneuten Straffälligkeit vor dem Hintergrund seines psychischen Zustands zur Zeit der Tatbegehung und der offensichtlich positiven Effekte seiner Behandlung zu berücksichtigen. Auch die Stärke der Bindungen des Bf. zu Dänemark im Gegensatz zu jenen zur Türkei wurden nicht gebührend berücksichtigt. [...] Ungeachtet des Ermessensspielraums des belangten Staats ist der GH daher der Ansicht, dass es die innerstaatlichen Behörden unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls verabsäumten, die auf dem Spiel stehenden Interessen gebührend zu berücksichtigen und gegen einander abzuwägen.

(202) Folglich hat eine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (11:6 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Kjølbro, Dedov, Lubarda, Harutyunyan, Kucsko-Stadlmayer und Polácková; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richterin Jelic und Richter Serghides).

3. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 20.000,– für Kosten und Auslagen (11:6 Stimmen). Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar (15:2 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

D./GB v. 2.5.1997 = NL 1997, 93 = ÖJZ 1998, 354

Üner/NL v. 18.10.2006 (GK) = NL 2006, 251

N./GB v. 27.5.2008 (GK) = NL 2008, 148

Maslov/A v. 23.6.2008 (GK) = NL 2008, 157 = ÖJZ 2008, 779

Aswat/GB v. 16.4.2013

Paposhvili/B v. 13.12.2016 (GK) = NLMR 2016, 506

I. M./CH v. 9.4.2019 = NLMR 2019, 151

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.12.2021, Bsw. 57467/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 508) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise