JudikaturAUSL EGMR

Bsw18860/19 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. Dezember 2021

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Gareth Lee gg. das Vereinigte Königreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 7.12.2021, Bsw. 18860/19.

Spruch

Art. 35 EMRK - Mangelnde Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe wegen fehlender Berufung auf Konventionsrecht.

Unzulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der homosexuelle Bf engagiert sich in einer Organisation namens Queerspace, die sich für die Rechte von LGBT-Personen einsetzt und sich auch an der Debatte über die Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in Nordirland beteiligte.

Im Mai 2014 bestellte er bei einer Bäckerei (Ashers Baking Co. Limited) eine Torte, die er zu einer privaten Feier mitbringen wollte. Sie sollte mit einem Bild der beiden aus einer Fernsehsendung für Kinder bekannten Figuren »Bert und Ernie«, dem Logo von Queerspace und dem Spruch »Support Gay Marriage« verziert sein.

Eine Woche nach seiner schriftlichen Bestellung wurde ihm telefonisch mitgeteilt, dass sein Auftrag nicht erledigt werden könne, weil die Inhaber der Bäckerei aufgrund ihres christlichen Glaubens die gleichgeschlechtliche Ehe ablehnten. Ihm wurden eine Entschuldigung und eine Rückerstattung angeboten. Daraufhin bestellte der Bf die gewünschte Torte bei einem anderen Unternehmen.

Mit Unterstützung der Gleichbehandlungskommission für Nordirland erhob der Bf Klage gegen die Bäckerei und deren Inhaber, Herrn und Frau McArthur, weil er sich als diskriminiert erachtete. Er stützte sich auf die Bestimmungen der Equality Act (Sexual Orientation) Regulations (Northern Ireland) 2006 und die Fair Employment and Treatment (Northern Ireland) Order 1998. Nachdem der County Court und der Court of Appeal eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung bejaht und die Beklagten zu Schadenersatz an den Bf verurteilt hatten, wurde die Klage schließlich am 10.10.2018 vom Supreme Court abgewiesen. Das Höchstgericht verneinte eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung, weil sich die Ablehnung der Bestellung nicht gegen die Person des Bf gerichtet hätte, sondern gegen die auf der Torte zu platzierende Botschaft. Was eine mögliche Ungleichbehandlung wegen der politischen Ansichten betraf, nahm der Supreme Court eine Auslegung der anwendbaren Bestimmungen im Lichte der Rechteder Inhaber der Bäckerei nach Art 9 und 10 EMRK vor und kam zum Ergebnis, dass es nicht gerechtfertigt wäre, diese zu zwingen, eine von ihnen abgelehnte Botschaft zu verbreiten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art 9 (hier: Gewissensfreiheit) und Art 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) jeweils sowohl alleine als auch iVm Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) durch die Entscheidung des Supreme Court, mit der seine Klage abgewiesen wurde.

Zur Zulässigkeit

(53) Die Regierung wandte ein, der Bf habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft, weil er es verabsäumt hätte, seine auf Art 8, 9, 10 und 14 EMRK gestützten Beschwerdebehauptungen im innerstaatlichen Verfahren vorzubringen. Er habe [...] eine gegen [die innerstaatlichen Bestimmungen] verstoßende Diskriminierung durch die Beklagten behauptet. Obwohl sich diese auf ihre Rechte nach Art 9 und Art 10 EMRK beriefen, brachte der Bf [...] nicht vor, dass seine Konventionsrechte dagegen abgewogen werden müssten. [...]

(54) Die Regierung brachte [...] vor, es wäre nicht ausreichend, wenn der Bf seine auf die Konvention gestützte Beschwerde »in der Sache« vorgebracht hätte. Seine Konventionsrechte hätten vor den innerstaatlichen Gerichten vielmehr eindeutig angeführt werden müssen. [...]

(68) Die allgemeinen Grundsätze der Rsp des GH wurden in Vuckovic ua/RS dargelegt. Der GH hat insbesondere festgestellt, dass die an ihn herangetragene spezifische Beschwerde entweder ausdrücklich oder in der Sache vor den nationalen Gerichten geltend gemacht worden sein muss. Es würde dem subsidiären Charakter des Konventionssystems widersprechen, wenn sich ein Bf vor den innerstaatlichen Behörden unter Außerachtlassung eines möglichen auf die Konvention gestützten Arguments auf einen anderen Grund berufen könnte, um eine umstrittene Maßnahme anzufechten, sich dann aber auf der Grundlage des auf die Konvention gestützten Arguments an den GH wenden könnte.

