JudikaturAUSL EGMR

Bsw39378/15 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. Dezember 2021

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Standard Verlagsgesellschaft mbH gg. Österreich (Nr. 3), Urteil vom 7.12.2021, Bsw. 39378/15.

Spruch

Art. 10 EMRK - Anordnung an Tageszeitung, die Identität von Verfassern potenziell diffamierender Postings bekanntzugeben.

Zulässigkeit der Beschwerde (mehrstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 17.000,– für Kosten und Auslagen. Die Feststellung einer Verletzung von Art. 10 EMRK stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den von der Regierung geltend gemachten immateriellen Schaden dar (jeweils einstimmig).

Text

Begründung:

Die Bf. ist Medieninhaberin der Tageszeitung »Der Standard«, welche sowohl im Druck- als auch im Onlineformat erscheint.

1. Zum Hintergrund des Falles

Auf der Website der Bf. wird Lesern die Möglichkeit gegeben, zu Artikeln ihre Meinung abzugeben. Zu diesem Zweck müssen sie sich vorher unter Angabe ihres Namens sowie ihrer E-Mail-Adresse registrieren und sich mit den Nutzungsbedingungen einverstanden erklären. Ein automatisches Filtersystem prüft jeden Kommentar auf problematische Inhalte, bevor dieser veröffentlicht wird. Den Nutzern wird versichert, dass ihre Daten nicht öffentlich aufscheinen, allerdings werden sie darauf aufmerksam gemacht, dass sie für ihre eigenen Kommentare verantwortlich sind und dafür eventuell haftbar gemacht werden können. Benutzerdaten würden von der Bf. aber nur dann weitergegeben werden, wenn sie dazu von Rechts wegen verpflichtet ist. Ferner wird darauf hingewiesen, dass persönliche Attacken nicht geduldet werden und das Recht vorbehalten bleibt, solche zu löschen.

2. Zu den auf dem Online-Portal veröffentlichten Kommentaren betreffend K. S., die FPK und H. K.

Am 19.3.2012 erschien auf der Website der Bf. ein Artikel mit dem Titel »Gebrüder S. gehen gegen Foren-User vor«. Dieser bezog sich auf K. S., dem damaligen Vorsitzenden der »Freiheitlichen in Kärnten« (FPK), und zitierte eine von diesem gemachte Äußerung über Leute, die ihn in Online-Foren angegriffen hatten. Am 22.3.2012 veröffentlichte ein Leser mit dem Nutzernamen »Tango Korrupti2013« folgendes Posting: »Korrupte Polit-Arschlöcher vergessen, wir nicht Wahltag ist Zahltag!!!!!« Einen Tag später wurde unter dem Nutzernamen »rrrn« folgendes Posting ins Netz gestellt: »War zu erwarten, dass FPOe/K, BZOe ... Gegner ueber die Straenge schlagen. Waere nicht passiert, wenn diese Parteien verboten worden waeren wegen ihrer dauernden Nazi wiederbelebung.«

In der Folge forderten K. S. und die FPK die Bf. auf, ihnen Namen, Adresse und E-Mail-Adresse der beiden Nutzer bekanntzugeben, um gegen diese straf- und zivilrechtlich vorgehen zu können, was diese jedoch ablehnte. Sie löschte aber die beiden Postings.

Am 11.6.2012 brachten K. S. und die FPK, gestützt auf § 18 Abs. 4 ECG (Anm: Danach haben die in § 16 ECG genannten Diensteanbieter den Namen und die Adresse eines Nutzers ihres Dienstes, mit dem sie Vereinbarungen über die Speicherung von Informationen abgeschlossen haben, auf Verlangen dritten Personen zu übermitteln, sofern diese ein überwiegendes rechtliches Interesse an der Feststellung der Identität eines Nutzers und eines bestimmten rechtswidrigen Sachverhalts sowie überdies glaubhaft machen, dass die Kenntnis dieser Informationen eine wesentliche Voraussetzung für die Rechtsverfolgung bildet.), beim LG für Zivilrechtssachen Wien Zivilklage gegen die Bf. ein und begehrten die Bekanntgabe der Daten der oben genannten Nutzer. Letzteres wies die Klage mit dem Hinweis ab, der unter »Tango Korrupti2013« abgefasste Kommentar weise keinen direkten Bezug zum Erstkläger auf, sondern sei als Äußerung im Zuge einer öffentlichen Diskussion über Korruption zu werten. Die Zweitklägerin sei zwar vom unter dem

Nutzernamen »rrrn« getätigten Kommentar direkt betroffen, jedoch hätten FPÖ-Politiker in der Tat Worte verwendet, die in der Diktion der Nationalsozialisten gewurzelt hätten.

Das OLG Wien gab der Berufung der Kläger mit der Begründung Folge, die strittigen Kommentare könnten durchaus als üble Nachrede iSv. § 1330 ABGB angesehen werden. Das Urteil wurde vom OGH mit dem Hinweis bestätigt, von Personen erhaltene Mitteilungen seien nur dann vom Redaktionsgeheimnis iSv. § 31 MedienG geschützt, wenn sie im Zusammenhang mit einer journalistischen Tätigkeit stünden, was aber bei der von der Beklagten durchgeführten Kontrolle von Beiträgen lediglich mithilfe eines computergesteuerten Filterungsprogramms nicht der Fall sei. Was die Verpflichtung zur Offenlegung von Nutzerdaten nach § 18 Abs. 4 ECG angehe, genüge hierfür der Nachweis, dass sogar ein juristischer Laie erkennen könne, dass eine Verurteilung nach § 1330 ABGB nicht gänzlich auszuschließen sei. Diese Voraussetzung sei bei den Bezeichnungen »dauernde Nazi-Wiederbelebung« und »korrupte Polit-Arschlöcher« erfüllt, sodass ein überwiegendes Interesse der Kläger an der Bekanntgabe der Daten bestehe. (Anm: OGH 19.2.2015, 6 Ob 145/14p.)

Am 5.5.2013 wurde auf dem Online-Portal der Bf. ein Interview mit dem damaligen Generalsekretär der FPÖ H. K. veröffentlicht. Noch am selben Tag schrieb ein Nutzer mit dem Nutzernamen »try_error« folgendes Posting: »würden wir nicht ewig meinungsfreiheit falsch verstehen und wäre das sägen an der verfassung und das destabilisieren unserer staatsform konsequent unter strafe gestellt, oder wäre wenigstens der mafiaparagraf einmal angewendet worden auf die rechtsextreme szene in österreich, dann wäre H. K. einer der größten verbrecher der 2ten republik ...« Über Aufforderung von H. K. wurde der Beitrag von der Bf. gelöscht, eine Bekanntgabe der Daten des Nutzers erfolgte jedoch auch dieses Mal nicht.

H. K. wandte sich ebenfalls mit einem Antrag auf Bekanntgabe der Daten des Nutzers an die Gerichte. In letzter Instanz gab der OGH dem Begehren mit einer ähnlichen Begründung wie im ersten Fall statt. (Anm: OGH 15.12.2014, 6 Ob 188/14m.)

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

(49) Die Bf. beklagte sich über eine Verletzung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK aufgrund der [gerichtlichen] Anordnung, die Daten von Nutzern bekanntzugeben, die Kommentare auf ihrem Internetnachrichtenportal gepostet hatten.

1. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

1. Zulässigkeit

(52) Der GH ist der Ansicht [...], dass die vorliegende Beschwerde ernste Sach- und Rechtsfragen unter der Konvention aufwirft, die eine Behandlung in der Sache erfordern. Er kommt daher zu dem Schluss, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK und die sich darauf beziehende Einrede der Regierung daher zurückzuweisen ist. Die vorliegende Beschwerde ist auch nicht aus einem anderen in Art. 35 EMRK aufgelisteten Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (mehrstimmig; abweichendes Sondervotum von Richter Eike).

2. In der Sache

1. Lag ein Eingriff vor?

(63) Die Regierung bestreitet, dass durch die gerichtlichen Entscheidungen ein Eingriff in das von Art. 10 EMRK garantierte Recht der Bf. auf Pressefreiheit erfolgt wäre. Der GH wird daher zuerst prüfen, ob [...] ein solcher Eingriff tatsächlich stattgefunden hat.

(68) Eingangs ist zu vermerken, dass der gegenständliche Fall nicht die Haftung der Bf. betrifft, sondern ihre Pflicht gemäß § 18 Abs. 4 ECG als Anbieterin von Internetdiensten unter bestimmten Voraussetzungen die Daten von Nutzern bekanntzugeben, und zwar ungeachtet ihrer Rolle als Herausgeberin journalistischer Arbeiten. [...]

(71) Im vorliegenden Fall ist der GH der Meinung, dass die von den Lesern auf dem Forum geposteten Kommentare, ungeachtet dessen, dass es sich hierbei um Meinungen und somit um Informationen iSd. Empfehlung R (2000) 7 des Ministerkomitees des Europarats vom 8.3.2000 zum Recht von Journalisten, ihre Informationsquellen nicht preisgeben zu müssen, handelte, eindeutig an die Öffentlichkeit – und nicht an einen Journalisten – gerichtet waren. Dies reicht für ihn aus, um zum Schluss zu gelangen, dass die Kommentare der Verfasser [mit den Nutzernamen »Tango Korrupti2013«, »rrrn« und »try_error«] nicht als Quelle für einen Journalisten angesehen werden konnten. Er stimmt daher mit der Regierung überein, dass sich die Bf. im gegenständlichen Fall nicht auf das Redaktionsgeheimnis berufen kann. Ein Eingriff in Art. 10 EMRK kann allerdings auch auf anderem Wege als durch die Anordnung der Preisgabe einer journalistischen Quelle erfolgen [...].

(72) [...] Der GH möchte keineswegs die Tatsache übersehen, dass er im Fall Delfi AS/EST die von den nationalen Gerichten vorgenommene Einstufung der Bf. als Herausgeberin (ibid, Rn. 128) akzeptierte, während im vorliegenden Fall die österreichischen Gerichte die Bf. hinsichtlich der strittigen Kommentare als Diensteanbieterin ansahen. Er möchte allerdings darauf hinweisen, dass die Frage, ob ein Eingriff in Art. 10 EMRK erfolgte, nicht von der rechtlichen Einstufung eines Anbieters durch die nationalen Gerichte abhängig gemacht werden sollte. Vielmehr müssen die Umstände des Falles in seiner Gesamtheit Berücksichtigung finden.

(73) Nun war aber die Tatsache, dass die Bf. hinsichtlich der Veröffentlichung der strittigen Kommentare als Diensteanbieterin fungierte, nur eine ihrer Rollen als Mediengesellschaft. Sie veröffentlicht eine Tageszeitung (und eine Online-Version davon) und hält ein Nachrichtenportal am Laufen, auf welchem sie zu einem Meinungsaustausch zu von ihr veröffentlichten Artikeln anregt, indem Nutzer eingeladen werden, Kommentare zu posten. [...] Laut der Bf. stellen diese Kommentare einen wesentlichen und wertvollen Teil ihres Nachrichtenportals dar. Benutzergenerierter Inhalt auf dem Portal wird zumindest zum Teil moderiert. Der GH findet, dass diese Tätigkeiten eng miteinander verbunden sind. Dies wird auch durch die Tatsache unterstützt, dass es für das Portal – welches als Plattform für einen Gesamtdialog beschrieben wird, der sowohl Artikel als auch Diskussionen über solche umfasst – kein separates Lektorat gibt. Es ist daher offenkundig, dass die Gesamtfunktion der Bf. darin besteht, die offene Diskussion zu

fördern und Ideen hinsichtlich von im öffentlichen Interesse stehenden Themen zu verbreiten, die von der Pressefreiheit geschützt werden (siehe Rn. 68 oben).

(74) Im Lichte der Deklaration des Ministerkomitees des Europarats über die Freiheit der Kommunikation im Internet vom 28.5.2003, in der das Prinzip der Anonymität für Internetnutzer als Voraussetzung für die Förderung der freien Äußerung von Meinungen, Informationen und Ideen hervorgehoben wird (siehe auch den Bericht des UN-Sonderberichterstatters zur Förderung und zum Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit vom 22.5.2015), hegt der GH keinerlei Zweifel, dass eine Verpflichtung zur Offenlegung der Daten von Verfassern von Online-Kommentaren diese von der Teilnahme an Debatten abhalten und somit eine abschreckende Wirkung auf Nutzer, die gewöhnlich Beiträge in solchen Foren hinterlassen, haben könnte. Davon ist indirekt auch das Recht der Bf. auf Pressefreiheit in ihrer Eigenschaft als Mediengesellschaft tangiert, lädt sie doch Nutzer ein, zu ihren Artikeln Stellung zu nehmen, um Diskussionen über ihre journalistische Arbeit zu fördern. [...]

(75) Der GH möchte keineswegs die Leichtigkeit, das Ausmaß und die Geschwindigkeit aus dem Blick verlieren, mit der Informationen im Internet verbreitet werden. Dies gilt auch für die Beständigkeit, mit der derartig verbreitete Informationen nach ihrer Bekanntgabe kursieren, was die Auswirkungen unrechtmäßiger Äußerungen im Vergleich zu den traditionellen Medien noch beträchtlich zu verstärken vermag (siehe Delfi AS/EST, Rn. 147). Er stimmt daher insoweit dem Vorbringen der Regierung zu, wonach die Konvention kein absolutes Recht auf Anonymität im Internet vorsehe.

(76) Gleichzeitig hat der GH aber Verständnis für das Interesse von Internetnutzern an der Nichtaufdeckung ihrer Identität. Die Anonymität war für lange Zeit ein Mittel, Repressalien oder unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden. Als solche kann sie den freien Fluss von Meinungen, Ideen und Informationen – vor allem, wenn sie über das Internet erfolgen – auf bedeutende Weise fördern. Sie kann daher indirekt auch den Interessen einer Mediengesellschaft dienen.

(78) Im vorliegenden Fall gesteht die Bf. in ihrer Eigenschaft als Mediengesellschaft ihren Nutzern einen gewissen Grad von Anonymität zu – und zwar nicht nur um die Pressefreiheit, sondern auch um die Privatsphäre der Nutzer und die Meinungsäußerungsfreiheit iSv. Art. 8 und 10 EMRK zu schützen. Für den GH wäre diese Anonymität nicht effektiv, wenn die Bf. nicht in der Lage wäre, diese mit eigenen Mitteln zu verteidigen. Es wäre nämlich für die Nutzer schwierig, ihre Anonymität aus Eigenem zu verteidigen, sollte den Zivilgerichten deren Identität offengelegt werden.

(79) An dieser Einschätzung vermag auch das Vorbringen der Regierung nichts zu ändern, wonach über die Rechtmäßigkeit der strittigen Kommentare keine abschließende Entscheidung getroffen worden sei, da der Eingriff in der Aufhebung der Anonymität und ihren Auswirkungen wurzelt, egal welchen Ausgang allfällige nachfolgende Verfahren nehmen. Ein solcher Eingriff in die Rechte von Mediengesellschaften wird weniger schwer wiegen als der Eingriff in einem Fall, in dem eine Mediengesellschaft für den Inhalt eines bestimmten Kommentars verantwortlich gemacht wird, indem ihr dessen Löschung oder eine Buße auferlegt wird. Das Gewicht eines bestimmten Eingriffs ist jedoch eine Angelegenheit, die mittels eines Verhältnismäßigkeitstests im Zuge der Interessenabwägung zu prüfen ist.

(80) Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die von den Gerichten im Zuge der zwei Verfahren getroffene Anordnung, die erbetenen Nutzerdaten offenzulegen, einen Eingriff in das Recht der Bf. auf den Genuss ihrer Pressefreiheit darstellte. [...]

2. War der Eingriff rechtmäßig und verfolgte er ein legitimes Ziel?

(81) Zwischen den Parteien ist unstrittig, dass der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage (§ 18 Abs. 4 ECG) beruhte und ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer, verfolgte.

3. War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?

(89) Der vorliegende Fall betrifft die Pflicht der Bf. als Diensteanbieterin, persönliche Daten ihrer Nutzer bekannt zu geben, nicht jedoch ihre eigene zivil- oder strafrechtliche Verantwortlichkeit für deren Kommentare. Ferner ist festzuhalten, dass die über die Kläger getätigten Äußerungen zwar beleidigend und respektlos waren, jedoch weder auf Hassrede oder Aufstachelung zu Gewalt hinausliefen noch ansonsten (im Vergleich und im Gegensatz zum Fall Delfi AS/EST, Rn. 128) eindeutig unrechtmäßig waren.

(90) Die fraglichen Kommentare betrafen zwei Politiker bzw. eine politische Partei und wurden im Kontext einer öffentlichen Debatte über Fragen von legitimem öffentlichen Interesse getätigt, nämlich dem Verhalten dieser Politiker in Ausübung ihrer öffentlichen Ämter und ihren eigenen – auf demselben Nachrichtenportal – veröffentlichten Beiträgen.

(91) Wenngleich die Anonymität im Internet einen bedeutenden Wert hat, ist sich der GH darüber im Klaren, dass auch anderen berechtigten Notwendigkeiten – wie etwa der Aufrechterhaltung der Ordnung, der Verhütung von Straftaten oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer – Relevanz eingeräumt werden muss.

(92) Eine ausreichende Interessenabwägung ist daher von besonderer Bedeutung, insbesondere wenn es um die politische Rede und um Debatten von öffentlichem Interesse geht. Diese Frage spiegelt sich nicht nur im beständigen Fallrecht des GH in diesem Bereich, sondern auch im [...] Völkerrechtsmaterial betreffend Internet-Vermittler wider: in den relevanten Dokumenten des Europarats (Anm: Empfehlung CM/Rec (2018) 2 des Ministerkomitees des Europarats vom 7.3.2018 über die Rolle und die Verantwortlichkeiten von Internetvermittlern.) und des UN-Menschenrechtsrats (Anm: Siehe die Berichte des UN-Sonderberichterstatters zur Förderung und zum Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit vom 22.5.2015 (A/HRC/29/32), 11.5.2016 (A/HRC/32/38) und 30.3.2017 (A/HRC/35/22).) wird festgehalten, dass Ansuchen auf Offenlegung von Nutzerdaten notwendig und gegenüber dem verfolgten Ziel verhältnismäßig zu sein haben. Wie die Regierung hervorgehoben hat, muss von diffamierenden Behauptungen betroffenen potentiellen Opfern effektiver

Zugang zu den Gerichten gewährt werden, vor denen sie ihre Ansprüche darlegen können. Nach Ansicht des GH bedeutet dies, dass die innerstaatlichen Gerichte den vorgebrachten Anspruch untersuchen und vor der Entscheidung, ob Daten betreffend die Identität eines Verfassers offengelegt werden sollen, gemäß den ihnen unter den Art. 8 und 10 EMRK

auferlegten positiven Verpflichtungen eine Abwägung der entgegenstehenden Interessen vorzunehmen haben. Im vorliegenden Fall umfassen diese miteinander im Konflikt stehenden Interessen nicht nur das Recht des Klägers auf Schutz seines guten Rufes und das Recht der Bf. auf Achtung der Pressefreiheit, sondern auch ihre Rolle beim Schutz der persönlichen Daten der Verfasser der Kommentare und deren Freiheit, ihre Meinung öffentlich kundzutun.

(93) Der GH stimmt mit den Berufungsgerichten darin überein, dass die fraglichen Kommentare als besonders anstößig verstanden werden konnten. Während jedoch die erstinstanzlichen Gerichte in beiden Verfahren eine Abwägungsprüfung vornahmen, führten die Berufungsgerichte und der OGH keinerlei Gründe an, warum das Interesse der Kläger an der Offenlegung der Daten denjenigen der Bf. am Schutz der Anoymität »ihrer« Verfasser vorgehe. Dies ist von besonderer Bedeutung in einem Fall wie dem vorliegenden, bei dem die Kommentare als politische Rede charakterisiert werden konnten, welche nicht eindeutig als unrechtmäßig anzusehen war. [Die Berufungsgerichte] beschränkten sich lediglich auf einen Verweis auf die Rechtsprechung des OGH in dieser Hinsicht und vertraten die Ansicht, dass eine Interessenabwägung nicht Gegenstand des Auskunftsverfahrens gegen die fragliche Diensteanbieterin sei, sondern erst im gegen den Verfasser der angeblich diffamierenden Behauptungen angestrengten Verfahren durchzuführen sei. Laut den Berufungsgerichten und dem OGH sei es ausreichend, dass »ein Laie von sich aus erkennen kann, dass eine Verurteilung nach § 1330 ABGB nicht gänzlich auszuschließen ist«. Sei das der Fall, hätte die betroffene Person ein überwiegendes rechtliches Interesse an der Offenlegung der Nutzerdaten. Aus dem Umstand, dass im vorliegenden Fall eine Berufung auf das Redaktionsgeheimnis nicht statthaft sei, zogen sie den unmittelbaren Schluss, dass die strittigen Kommentare diffamierend seien, weshalb die Bf. die Verpflichtung treffe, die betreffenden Nutzerdaten herauszugeben.

(94) Der GH ist der Ansicht, dass die Rechtsprechung des OGH die Durchführung einer Interessenabwägung keineswegs ausgeschlossen hätte. In der Tat hätte diese eine gewisse Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen hinsichtlich der Grundrechte vorgesehen, wenn es um das Erfordernis ging, zu einer Einschätzung darüber zu gelangen, ob eine Verantwortlichkeit unter § 1330 ABGB nicht ausgeschlossen werden könne. Dies trifft umso mehr auf den vorliegenden Fall zu, war doch offensichtlich, dass die strittigen Kommentare Bestandteil einer politischen Debatte waren. Ungeachtet dessen nahmen die Berufungsgerichte und der OGH eine Bewertung [der rechtserheblichen Tatsachen] ohne Abwägung zwischen den Interessen der Verfasser der spezifischen Kommentare und denjenigen der Bf. an deren Schutz einerseits und den Interessen der betroffenen Kläger andererseits vor.

(95) Wie bereits oben festgehalten (siehe die Rn. 68 und 89), möchte der GH keineswegs übersehen, dass der vorliegende Fall nicht die Haftung der Bf. für die strittigen Kommentare betraf. In dieser Hinsicht akzeptiert er, dass für die Durchführung einer Abwägungsprüfung in Verfahren betreffend die Offenlegung von Nutzerdaten eine prima facie-Untersuchung genügen kann [...]. In der Tat lässt § 18 Abs. 4 ECG die Erbringung eines prima facie-Beweises [»glaubhaft machen«] zu. Dies wird auch von der Regierung nicht bestritten. Ferner genießen die Gerichte [auf diesem Gebiet] einen gewissen Ermessensspielraum, mag dieser in Fragen der politischen Rede auch eng sein. Jedenfalls erfordert auch eine prima facie-Prüfung eine gewisse Begründung und Abwägung. Im vorliegenden Fall übersieht das Fehlen jeglicher Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen die Funktion von Anonymität als ein Mittel der Vermeidung von Repressalien oder unerwünschter Aufmerksamkeit und daher die Rolle der Anonymität an der Förderung

des freien Flusses von Meinungen, Ideen und Informationen – und zwar insbesondere, wenn es sich um politische Rede handelt, welche nicht Hassrede darstellt oder ansonsten eindeutig unrechtmäßig ist. Angesichts der Tatsache, dass diesen Aspekten [von den Gerichten] kein sichtbares Gewicht beigemessen wurde, vermag sich der GH dem Vorbringen der Regierung nicht anzuschließen, wonach der OGH hinsichtlich der Frage der [Wahrung der] Grundrechte eine faire Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen vorgenommen hat.

(96) Der GH findet, dass – in der Abwesenheit jeglicher Abwägung solcher Interessen – die Entscheidungen der Berufungsgerichte und des OGH nicht durch relevante und ausreichende Gründe zur Rechtfertigung des Eingriffs gestützt waren. Daraus folgt, dass der gegenständliche Eingriff in der Tat in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK war.

(97) Daher hat eine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).

2. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 17.000,– für Kosten und Auslagen. Die Feststellung einer Verletzung von Art. 10 EMRK stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den von der Regierung geltend gemachten immateriellen Schaden dar (jeweils einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Nordisk Film TV A/S/DK v. 8.12.2005 (ZE)

K. U./FIN v. 2.12.2008 = NLMR 2008, 351

Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294

Delfi AS/EST v. 16.6.2015 (GK) = NLMR 2015, 232

Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete und Index.hu Zrt/H v. 2.2.2016 = NLMR 2016, 62

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.12.2021, Bsw. 39378/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 552) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise