Bsw12937/20 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache S. N. und M. B. N. gg. die Schweiz, Urteil vom 23.11.2021, Bsw. 12937/20.
Spruch
Art. 8 EMRK - Anordnung der Rückgabe eines von seiner Mutter entführten Kindes zu seinem Vater nach Thailand.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei der ErstBf. handelt es sich um die Mutter der 2012 geborenen ZweitBf., welche der Ehe mit dem französischen Staatsangehörigen F. B. entstammt. 2013 ließ sich die Familie in Thailand nieder.
Im April 2014 entschieden die Eheleute, sich zu trennen. Sie kamen überein, dass ihre Tochter abwechselnd für drei aufeinanderfolgende Tage bei der Mutter und beim Vater leben sollte. Ende 2017 stellte die ErstBf. vor dem zuständigen thailändischen Familiengericht einen Antrag auf Scheidung der Ehe. Sie wartete den Ausgang dieses Verfahrens jedoch nicht ab und verließ im April 2018 Thailand mit ihrer Tochter in Richtung Schweiz.
Am 30.5.2018 wandte sich die ErstBf. mit einem Antrag auf Ehescheidung und auf Übertragung des Sorgerechts für ihre Tochter an das zuständige Zivilgericht des Kantons Waadt. In der Folge richtete F. B. einen Antrag auf Rückgabe des Kindes an das schweizerische Justizministerium. Am 23.8.2018 erstattete die ErstBf. gegen Letzteren Strafanzeige wegen unsittlicher Berührungen, die dieser in Thailand an seiner Tochter vorgenommen habe. Das daraufhin eingeleitete Strafverfahren wurde bis zum Ausgang des Rückgabeverfahrens ausgesetzt. F. B. stritt die Vorwürfe vehement ab.
Noch am selben Tag stellte F. B. beim Kantonsgericht Waadt einen Antrag auf Rückgabe des Kindes und beantragte die Ergreifung sofortiger Schutzmaßnahmen iSv. Art. 7 Abs. 2 HKÜ. Das Gericht kam diesem Ersuchen umgehend nach und ließ Erhebungen durchführen.
Mit Urteil vom 31.1.2019 wies das Kantonsgericht den Antrag des Vaters gemäß Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ ab, da eine Rückgabe des Kindes mit einer konkreten und schwerwiegenden Gefahr für seine Entwicklung verbunden wäre, das gegen den Vater eingeleitete Strafverfahren noch anhängig sei und zudem nichts darauf hindeute, dass die thailändischen Behörden den effektiven Schutz des Kindes garantieren könnten.
Das Urteil wurde auf Antrag von F. B. vom Bundesgericht aufgehoben und die Sache an das Kantonsgericht zurückverwiesen, da nicht geklärt worden wäre, ob die ErstBf. sich auch in Thailand um ihre Tochter kümmern könne. In der Folge wandte sich die schweizerische Zentralbehörde für internationale Kindesentführung an die thailändischen Zentralbehörden, welche ihr versicherten, dass sie im Fall der Rückgabe des Kindes die Kompetenz bzw. Verpflichtung hätten, für dessen Sicherheit zu sorgen und ihm die Ausübung seiner Rechte insbesondere auf rechtlichen Beistand zu garantieren. Die ErstBf. habe im Fall ihrer Rückkehr nach Thailand auch keine strafrechtliche Verfolgung zu befürchten.
Mit Urteil vom 28.6.2019 ordnete das Kantonsgericht die Rückgabe der ZweitBf. an, da es der ErstBf. zumutbar sei, ihre Tochter nach Thailand zu begleiten und für sie Sorge zu tragen. Es vermerkte, dass diese in Thailand eine Villa besitze und dort leben könne. Ferner habe sie nicht dargetan, in der Schweiz derart stabile Beziehungen zu unterhalten, dass ihr eine Rückkehr nach Thailand unmöglich sei.
Eine von der ErstBf. dagegen eingelegte Beschwerde wurde vom Bundesgericht mit der Begründung abgewiesen, von einer unzumutbaren Situation für die Sicherheit des Kindes iSv. Art. 13 HKÜ könne nicht die Rede sein. Auch dessen Abs. 2 sei nicht verletzt, da die mittlerweile siebenjährige ZweitBf. noch keine ausreichende Reife erreicht zu haben scheine, um den Unterschied zwischen einem Aufenthalt in Thailand und einem Leben bei oder in der Nähe von ihrem Vater zu begreifen. Außerdem habe sie ein Verlassen der Schweiz kategorisch abgelehnt. Das Kantonsgericht sei insgesamt zu Recht davon ausgegangen, dass ihr die Rückreise nach Thailand in Begleitung ihrer Mutter zumutbar sei.
Über den Ausgang des Strafverfahrens ist nichts bekannt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupteten eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK.
1. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
(62) Die Bf. brachten vor, die schweizerischen Gerichte hätten die Existenz einer schwerwiegenden Gefahr für das Kind im Fall seiner Rückkehr [nach Thailand] nicht in effektiver Weise geprüft. Die von der thailändischen Regierung gegebenen Zusicherungen seien ungenügend gewesen und dem Kindeswohl sei [von den schweizerischen Gerichten] nicht ausreichend Rechnung getragen worden. Sie prangern auch die Dauer des Verfahrens [...] an.
1. Zulässigkeit
1. Zum locus standi der ErstBf., die Beschwerde auch im Namen ihrer Tochter einzubringen
(63) Die vorliegende Beschwerde wurde von der ErstBf., der leiblichen Mutter der ZweitBf., in eigenem Namen und im Namen ihres Kindes eingebracht. Zwar hat die Regierung den locus standi der ErstBf., sich im Namen ihres Kindes über eine Verletzung von Art. 8 EMRK zu beklagen, nicht in Frage gestellt, jedoch möchte der GH diese Frage ex officio prüfen.
(64) Die vorliegende Beschwerde betrifft ein vom Vater infolge der Entführung seiner Tochter durch die ErstBf. eingeleitetes Kindesrückgabeverfahren nach dem HKÜ. Vor der Kindesentführung waren die Eltern zu gleichen Teilen Erziehungsberechtigte und vereinbarten [nach der Trennung] eine Ausübung des Sorgerechts in abwechselnder Reihenfolge.
(65) Der GH möchte daran erinnern, dass er – was die Frage der Vertretungsbefugnis für Kinder im [...] Beschwerdeverfahren betrifft – stets versucht hat, einen restriktiven und allzu technischen Ansatz zu vermeiden.
(66) Unter der Maßgabe, dass eine Mutter sich der Rückgabe ihres Kindes widersetzt, indem sie auf nicht völlig unfundierte Weise vorbringt, es liege im Fall von dessen Rückkehr eine Gefahr für [...] sein Wohlergehen vor, findet der GH, dass die ErstBf. in ihrer Eigenschaft als leibliche Mutter und Miterziehungsberechtigte im Zeitpunkt vor der Entführung die Eigenschaft zukam, im Interesse des Kindeswohls zu agieren. Mangels Vorliegens gegenteiliger Hinweise kann sie daher auch Beschwerde im Namen ihrer Tochter erheben.
2. Zur Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges betreffend die Raschheit des durchgeführten Kindesrückgabeverfahrens
(67) Laut der Regierung hätten die Bf. nicht die im innerstaatlichen Recht zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe gegen [...] übermäßige Verfahrensdauer genutzt. In dieser Hinsicht sei auf Art. 94 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht vom 17.6.2005 zu verweisen, der einen effektiven und zugänglichen Rechtsbehelf gegen ungerechtfertigte Verzögerungen vorsehe. [...]
(69) Der GH merkt an, dass die ErstBf. einer Rückkehr ihres Kindes nach Thailand negativ gegenübersteht. Gleichzeitig musste sie [...] aber ein Interesse haben, dass über die Frage der Rückgabe innerhalb einer angemessenen Frist entschieden werde. Eine zügige Entscheidung wäre insbesondere im Interesse des Kindes gewesen, hätte dies doch seine sofortige Integration in seiner gewohnten Lebensumgebung gestattet. Da die Bf. nun aber keine überzeugenden Gründe vorgebracht haben, warum sie den von Art. 94 vorgesehenen Rechtsbehelf nicht genutzt haben, sieht der GH keinen Anlass, die Schlussfolgerung der Regierung anzuzweifeln, wonach der Beschwerdepunkt wegen exzessiver Verfahrensdauer nicht ordnungsgemäß vor den nationalen Instanzen geltend gemacht wurde.
(70) Dieser Beschwerdepunkt muss daher wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs [...] [als unzulässig] zurückgewiesen werden.
3. Ergebnis
(71) Da der restliche Teil der Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art. 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).
2. In der Sache
(101) Zwischen den Parteien ist unstrittig, dass die vom Bundesgericht angeordnete Rückgabe des Kindes einen Eingriff in das von Art. 8 EMRK geschützte Recht der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens darstellt.
(102) Was die Rechtfertigung des Eingriffs angeht, wird von den Bf. anerkannt, dass die Rückgabeanordnung vom HKÜ, welches in die schweizerische Rechtsordnung übernommen wurde, vorgesehen war. Laut dem GH verfolgte der Eingriff jedenfalls den Schutz der Rechte und Freiheiten des Kindes und seines Vaters.
(103) [...] Bei der Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft wird sich der GH [seiner ständigen Rechtsprechung zufolge] auf den Entscheidungsprozess konzentrieren und prüfen, ob die nationalen Instanzen eine angemessene und ausgewogene Abwägung der beiderseitigen Interessen mit der beständigen Sorge vorgenommen haben, nach der besten Lösung zum Wohle des Kindes zu suchen (siehe B./B). Der GH hält es für angemessen, die vorliegende Beschwerde aus dem Blickwinkel folgender Elemente zu untersuchen: (a) Beachtung des Kindeswohls insbesondere unter Ausschluss jeglicher »schwerwiegenden Gefahr«; (b) Berücksichtigung der Meinung des Kindes; (c) Integration des Kindes in der Schweiz.
1. Beachtung des Kindeswohls insbesondere unter Ausschluss jeglicher »schwerwiegenden Gefahr«
(104) [...] Die vom GH zu beantwortende Kernfrage läuft darauf hinaus, eine Antwort auf die Frage zu bekommen, ob der Entscheidungsprozess das Kindeswohl berücksichtigte und – insbesondere – ob jegliche »schwerwiegende Gefahr« für das Kind iSv. Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ ausgeschlossen wurde.
(105) In dieser Hinsicht ist der GH der Ansicht, dass die für die ZweitBf. mit einer Rückkehr nach Thailand einhergehenden Folgen Gegenstand einer ausführlichen Prüfung durch die schweizerischen Gerichte waren, wobei sowohl der Sicherheit des Kindes als auch der finanziellen Situation der Mutter Beachtung geschenkt wurde. Der GH möchte vor allem darauf hinweisen, dass während des gesamten innerstaatlichen Verfahrens von den zuständigen Behörden zu keiner Zeit eine alleinige Rückkehr des Kindes erwogen wurde und seine Mutter stets beteuert hatte, es im Fall seiner Rückgabe begleiten zu wollen. Das Kantonsgericht kam in seinem Urteil vom 28.6.2019 zu dem Schluss, dass die Bindungen der ErstBf. zur Schweiz nicht derart verfestigt wären, dass eine Rückkehr nach Thailand von ihr vernünftigerweise nicht erwartet werden konnte. Im Übrigen haben die schweizerischen Gerichte eine Entscheidung über den [zukünftigen] exakten Aufenthaltsort der Bf. in diesem Land nicht abschließend getroffen. Ebenso stellten sie ohne
Anzeichen von Willkür fest, dass die finanzielle Situation der ErstBf. es ihr erlaubte, sich um das Kind zu kümmern, und dass sie in Thailand keine strafrechtliche Verfolgung zu befürchten hätte.
(106) Im vorliegenden Fall hielt das Kantonsgericht drei Verhandlungen [...] ab, in deren Rahmen die Parteien, darunter auch die ZweitBf., gehört wurden. Angehört wurden auch verschiedene Experten, die über die Frage zu befinden hatten, ob dem Kind eine schwerwiegende Gefahr im Fall seiner Rückgabe drohen könnte. Außerdem bestellte das Kantonsgericht einen Verfahrensvertreter, um die Verteidigung der Interessen des Kindes und seine Vertretung unter anderem im Verfahren vor dem Bundesgericht sicherzustellen.
(107) Der GH möchte nicht verhehlen, dass die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. X. von der »Idee einer möglichen Rückkehr des Kindes nach Thailand angesichts dessen, was [sie] feststellen musste, beunruhigt war.« Er möchte allerdings darauf hinweisen, dass das Urteil des Kantonsgerichts vom 31.1.2019, welches nach der mündlichen Verhandlung, in der diese Äußerung getätigt wurde, erging und mit dem der Rückgabeantrag des Vaters aus dem Grund abgewiesen wurde, dass eine Rückführung des Kindes eine konkrete und schwerwiegende Gefahr für seine Entwicklung darstellen könnte, letztlich vom Bundesgericht mit Urteil vom 24.4.2019 aufgehoben wurde. Letzteres verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurück an die Erstinstanz. Das Kantonsgericht musste [laut den Instruktionen des Bundesgerichts] nunmehr über die Frage entscheiden, ob die Mutter in der Lage wäre, sich in Thailand um ihr Kind zu kümmern und ob man das von ihr verlangen könne. Nach einer neuerlichen gründlichen Prüfung aller Eventualitäten, die mit einer Rückkehr nach Thailand auftreten konnten, fällte das Kantonsgericht ein Urteil, in dem es zu dem Schluss kam, dass keine Ausnahme gemäß Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ existiere, welche eine Rückgabe des Kindes ausschlösse, und traf folglich die strittige Anordnung.
(108) Der GH möchte auch in Erinnerung rufen, dass die schweizerische Zentralbehörde für internationale Kindesentführung den thailändischen Zentralbehörden angesichts der [vom Bundesgericht erteilten] neuen Instruktionen vom Vater des Kindes aufgeworfene Fragen übermittelte. Am 28.5.2019 stellte die Abteilung für internationale Angelegenheiten an der Dienststelle des thailändischen Generalanwalts klar, dass sie im Fall der Rückgabe des Kindes die Kompetenz bzw. Verpflichtung hätte, für dessen Sicherheit zu sorgen und ihm die Ausübung seiner Rechte auf Zugang zu den Gerichten, zu einem Anwalt oder zu sonstiger rechtlicher Beratung zu garantieren. Sie hielt auch fest, dass die ErstBf. im Fall ihrer Rückkehr nach Thailand ihre elterlichen Rechte wahrnehmen könne und auch keine strafrechtliche Verfolgung zu befürchten habe [...].
(109) Insoweit die Bf. diese Bekräftigungen als zu allgemein bzw. zu vage einstufen, ist anzumerken, dass man von den schweizerischen Behörden angesichts des wenig fortgeschrittenen Stadiums, in dem sich das Rückgabeverfahren zu diesem Zeitpunkt befand, nicht erwarten durfte, dass sie bei den thailändischen Behörden darauf insistierten, ihnen detailliertere Informationen zur Frage zukommen zu lassen, mit welchen Eventualitäten im Fall der Rückgabe des Kindes zu rechnen wäre. Im Übrigen vertritt der GH die Ansicht, dass die von den thailändischen Behörden erhaltenen Informationen gewisse bedeutende Elemente umfassten – wie insbesondere die Garantie, die Mutter strafrechtlich nicht zu verfolgen und dass sich diese um die ZweitBf. kümmern könne. Der GH sieht keinen Grund, die Richtigkeit dieser Informationen oder den guten Glauben der thailändischen Behörden anzuzweifeln.
(110) Schließlich muss der GH auch anerkennen, dass die schweizerischen Behörden – zu nennen wäre insbesondere das Jugendamt des Kantons Waadt – vernünftige und angemessene Schritte unternommen haben, um die Sicherheit des Kindes in Thailand im Zuge der Vollstreckung der Rückgabeanordnung garantieren zu können, indem sie insbesondere eine Entscheidung über die Ausübung des Besuchsrechts des Vaters trafen.
(111) Der GH ist der Meinung, dass diese Elemente ausreichen, um zum Schluss zu gelangen, dass der Entscheidungsprozess das Kindeswohl berücksichtigt hatte und es insbesondere gestattete, jegliche »schwerwiegende Gefahr« für das Kind iSv. Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ auszuschließen.
2. Berücksichtigung der Meinung des Kindes
(112) Was insbesondere die Frage betrifft, ob [im Zuge des Entscheidungsprozesses] der Meinung des Kindes genügend Beachtung geschenkt wurde, möchte der GH daran erinnern, dass der von einem Kind mit ausreichender Einsichtsfähigkeit zum Ausdruck gebrachte Wunsch ein in jedem gerichtlichen [...] Verfahren, welches Kinder betrifft, zu berücksichtigendes Schlüsselelement ist (siehe M. und M./HR und M. K./GR). Er möchte jedoch hervorheben, dass im Rahmen der Anwendung des HKÜ – wenn die Ansicht des Kindes zu berücksichtigen ist – ein Widerstand von Seiten des Kindes nicht notwendigerweise einer Rückgabe im Weg steht (siehe Raw u.a./F sowie Rouiller/CH).
(113) Im vorliegenden Fall kam das Bundesgericht in seinem Urteil vom 4.9.2019 zu dem Schluss, dass gegen Art. 13 Abs. 2 HKÜ nicht verstoßen worden war, da das Kind im Alter von damals sieben Jahren keinen ausreichenden Grad an Reife erreicht zu haben schien, welcher es ihm ermöglichte, zwischen einem Leben in Thailand und einem Aufenthalt bei oder in der Nähe von seinem Vater zu unterscheiden. Die ZweitBf. habe jedenfalls jegliche Form der Rückkehr kategorisch abgelehnt.
(114) Der GH schenkt auch der Tatsache Beachtung, dass das Kind in der Verhandlung vor dem Kantonsgericht ordnungsgemäß angehört und von mehreren Fachleuten beobachtet wurde. Es war übrigens nicht in der Lage zu begreifen, dass es im strittigen Verfahren nicht um das Sorge- oder Erziehungsrecht, sondern einzig und allein um die Frage ging, die Situation zum Zeitpunkt vor der unrechtmäßigen Entführung wiederherzustellen [...].
(115) Der GH [...] ist daher der Ansicht, dass die Schlussfolgerungen des Bundesgerichts und das Vorbringen der belangten Regierung nicht willkürlich oder unangebracht erscheinen.
3. Integration des Kindes in der Schweiz
(116) Vor dem GH brachten die Bf. vor, die in der Schweiz seit April 2018 ohne Unterbrechung aufhältige ZweitBf. wäre in diesem Land nunmehr integriert, spreche französisch und besuche die Schule. Eine Rückkehr nach Thailand wäre folglich nicht in ihrem Interesse. Der GH möchte dazu anmerken, dass auch die Ausführungen des für das Kind bestellten Verfahrensvertreters vor dem Bundesgericht vom 16.8.2019 in diese Richtung gehen.
(117) Der GH muss feststellen, dass das Bundesgericht diese Anmerkungen nicht explizit beantwortet hat. Er ist dennoch der Ansicht, dass dies aus den folgenden Gründen nicht genügt, um auf ein prozedurales Versäumnis des belangten Staates schließen zu können:
(118) Zuerst möchte er das in Art. 12 Abs. 2 HKÜ verankerte Prinzip in Erinnerung rufen, wonach die zuständige Behörde die Rückgabe des Kindes auch nach Ablauf der einjährigen Frist, gerechnet ab dem Zeitpunkt des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens des Kindes, anordnen kann, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat. Im vorliegenden Fall hat die ErstBf. nun aber Thailand Ende April 2018 verlassen, um sich mit ihrem Kind in der Schweiz niederzulassen. Der Vater des Kindes rief das Kantonsgericht am 23.8.2018 an, also vier Monate später. Art. 12 Abs. 2 HKÜ vermag daher nicht als brauchbare Basis für das Vorbringen der Bf. zu dienen, die ZweitBf. dürfe aufgrund ihrer Integration in der Schweiz nicht nach Thailand zurückgeschickt werden.
(119) Der GH möchte auch daran erinnern, dass die GK im Fall Neulinger und Shuruk/CH zu dem Schluss gekommen ist, dass ein neuerliches Herausreißen des Kindes aus seiner vertrauten Umgebung ernste negative Folgen für dieses haben könnte – und zwar vor allem dann, wenn es allein zurückkehren müsse [...]. Aus diesem Grund wurde von der GK eine Rückkehr nach Israel nicht als förderlich [für das Wohlergehen und die Entwicklung des Kindes] angesehen (vgl. Rn. 147). Diese Angelegenheit unterscheidet sich nun aber deutlich von der vorliegenden, besaß doch der GH Kenntnis von mehr Details betreffend die Integration des Kindes von Frau Neulinger im Vergleich zu jenen, die von den Bf. im vorliegenden Fall vorgebracht wurden. In der Tat haben sich diese vor dem Bundesgericht mit der sehr allgemein gehaltenen Behauptung begnügt, wonach die ZweitBf. in der Schweiz gut integriert und dort aufgeblüht sei.
(120) Bleibt festzuhalten, dass dem Bundesgericht nicht vorgeworfen werden kann, auf das auf der angeblichen Integration des Kindes in der Schweiz gegründete Vorbringen [der Bf.] nicht explizit geantwortet zu haben.
4. Allgemeine Schlussfolgerungen
(121) Mit Blick auf das Vorgesagte kann nicht davon ausgegangen werden, dass die innerstaatlichen Gerichte die Rückgabe des Kindes auf automatische oder mechanische Art und Weise angeordnet hätten. Ganz im Gegenteil haben sich diese nach Durchführung eines fairen, mündlichen und kontradiktorischen Verfahrens auf die relevanten Fakten der vorliegenden Angelegenheit gestützt und allen von den Parteien vorgebrachten Argumenten gebührende Beachtung geschenkt. Die genannten Gerichte erließen detaillierte Entscheidungen, mit denen ihrer Ansicht nach den übergeordneten Interessen des Kindes Rechnung getragen und mit denen jegliche ernsthafte Gefahr für das Kind ausgeschlossen wurde. Die zuständigen Gerichte unternahmen auch angemessene Schritte, um die Sicherheit des Kindes im Fall seiner [angeordneten] Rückkehr nach Thailand garantieren zu können.
(122) Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass der Entscheidungsprozess den Anforderungen von Art. 8 EMRK genügte und der Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens in einer demokratischen Gesellschaft daher notwendig war. Somit erfolgte keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Neulinger und Shuruk/CH v. 6.7.2010 (GK) = NLMR 2010, 211
B./B v. 10.7.2012
Raw u.a./F v. 7.3.2013 = NLMR 2013, 90
X./LV v. 26.11.2013 (GK) = NLMR 2013, 429
Rouiller/CH v. 22.7.2014 = NLMR 2014, 306
M. und M./HR v. 3.9.2015
M. K./GR v. 1.2.2018
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.11.2021, Bsw. 12937/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 536) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.