(69) Im vorliegenden Fall hat sich der Bf an keiner Stelle im innerstaatlichen Verfahren ausdrücklich auf seine Konventionsrechte berufen. Stattdessen formulierte er seine Ansprüche unter Verweis auf die Regulations 2006 und die Order 1998. Nun behauptet er, dass er erstens seine auf die Konvention gestützten Argumente in der Sache vorgebracht hätte, weil die herangezogenen innerstaatlichen Bestimmungen erlassen worden seien, um seine Rechte nach Art 8, 9, 10 und 14 EMRK zu schützen und dass sich zweitens die nun behaupteten Verletzungen in jedem Fall erst mit dem Urteil des Supreme Court herauskristallisiert hätten. Aus den unten dargelegten Gründen ist der GH von keinem dieser Argumente überzeugt.

(70) Selbst wenn der Bf damit recht hat, dass die relevanten Bestimmungen der Regulations 2006 und der Order 1998 erlassen wurden, um die Konventionsrechte von Konsumenten zu schützen, bieten sie Konsumenten nur einen sehr begrenzten Schutz, nämlich vor einer Diskriminierung beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen. Es kann daher nicht behauptet werden, dass sie die Rechte von Konsumenten gemäß Art 8, 9 oder 10 EMRK schützen.

(71) Soweit sich der Bf nach diesen Bestimmungen iVm Art 14 EMRK beschwert, anerkennt der GH, dass seine Vorbringen vor den innerstaatlichen Gerichten darauf hinausliefen, er wäre beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen aus Gründen seiner sexuellen Orientierung bzw politischen Meinung diskriminiert worden. Die nationalen Gerichte mussten daher prüfen, ob der Bf wegen seiner sexuellen Orientierung bzw seiner politischen Meinung anders als andere Konsumenten behandelt wurde, und im Fall einer Bejahung dieser Frage, ob die unterschiedliche Behandlung sachlich gerechtfertigt war, wobei die Rechte von Herrn und Frau McArthur nach Art 9 und 10 EMRK zu berücksichtigen waren.

(72) Der Test unter Art 14 EMRK ist insofern ähnlich, als er eine Beurteilung verlangt, ob ein Bf – aufgrund eines feststellbaren Merkmals oder Status – anders behandelt wurde als Personen in einer gleichen oder vergleichbaren Situation. Während der Schutz vor Diskriminierung nach den Regulations 2006 und der Order 1998 selbständig gilt, ist Art 14 EMRK allerdings von akzessorischer Natur: Er kann nicht angewendet werden, solange der fragliche Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich eines der materiellen Konventionsrechte fällt [...].

(73) Für den GH ist nicht offensichtlich, dass der Sachverhalt des vorliegenden Falls – in dem sich der Bf nur über das Urteil des Supreme Court beschwert – in den Anwendungsbereich von Art 8, 9 oder 10 EMRK fällt. Insbesondere ist nicht ohne Weiteres offenkundig, wie die Feststellungen des Supreme Court und deren Konsequenzen für den Bf mit der Ausübung eines durch einen dieser Artikel garantierten Rechts zusammenhängen oder eine der Modalitäten für dessen Ausübung darstellen. Der Supreme Court stellte [...] fest, dass der Bf nicht wegen seiner tatsächlichen oder angenommenen sexuellen Orientierung unterschiedlich behandelt wurde, sondern die Verweigerung der Lieferung der Torte vielmehr wegen der religiösen Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Ehe durch die Beklagten erfolgt war. Worum es im Kern ging, waren daher nicht die Auswirkungen auf das Privatleben des Bf oder auf seine Freiheit, seine Meinungen und Ansichten auszudrücken, sondern vielmehr, ob die Bäckerei verpflichtet war, eine Torte herzustellen, mit der die politische Unterstützung der gleichgeschlechtlichen Ehe durch den Bf ausgedrückt wurde.

(74) Dies bedeutet nicht, dass der Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich von Art 8, 9 und 10 EMRK fallen könnte. Die Vorfrage, ob Art 14 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, ist allerdings eine grundlegende. Sie hängt in hohem Maße von den Umständen des Einzelfalls ab und bislang wurde vom GH keine ähnliche Angelegenheit behandelt. Indem er sich ausschließlich auf innerstaatliches Recht stützte, beraubte der Bf die innerstaatlichen Gerichte der Gelegenheit, diese wichtige Frage selbst anzusprechen, bevor er seine Beschwerde an den GH erhob.

(75) In Folge dessen hatten die innerstaatlichen Gerichte nur die Aufgabe, die sehr spezifischen Rechte des Bf gemäß der Regulations 2006 und der Order 1998 gegen die Rechte der McArthurs nach Art 9 und 10 EMRK abzuwägen. An keiner Stelle waren sie aufgefordert, seine Konventionsrechte gegen jene der McArthurs abzuwägen. Wie die leidenschaftlichen Stellungnahmen der Drittbeteiligten deutlich machen, ist diese Abwägung eine sowohl für die LGBTIQ-Gemeinschaft als auch für Glaubensgemeinschaften sehr wichtige und sensible Angelegenheit. Wie der Supreme Court der USA in Masterpiece Cakeshop Ltd ausgeführt hat, müssen diese Auseinandersetzungen mit Toleranz, ohne unangemessene Missachtung religiöser Überzeugungen und so gelöst werden, dass homosexuelle Personen beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen auf dem freien Markt keiner Erniedrigung ausgesetzt werden. (Anm: US Supreme Court 4.6.2018, Masterpiece Cakeshop Ltd ua vs Colorado Civil Rights Commission ua, No 16–111.) Dies gilt insbesondere in Nordirland, wo es eine große und starke Glaubensgemeinschaft gibt, die LGBTIQ-Gemeinschaft eine Geschichte erheblicher Diskriminierung und Einschüchterung erlitten hat und der Konflikt zwischen den Rechten dieser beiden Gemeinschaften lange Zeit die öffentliche Debatte geprägt hat.

(76) Angesichts der erhöhten Sensibilität der Abwägung in diesem spezifischen nationalen Kontext waren die innerstaatlichen Gerichte in einer besseren Position als dieser GH, den Ausgleich zwischen den widerstreitenden Konventionsrechten des Bf auf der einen und der McArthurs auf der anderen Seite zu treffen.

(77) Angesichts der Tatsache, dass sich Kläger gemäß dem Human Rights Act 1998 vor den innerstaatlichen Gerichten direkt auf ihre Konventionsrechte berufen können und diese Gerichte verpflichtet sind, soweit dies möglich ist, das [...] innerstaatliche Recht in einer diesen Rechten entsprechenden Art auszulegen, ist der GH nicht der Ansicht, dass der Bf eine zufriedenstellende Erklärung für sein Versäumnis vorgebracht hat, seine Konventionsrechte geltend zu machen. In einem Fall wie dem vorliegenden, wo sich der Bf darüber beschwert, dass es die innerstaatlichen Gerichte verabsäumten, seine Konventionsrechte gegen jene einer anderen Privatperson abzuwägen, die sich im innerstaatlichen Verfahren ausdrücklich auf ihre Konventionsrechte berufen hat, ist es unumstößlich, dass auch die Konventionsrechte des Bf vor den innerstaatlichen Gerichten ausdrücklich geltend gemacht werden mussten. Dies gilt selbst dann, wenn die behauptete Verletzung durch das Ergebnis ihrer Einschätzung bedingt war. Die McArthurs vertraten [...] den Standpunkt, die Gerichte müssten die Bestimmungen der Regulations 2006 und der Order 1998 in einer mit ihren Konventionsrechten vereinbaren Weise einschränkend auslegen oder, sollte dies nicht möglich sein, die einschlägigen Bestimmungen [...] unangewendet lassen. Es wäre dem Bf offengestanden – und nach Ansicht des GH wäre er dazu verpflichtet gewesen – zu behaupten, dass es gegen seine eigenen Rechte nach Art 8, 9, 10 oder 14 EMRK verstoßen hätte, die einschlägigen Bestimmungen [...] »einschränkend auszulegen« oder »unangewendet zu lassen«. Indem er sich dazu entschied, sich nicht auf seine Konventionsrechte zu stützen, beraubte der Bf die innerstaatlichen Gerichte der Gelegenheit, sowohl die Anwendbarkeit von Art 14 EMRK auf seinen Fall als auch die Berechtigung seiner auf die Konvention gestützten Beschwerdebehauptungen, die er jetzt vorbringt, in der Sache zu prüfen. Tatsächlich lädt er nun den GH dazu ein, diese Fragen selbst zu prüfen und damit die Rolle der innerstaatlichen Gerichte an sich zu reißen.

(78) Da ein solcher Zugang dem subsidiären Charakter des Konventionssystems widerspricht, ist der GH der Ansicht, dass es der Bf verabsäumte, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe [...] zu erschöpfen. Folglich muss seine Beschwerde gemäß Art 35 Abs 1 und Abs 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (mehrheitlich).

Vom GH zitierte Judikatur:

Azinas/CY, 28.4.2004, 56679/00 (GK) = NL 2004, 184

Vuckovic ua/RS, 25.3.2014, 17153/11 (GK) = NLMR 2014, 155

Peacock/GB, 5.1.2016, 52335/12 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 7.12.2021, Bsw. 18860/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2022, 46) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise